Von Daniel Magar

​Kathrin stand bereits unter dem kleinen Dach des schwach erleuchteten Eingangsbereiches, als ich um kurz vor acht an der Adresse ankam. Ich musterte sie, während ich auf sie zulief. Sie war wie immer braun gebrannt und schien nicht so recht in das graue Nieselwetter zu passen, das uns in Deutschland schon seit einigen Tagen heimsuchte.

„Bier?“, fragte Kathrin, nachdem wir uns zur Begrüßung umarmt hatten, und deutete auf die beiden Flaschen, die ich in meiner Regenschirm-freien Hand trug.

„Entweder Freuden- oder Frustbier“, antwortete ich. „Abhängig davon, wie deine Wohnungsbesichtigung gelaufen ist.“

Kathrin lachte. „Na dann wohl Freudenbier! In zwei Wochen kann ich einziehen.“

„Gratulation!“

Ich öffnete die beiden Flaschen mit meinem Feuerzeug. Wir stießen an, und ich nahm einen großen Schluck. Die für ein Treffen mit Kathrin völlig untypische Anspannung, die mich schon den ganzen Tag gequält hatte, legte sich etwas.

„Hast du schon eine Idee, wie du dein Zeug von Spanien aus hierher transportierst?“, fragte ich.

„Vermutlich wieder mit einem Container. Es ist zwar nicht allzu viel – die meisten Möbel behält ja David – aber doch mehr als in ein paar Koffer passt.“

Ich nickte. „David bleibt in eurer alten Wohnung?“

„Ja, der war ja eh schon immer mehr in die Stadt verliebt als in mich.“

„Ist halt seine Heimatstadt.“

„Aber irgendwann muss man doch auch mal raus aus der Heimat. Immer nur die gleichen Nasen sehen, wird doch langweilig auf Dauer.“

„Madrid ist immerhin eine Weltmetropole. Ich bezweifle, dass man da oft in die gleichen Leute rennt.“

„Du hörst dich schon an wie er!“

„Schon gut, ich bin ruhig!“, erwiderte ich grinsend. „Hauptsache, du bist jetzt hier.“

„Ja, das war echt ein Glücksgriff mit dem neuen Job.“

Für einen Moment lächelten wir uns schweigend an, dann fragte Kathrin: „Wollen wir mal los? Ich hab zuletzt heute Morgen im Flugzeug was gegessen, und es könnte sein, dass ich gleich verhungere.“

Ich griff mir ihre Tasche und fragte: „Sollen wir bei mir kochen oder lieber unterwegs einkehren?“

„Ich weiß nicht, ob ich dich an den Herd lassen soll… Ich erinnere mich noch mit Grauen an die Kartoffeln damals.“

„Das ist zwei Jahre her!“

„Sie verfolgen mich bis heute in meinen Träumen.“

Ich zog den Regenschirm über ihr weg, und sie schrie und drückte sich dichter an mich, um dem Regen zu entkommen. Automatisch legte ich einen Arm um sie. Es war eine unbewusste, unschuldige Geste, wie sie in der ein oder anderen Form schon dutzende Male zwischen uns vorgekommen war, und trotzdem fühlte es sich heute komisch an. Auch Kathrin schien das zu merken, ich spürte, wie ihr Körper sich unter meinem Arm für einen Moment versteifte.

„Also bitte, Tobi“, stieß sie mit gespielter Entrüstung hervor, „was sollen denn die Leute denken?“

 

Als wir an der Bahnstation ankamen, hatte sich der Regen gelegt und das erste Bier Kathrins Hunger so weit gestillt, dass wir beschlossen, uns am nächsten Kiosk getränketechnisch neu einzudecken und die restlichen zwei Kilometer bis ins Stadtinnere zu Fuß zurückzulegen.

