Von Eva Fischer
„Es ist großartig, eine Naturgewalt!
Haushoch türmt es sich vor dir auf, so dass du Angst hast, darin zu ertrinken.
Aber wenn du es erst gehört, gerochen, gesehen, gespürt hast, dann lässt dich die Faszination ein Leben lang nicht mehr los, dann zieht es dich immer wieder dort hin, dann willst du untertauchen, egal, ob es schmeichelt oder schmerzt.
Das erzählte mir meine Mutter und so war ich nervös bei unserer ersten Begegnung.
Aber es ist nie so, wie es andere dir erzählen“, fuhr Marlene fort.
„Jeder macht seine eigenen, individuellen Erfahrungen.
Als ich mich ihm ehrfurchtsvoll, ja zitternd näherte, da zerzauste der Wind mir die Haare. Sonnenstrahlen durchdrangen meinen Körper, so dass ich die Augen schloss, um diesen einzigartigen Moment in die Ewigkeit zu retten. Es lag etwas Elektrisierendes, ja Euphorisierendes in der Luft. Ich öffnete die Augen. Unzählige Diamanten tanzten auf einem smaragdgrünen Teppich unter einem endlos gewölbten Firmament. Ein Gurgeln drang an mein Ohr. ‚Komm, komm!’, raunte es.
Da warf ich meine Kleider ab und rannte los. Die plötzliche Kälte ignorierend drang ich immer tiefer ein, ließ mich tragen, ließ mich schaukeln, ließ mich umspülen. Ich spürte die Gefahr, die mir jede Kontrolle entreißen konnte. Ich befand mich eingetaucht in eine neue Welt voller mir unbekannter Lebewesen.“
„Ich frage dich nach deiner ersten Begegnung und du erzählst mir vom Meer“, maulte Ulrich.
„Aphrodite, die Göttin der Liebe wurde aus dem Schaum des Meeres geboren, wie du weißt“, antwortete Marlene lächelnd.
*
Sophie schaute in den Spiegel. Doch was sie sah, gefiel ihr nicht. Die Augenfarbe konnte sich nicht entscheiden. Grau oder blau?
Auch die Haare überzeugten sie nicht mit ihrem langweiligen Aschblond.
Auf der Nase machten sich Sommersprossen breit. Sie wollte nicht wie Pippi Langstrumpf aussehen.
Seufzend dachte sie an ihre Mutter. Die hatte dunkle Augen hinter langen dunklen Wimpern, lange blonde Haare, eine makellos geschminkte Haut. Wenn sie mit ihr wegging, schauten die Männer hinter ihr her. Bisher hatte sie das eher mit Stolz erfüllt und es war ihr völlig egal gewesen, dass sie ignoriert wurde, aber heute wollte sie auch gut aussehen, nur für einen, nur für Ben.
Ben war cool, der Traum aller Mädchen ihrer Klasse. Er hatte super gegelte, dunkle, kurze Haare und megalange Beine. Bens Lieblingsfach war Sport. Das wusste ein jeder. Er rannte keinem Mädchen hinterher, machte sie nicht mit dummen Sprüchen an. Aber gerade das verlieh ihm eine geheimnisvolle Aura.
Er hatte sie, Sophie, nach der Schule angesprochen, ob sie Lust auf eine Cola hätte. Das, was sie über New York im Englischunterricht erzählt hatte, interessiere ihn, vor allem der New Yorker Marathonlauf. Um 18 Uhr ende sein Fußballtraining. Sie könne ja, wenn sie Lust habe, ihn am Sportplatz abholen.
Jetzt stand sie vor ihrem Kleiderschrank. Was sollte sie anziehen. Ein enges Top oder eine weite Bluse? Oder ein ganz normales T-Shirt?
Ben sollte nicht merken, dass sie in ihn verknallt war. Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Fratze.
Am besten bleibe ich zu Hause und erspare mir die Blamage, dachte sie.
Nein! Es ist eine einmalige Chance!
Trotzig streckte sie ihrem Gegenüber im Spiegel die Zunge heraus.
*
„Schick siehst du aus“, fand Marlene, als Sophie in den Buchladen kam, um Max abzuholen, der sie gleich schwanzwedelnd begrüßte.
„Hast du etwas Besonderes vor?“
„Ich habe ein Date mit Ben“, verriet ihr Sophie.
„Und dazu brauchst du einen Anstandswauwau“, grinste Marlene.
„Ich dachte nur, Max könnte etwas Auslauf gebrauchen und bis zum Sportplatz ist es eine viertel Stunde.“
Wie zur Bestätigung ließ Max ein freudiges Bellen hören.
„Ist schon ok, Sophie. Ich komme hier eh nicht weg. Ich wünsche dir viel Erfolg! Was macht ihr denn?“
„Ach, nur ein bisschen quatschen.“
„Das kriegst du hin. Da bin ich mir sicher.“
Dann wandte sich Marlene einer neuen Kundin zu, während Sophie den Buchladen mit Max an der Leine verließ.
*
„Was machst du für ein Gesicht, Sophie?“
Marlene schaute auf die Uhr und stellte fest, dass Sophie nur eine Stunde unterwegs gewesen war. Selbst Max verzog sich sofort mit eingekniffenem Schwanz in sein Körbchen
„Ich hab’s verbockt.“
Sophies Lippen bebten, als wollte sie gleich anfangen zu weinen.
Marlene nahm sie in die Arme.
„Was ist passiert? Erzähl! Ist Ben nicht gekommen?“
„Doch“, schluchzte Sophie. „Er hat die ganze Zeit über Fußball geredet, über die Weltmeisterschaft und so, da kenne ich mich aber nicht aus. Also habe ich nichts dazu gesagt.“
Marlene reichte ihr ein Tempo.
„Und dann kam auch noch Chris und die beiden haben sich weiter über Fußball unterhalten. Dann bin ich gegangen.“
*
„Gut, dass du gekommen bist, Chris.“
„Warum?“
„Das war ja megapeinlich eben mit Sophie. Hast du gemerkt? Kein Wort hat sie mit mir geredet, ist einfach abgehauen.“
„Wie soll sie was sagen, wenn du sie pausenlos zutextest!“
„Echt? Meinst du ich habe noch Chancen bei ihr?“
„Woher soll ich das wissen.“
Chris zuckte mit den Schultern.
*
„Bist du denn nun ein Bergtyp oder ein Meerestyp?“, fragte Marlene Ulrich.
Dieser überlegte und dachte, dass er in keine dieser Schubladen passte.
„Ich würde so gern für drei Tage ans Meer fahren“, fuhr sie fort mit leuchtenden Augen.
„Was spricht dagegen?“
Aufmunternd lächelte er ihr zu. Er konnte sich schon vorstellen, mit ihr ans Meer zu fahren. Doppelzimmer oder zwei Einzelzimmer, das würde sich schon noch finden.
„Wärst du bereit, für die Zeit meinen Buchladen übernehmen? Keiner kennt sich so gut aus wie du.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange.
„Du bist ein Schatz!“
„Habe ich ja gesagt?“, fragte er verwirrt.
„Ich denke schon.“
Sie lächelte schelmisch.
„Du weißt doch. Ich muss immer wieder ans Meer zurück!“
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