Von Hanne Laudan

Sie war gestolpert. Damit hatte alles angefangen.

Die Zeiger der Uhr bewegen sich geräuschlos über das Zifferblatt. Sie sitzt neben ihm, zeichnet mit den Augen sein Gesicht nach.

Sie bewacht seinen Schlaf. Er wälzt sich unruhig unter der dünnen Decke. Ob er träumt? Ob er sie spürt? Sie weiß es nicht.

 

Sie standen auf dem Hügel nahe beim Dorf. Marie atmete hastig, war erhitzt vom schnellen Aufstieg und vom Tanz. Von unten schwappte von Zeit zu Zeit Musik herauf, man hörte Stimmen und Lachen. Der Ball war noch in vollem Gange.

Sie hatte noch immer die Pfiffe und Rufe im Ohr. Und den anerkennenden Daumen ihrer Kollegin vor Augen. Zu blöd, dass sie ausgerechnet dem Typen in die Arme gestolpert war, den ihr die Kollegen wie warme Semmeln angepriesen hatten.

 

Nun hatte er sie an diesen Platz geführt. Beide standen zu Füßen einer hölzernen Plattform, doch selbst von hier bot sich eine grandiose Aussicht auf das Dorf und die Berge ringsum. Der Himmel glänzte dunkel, die letzten Streifen der untergehenden Sonne tauchten die wenigen Wolken in ein tiefrotes Licht. Sie waren allein.

 

Marie sah ihn an. Ein weiches Gesicht, sinnliche Lippen, eher schüchtern. Dunkle lockige Haare und eine große Brille. Kein Märchenprinz. Das nicht. Aber ihren kleinen Rempler am Rande der Tanzfläche hat er geschickt aufgefangen. Sie genommen und mit ihr getanzt, als hätten sie das so vorgehabt. Er führte sie sicher übers Parkett und später, als seine Kumpels anfingen, aufmunternd zu pfeifen, aus dem Saal hinaus und den Hügel hinauf.

 

„Mach dir nichts draus“, unterbrach er die Stille. „Die meinen das nicht böse. Die wollen mich an die Frau bringen.“ Er lachte freundlich.

„Wem sagst du das.“ Sie dachte an ihre Kollegen. „Rudolph, nicht wahr?“

„Das weißt du also schon – Marie?“

„Ja, Marie.“

Dann schauten sie sich an. Marie spürte ein glucksendes Lachen aus dem Bauch aufsteigen, es ließ sich nicht aufhalten. In seinen Augen sah sie den Schalk. Sie lachten, konnten gar nicht wieder aufhören. Marie spürte, wie die letzte Anspannung von ihr abfiel. Sie fühlte sich leicht und frei.

 

„Lass uns hoch gehen“, sagte er, nachdem sie sich beruhigt hatten und deutete auf die Treppe ganz in der Nähe. Sie nickte und er reichte ihr die Hand. Zog sie nach oben und bis zum Geländer. Marie ließ ihre Rechte in seiner Linken, während sie über dem Dorf standen. Ihre Finger entwickelten ein Eigenleben. Unter dem Sommerdreieck am Himmel spielten die kleinen Finger Fangen und die Daumen liebkosten sich. Drücken, Streicheln, Umeinander-Schlingen.

Sie schauten in die Ferne und waren sich nah. Die Geräusche des Abends umgaben sie wie ein fein gesponnener Kokon. Marie war allein mit einem Mann, der ihr fremd und doch vertraut war.

 

Sie erzählten sich von ihrem Leben und Marie war erstaunt, wie viel sie ihn von sich wissen ließ. Später, als sie darüber nachdachte. Im Moment war es schön.

Sie standen und schauten und redeten. Seine Hand auf ihrer Schulter. Seine Finger strichen sanft über ihrem Hals, fanden die empfindliche Stelle an der Halsbeuge, zupften leicht an ihrem Ohr. Sie schmiegte sich an ihn. Seine Berührungen schlugen Saiten an, die ihren Körper zum Klingen brachten. Was war das?

 

Dann sprachen sie nicht mehr. Die Kühle der Nacht kroch den Hügel herauf und Rudolph legte Marie seine Jacke über die Schultern. Legte seinen Arm um sie, hielt sie fest. Vertrieb das Frösteln.

Seine Hände tasteten sich über ihre Haut. Zuerst fragend, später fordernd. Wie von selbst begegneten sich ihre Lippen. Wie von selbst glitten bald auch Maries Hände über seine Haut. Seine Lippen an ihrem Hals. Fingerspitzen, die ihre Haare zurückstrichen. Küsse, Liebkosungen, zwei Körper fanden sich im gleichen Rhythmus.  

Marie spürte seine Wärme. Genoss seine Nähe. Zerfloss zu ihm, mit ihm. Sie wusste ja nicht, dass sie solch einen Hunger hatte. Solch eine Sehnsucht nach Berührungen.

Marie versank in einem Taumel aus Lust und Gier. Als sie daraus erwachte, wusste sie, dass sie davon nie genug bekommen würde.

 

Das ist noch immer so.

 

Marie legt ihre Hand in die seine. Glaubt sie es nur oder spürt sie tatsächlich, wie er den leisen Druck ihrer Finger erwidert?

 

Wie oft sind sie in den vielen Jahren gestolpert, gefallen und wieder aufgestanden. Einer den anderen stützend. Mehr als fünfzig Jahre lang. Wie im Zeitraffer ziehen Bilder an ihr vorbei.

 

Sie beugt sich über ihn. Streichelt sein Gesicht. Dann küsst sie ihn. Sie glaubt fest daran, dass er ihre Berührung wahrnimmt, auch wenn sein Hirn sich von dem schweren Sturz nicht mehr erholen wird.

 

Sie tastet dem Geschmack seines Kusses nach. Nimmt sein Gesicht in sich auf. Jetzt liegt er ruhig in dem viel zu großen Bett, unter Schläuchen und überwacht von Apparaturen. Fast entspannt liegt er da.

 

Sie haben einander damals versprochen, den anderen niemals zu verraten, sich immer beizustehen.

So wird sie es auch jetzt halten.

Als sein Atem schwächer wird, fasst sie fest seine Hand. Sie wird den Arzt nicht rufen. Das ist das Mindeste, was sie für ihn tun kann.

 

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