„Wie lief eigentlich dein Date letztens?“, fragte Kathrin irgendwann. „Durch die Umzugsplanung bin ich gar nicht mehr auf dem neusten Stand.“

„Frag nicht… Ich war nur kurz raus, um zu telefonieren, und als ich zurückkam, war sie mit irgendeinem Kerl am Labern. Sie hat dann vorgeschlagen, dass wir doch zu dritt was trinken könnten, anstatt ins Kino zu gehen.“

Kathrin lachte. „Und was hast du gesagt?“

„Ich hab dann noch ein Bier mitgetrunken und anschließend gesagt, dass ich leider weg müsste, wegen Arbeit und so.“

„Du weißt, dass das die vielleicht einmalige Chance auf den lange erhofften Dreier gewesen wäre?“

„Ha-ha!“

Sie kniff die Augen etwas zusammen und lächelte mich an. „Das heißt, wir sind heute Abend tatsächlich beide Single? Zum ersten Mal, seit wir uns kennen?“

„Jetzt, wo du es sagst…“, antwortete ich langsam. „Darüber habe ich ja noch gar nicht nachgedacht.“

„Du bist so ein schlechter Lügner, Tobi.“

Ich grinste sie an.

„Also, was hast du dir für unser erstes richtiges Date einfallen lassen?“, fragte sie.

„Da du meine Kochkünste ja verschmähst, dachte ich mir, dass ich dich ganz romantisch auf ein leckeres Falafel-Sandwich einlade und dann, ähm… schauen wir mal.“

Sie lachte. „Welche Frau könnte da nein sagen?“

 

Wir kehrten beim Falafel-Macher meines Vertrauens ein, und sowohl während des Essens als auch beim anschließenden Gang zu meiner Wohnung redeten wir für unsere Verhältnisse ungewöhnlich wenig. Ebenso wie ich, schien auch Kathrin bereits über den Moment nachzudenken, wenn meine Wohnungstür hinter uns ins Schloss fallen würde. Ich musste mich zurückhalten, um nicht zu erleichtert zu klingen, als Kathrin, kurz bevor mir meine Straße erreichten, vorschlug, noch eine Runde zu gehen.

Kaum, dass wir einige Meter zwischen die Wohnung und uns gebracht hatten, lebte unser Gespräch wieder auf und ich erzählte Kathrin davon, dass mein Chef mir wenige Tage zuvor eine baldige Beförderung in Aussicht gestellt hatte.

„Ich würde dann in den Product Launch gehen“, sagte ich und versuchte Euphorie in meine Stimme zu legen. „Das heißt mindestens ein halbes Jahr in Nürnberg arbeiten und dort ein kleines Team führen.“

„In den Product Launch, also“, wiederholte Kathrin.

„Freust du dich nicht für mich?“

„Freust du dich denn für dich?“

„Was meinst du?“

„Na ja, ich weiß ja, dass dein Job dich generell nicht gerade begeistert…“

Ich überlegte. „Meine Begeisterung ist am unter den Umständen erreichbaren Maximum.“

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich versteh einfach nicht, warum du dir nicht was anderes suchst.“

„Es ist ja nicht nur der Job an sich, der mich langweilt… Es ist das ganze Berufsfeld. Ich hätte einfach was anderes studieren sollen.“

„Dann mach’s doch jetzt noch.“

„Wie?“

„Na jetzt eben. Du kündigst deinen Job und schreibst dich wieder an der Uni ein. Warum nicht?“

„Ich bin siebenundzwanzig!“

„Und dann kann man nicht mehr studieren?“

„Schon, aber…“ Ich zögerte. „Dann wäre ich ja beim Abschluss mindestens dreißig und müsste wieder ganz von vorne anfangen.“

Kathrin zuckte nur mit den Schultern. „Hat bei mir doch auch geklappt. Ich war zwar ein paar Jahre jünger damals, aber als ich meinen ersten Job gekündigt hatte, um mich umzuorientieren, warst du dir auch sicher, dass das keine gute Idee ist.“

Ich lächelte sie freudlos an. „Du bist ja auch anders als ich… Ich brauche die Sicherheit.“

„Ich weiß“, seufzte sie.

