Von Sabine Esser

„Du hast was?“, schreit Tommi seinen kleinen Bruder an. „Wie kannst du so bescheuert sein, deine Emailadresse zu outen? Und noch dazu dieser dämlichen Rosamund! Wenn eine schon so heißt … Das sagt doch alles!“

Er holt tief Luft und relativiert: „Na ja, Braveheart ist auch nicht gerade kreativ.“

 

Gestern noch war Rico der große Sieger, jetzt muss er sich verteidigen:

„Ich kann echt nichts dafür. Wirklich! Ich hatte endlich die Schlacht gegen Blackbeard gewonnen, sogar den alten Scarface mit seinen Söhnen auf meiner Seite. Hat mich drei Burgen gekostet. Aber die hol‘ ich mir wieder, das schwöre ich dir! Zumindest sind beide Reiche jetzt sicher. Na ja, und dann …“

 

Tommi tippt sich mehr als deutlich wieder und wieder an die Stirn.

„Logo, hat sie dir die Adresse rausgesülzt. Und jetzt textet sie dich zu. Ja? Wann denkst du erst mal nach, bevor du handelst! Mann, bist du blöd!“ Er starrt seinen Bruder an, der unruhig auf der Schlafcouch herumrutscht. „Ich glaub’s ja nicht! Du hast ein Date mit der Gans?“

 

Rico nickt beschämt. Was soll er auch sagen? Tommi hat ja schon alles erraten.

„Ich hol‘ uns mal ’ne Cola.“ Draußen atmet er auf, endlich ist er nicht mehr allein mit dem Problem. Was täte er ohne ihn? Aber trotzdem: Rosamund ist jeden Einsatz wert.

 

Kaum betritt er – schon wieder guter Dinge – sein Zimmer, blafft Tommi ihn an: „Wie stellst du dir das eigentlich vor? Glaubst du ernsthaft, dass die auf dich steht? Guck‘ dich doch mal an! ‚Ne Schönheit bist du nicht gerade.“

 

Damit hatte Rico gerechnet. Dumm ist er schließlich nicht.

„Wozu gibt es Bildbearbeitung? So ’ner tollen Frau kann ich doch kein real-image zumuten! Wenn schon Avatar, dann richtig.“

 

„Zeig‘ mal“, fordert Tommi ihn auf. Klar, die Brille ist weggepixelt, die Augen vergrößert, das Braungrün der Iris zum Braun hin verstärkt, der Weichzeichner hat jeden Pickel vernichtet, die Haare sind wundersam erblondet und liegen in importierten Locken auf ebenso importierten starken Schultern. Jung-Siegfried gepixelt. Das muss Stunden gedauert haben!

 

Tommi atmet tief durch und hindert Rico daran, weiter auf der Tastatur herumzuklappern.

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass diese Rosamund in dich verliebt ist? In dich! Nicht in Braveheart! Da nutzt auch Gimp nichts!“

 

„Also wirklich! Du unterschätzt sie. Sie schrieb mir, dass ihr meine Erfolge imponiert hätten, mein strategisches Denken, meine Durchsetzungsfähigkeit. Sie sieht etwas in mir, das andere nicht sehen.“

„Ja klar, einen totalen Volltrottel! Was willst du eigentlich von mir? Soll ich dir helfen, aus der Nummer rauszukommen? Oder etwa, sie zu treffen?“

 

„Das weiß ich ja eben nicht! Aber eigentlich … also … sie ist so wunderschön! Guck’mal!“

 

Tommi starrt auf den Bildschirm. Rotblonde, lange Locken, große, blaue Augen, verträumter Blick, zarter Teint, kindhaft schüchternes Lächeln. Rosamund, oder wie immer sie auch heißt, ist wirklich eine Schönheit. Kein Wunder, dass sich Rico verguckt hat. Trotzdem: Irgendwoher kennt er sie. Und ganz sicher nicht aus der Schule. Eines aber ist klar: Er muss seinen Bruder vor dieser Frau retten. Unbedingt. Einen überzeugenden Grund kann er nicht anführen. Nur ein ungutes Gefühl.

 

„Ok, ich komme mit. Mal sehen, wie deine Rosamund aus der Nähe aussieht. Vermutlich genauso gepixelt wie du.“

 

Auf dem Weg zur Eisdiele verstummt Rico allmählich. Gleich wird er sie sehen, Rosamund. Seine Rosamund. Wie soll er ihr bloß erklären, dass er nicht so aussieht wie Braveheart? Auch Tommi ist ausgesprochen schweigsam. Keine guten Ratschläge, keine Ermahnungen. Die beiden gehen immer langsamer. Weit ist es nicht mehr.

 

Vorsichtig pirschen sie sich bis zu den Fenstern. Da sitzt tatsächlich ein junges Mädchen mit langen, rotblonden Locken ganz allein an einem Tisch und rührt anmutig mit einem Strohhalm in einem Glas.

 

„Da ist sie!“, flüstert Rico ehrfürchtig.

„Ja. Aber nur von hinten. Willst du, dass sie dich sieht? So, wie du wirklich bist?“

„Ich weiß nicht. Eigentlich habe ich Angst vor ihr. Sie ist so wunderschön. Und sie leuchtet irgendwie.“

Tommi hat Mühe, cool zu bleiben. Nur weg, ganz schnell weg. Er weiß jetzt, wer das Mädchen ist. Interrail, Uffizien, Botticelli. Er legt seinen Arm um den kleinen Bruder, will ihn wegziehen.

 

„Alles klar. Lass uns abhauen. Schnell! Du darfst sie nicht ansehen! Rosamund hat schon einen König um den Verstand und sein Reich gebracht. Aber die da ist viel mehr als nur Rosamund! Sie wird mit dir spielen, mehr nicht. Und sie wird dir unendlich weh tun.“

 

Rico atmet schwer und starrt auf den lockenüberfluteten Rücken wenige Meter vor ihm. Nie, nie, niemals wird er sie missen können. Zu ihren Füßen will er liegen bis in alle Ewigkeit. Ihren Duft atmen, in ihrem Licht leben. Sein Leben wird er für sie hingeben. Ihr dienen. Ihr Ritter sein.

 

Jetzt erst wendet sich ihm das junge Mädchen zu, neigt den Kopf und lächelt. Sie ist genau so, wie er sie sich erträumt hatte. Venus persönlich hat ihn erkoren. Ihn, den kleinen, dicken Rico mit den vielen Pickeln! Ihn, Braveheart.

 

Die beiden bemerken nicht mal, dass Tommi geht. Dass ihm zum Heulen ist. Vor der Liebe kann er Rico nicht retten. Schon gar nicht vor dieser.

 

Version 3