Für eine Weile hingen wir beide unseren Gedanken nach und gingen schweigend nebeneinander her. Dann fragte ich: „Was sind denn deine langfristigen Pläne?“

„Eigentlich dachte ich ja, dass ich noch ein paar Jahre in Spanien bleiben würde. Jetzt hat sich das eben hier in Deutschland ergeben, zumindest für die nächsten beiden Jahre. Keine Ahnung, was danach ist. Ich würde ja gerne mal in Asien leben. Thailand oder so.“

Thailand… Dort hatte meine Firma keinen Sitz, und ich hatte keine Ahnung wie die Berufs-aussichten für ausländische Elektrotechniker dort unten waren. Und dann auch noch die Sprache mit den fremden Schriftzeichen… Und das Essen?

Ich bemerkte, dass Kathrin mich fest im Blick hatte. „Sag mir bitte, dass du nicht gerade dar-über nachdenkst, ob sie da unten Hunde essen“, lachte sie.

 

Schließlich gingen uns die Ausreden aus, noch weitere Runden zu drehen, und wir machten uns zum zweiten Mal auf den Weg zu meiner Wohnung.

Wie in Trance schloss ich die Tür auf und ging hinter Kathrin die Treppe hoch. In meinem Wohnzimmer drehte sich Kathrin zu mir um, ich legte die Hände auf ihre Hüften, und dann küssten wir uns. Es war ein kurzer, vorsichtiger Kuss, und danach schauten wir uns lächelnd an, unfähig etwas zu sagen. Alles fühlte sich so furchtbar merkwürdig an. Schließlich brach Kathrin das Schweigen.

„Wie lange kennen wir uns jetzt schon, Tobi?“

Ich dachte zurück an die Nacht der Party zu Beginn unserer Oberstufenzeit. Meine damalige Freundin Eva hatte mir Kathrin vorgestellt, und ich hatte kaum die Chance gehabt, Kathrin meinen Namen zu nennen, als sie schon verkündete, dass ich nun sofort Shots mit ihr trinken müsse, von den Anderen wäre ja leider keiner dafür zu gebrauchen. Je zwei Jägermeister, einen Whisky und unzählige Bier später standen wir Arm in Arm auf der Tanzfläche und grölten einen Rise Against-Song mit, der aus den Boxen über unseren Köpfen schepperte.

„Fast zehn Jahre“, antwortete ich.

„Ist es nicht komisch, dass wir im Grunde wie ein altes Ehepaar sind? Wir kennen uns in- und auswendig, obwohl wir noch nie zusammen waren. Wir waren schon hundert Mal gemeinsam weg und dabei oft genug betrunken, und trotzdem ist bis heute nie was passiert. Seit fast zehn Jahren tänzeln wir umeinander rum, machen Scherze darüber, dass sich ja nur mal die richtige Gelegenheit bieten müsse, und jetzt sind wir beide am gleichen Ort, beide Single, und trotzdem reden wir den ganzen Abend nur über Arbeit und Umzug und was weiß ich noch alles.“

„Und dann küssen wir uns endlich, und es ist… komisch.“

„Ja!“ Sie seufzte frustriert und ließ sich auf die Couch fallen. „Ich dachte echt, dass es jetzt endlich so weit ist…“

Ich holte zwei weitere Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich neben sie. Sie legte den Kopf an meine Schulter und fragte: „Was glaubst du, woran es liegt?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht habe ich Angst, dich als Freundin zu verlieren. Ich kann ja schlecht mit dir über dich selbst lästern, wenn es mal nicht so gut läuft zwischen uns.“

„Und ich glaube, mir würde das Neue und Aufregende fehlen, das eine neue Beziehung normalerweise mit sich bringt.“

Wir diskutierten noch eine Weile weiter. Dann machten wir das Fernsehen an und schauten uns das Ende irgendeiner schwachsinnigen Samstagabendshow an.

Irgendwann merkte ich, dass Kathrin eingeschlafen war. Ich nahm ihr vorsichtig die leere Bierflasche aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. Ich deckte sie zu, bevor ich das Licht ausknipste und das Wohnzimmer verließ.