Von Anne Zeisig

„Mama! Fesch siehst du aus.“

Fast hätte ich sie nicht erkannt, wie sie da in der geöffneten Wohnungstür vor mir steht.

Seit einem Jahr ist sie trauernd in ihren Filzpantoffeln und der grauen Kittelschürze durch die Wohnung geschlurft, das Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Altweiberdutt zusammengebunden.

 

„Kind! Der erste Eindruck ist der wichtigste!“

Sie schiebt mich von der Fußmatte, schließt die Tür ab und lässt den Schlüssel in eine alte schwarze Krokohandtasche fallen, die sie elegant in der Armbeuge trägt.

Ihr Haar fällt in leichten Wellen bis auf die Schulterpassen des Lodenblazers.

Ich blicke an ihr hinab.

Ein enger Bleistiftrock! Dazu die hohen Hacken! Aus schwarzem Lack mit Silberspange. 

Old-School.

 

„Elegant schaust du aus, aber anlassbezogen ist das nicht.“

 

Sie stöckelt etwas unsicher auf die Treppe zu und schaut mich an: „Du meinst, ich sei unpassend gekleidet?“

 

Gut, dass sie sich am Geländer festhält und die Stiege recht langsam hinunter geht.

 

„Du gehst schließlich nicht zu einer Premiere ins Theater, um nur ein Beispiel zu nennen.“

Und selbst dafür wäre sie overdressed.

 

„Für mich ist das heute aber eine Premiere“, säuselt sie mehr zu sich, als dass es für meine Ohren bestimmt ist und wackelt unsicher Stufe für Stufe hinab.

 

Im Parterre angekommen, hält sie inne: „Du solltest auch mehr aus dir machen!“ Sie zeigt auf meine Jeans. „Ich weiß, dass diese Löcher modern sind, aber trotzdem.“ Mutter schüttelt schwungvoll ihre Wellenpracht. „Womöglich muss ich mich am Ende noch für dich schämen!“

 

Ich grinse: „Ich muss ja heute keinen ersten Eindruck hinterlassen.“

 

„Und wenn er sofort mitkommt? Dann könntest du uns beide doch fahren!“

 

„Mutter! So schnell geht das nicht! Ihr müsst euch doch erst kennenlernen! Schauen, ob ihr zueinander passt.“ 

 

„In meinem Alter sollte man keine Zeit vergeuden, wenn man sich endlich entschlossen hat, was Neues zu wagen.“

Sie öffnet die Haustür in einem weiten Bogen und steuert auf mein Auto zu. Erstaunlich, wie sicher sie nun auf den Hochhackigen geht, will sich nicht von mir auf den Beifahrersitz helfen lassen.

 

Mama strotzt vor Elan!

Kein griesgrämiges Gejammer. Keine zusammengekniffenen Augen. Keine Tränen.

 

„Weißt du auch, wo du mich hinfahren musst?“ Sie klappt die Sonnenblende hinunter und zieht sich ihre Lippen mit einem Lippenstift nach.

Knallrot!

„Wir müssen uns beeilen, bevor ich es mir anders überlege!“, drängt sie.

 

Ich trete auf das Gaspedal. Der Motor heult auf. Blitzstart.

Erst jetzt sticht mir der hochrote Nagellack ins Auge. Ich atme langsam tief ein und aus.

 

„Für Oskar habe ich mich nie so herausgeputzt. Aber das waren auch andere Zeiten. Schließlich sind wir zusammen alt geworden. Er kannte meine Marotten. Und ich seine.“

 

Ich weiß nicht, ob ich amüsiert sein sollte, oder ob ich mich um Mutter sorgen soll.

 

„Er war dein Lebensmittelpunkt. So viele Jahre Gemeinsamkeit. Und dann plötzlich alleine. Einsam.“

 

Mama schluchzt.

 

Was rede ich da überhaupt für einen Quatsch? 

Natürlich hätten ich, Christian und die Kinder, sie öfter besuchen sollen, nachdem Papa verstorben war.

 

„Aber nun ist es Zeit für einen Neubeginn“, sage ich hastig optimistisch und bekräftige: „Du siehst wirklich klasse aus! Wenn Annika Konfirmation hat, solltest du das unbedingt auch anziehen!“

 

Sie zückt ein Spitzentaschentuch aus ihrer Tasche und tupft sich die Wangen trocken. „Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst,  aber mir ist klar, dass ich heute einen fremden, mir unbekannten“, ihr Redefluss stockt. „Ich weiß nicht, ob ich schon dazu bereit bin.“

 

Ich könnte mir eine Ohrfeige verpassen. Sie war doch fest entschlossen!

„Mama! Du hast ein Jahr keinen Fuß vor die Tür gesetzt! Bist eine tolle Frau! Einen Rückzieher würdest du dir nicht verzeihen.“

Ich knuffe sie in die Seite.

Mein Smartphone meldet sich: Christian.

„Nein!“, schreie ich in die Freisprecheinrichtung. „Heute holst du die Kids vom Sport ab! Ich habe keine Zeit, weil meine Mutter mir heute wichtiger ist!“

Mama tätschelt lächelnd meine Hand, die auf dem Schaltknauf liegt.

 

 

* * *

 

Endlich haben wir den Stadtrand erreicht.

Meine Mutter besteht darauf, ohne mich hineinzugehen, wofür ich zwar vollstes Verständnis habe, andererseits wirkt sie mit ihrer eleganten Kleidung total deplatziert.

Es findet jedoch hoffentlich ein aussagefähiges Gespräch statt.

‘Konversation, Kind, Konversation’, würde meine Mutter sagen, „ist das A und O der Zwischenmenschlichkeit.“

 

Ich vertreibe mir die Zeit mit dem Surfen und bete inständig, dass sie endlich wieder eine Aufgabe bekommt und am Leben teilnimmt.

 

Eilig und mit geröteten Wangen stolpert sie über den unebenen Parkplatz und lässt sich auf den Sitz fallen.

„Benno! Er heißt Benno! Und ist leicht gehbehindert! Nur leicht! Ich kann ja schließlich auch keinen Marathon mehr laufen! Und wie der mich angeguckt hat mit seinem samtbraunen Dackelblick!“

 

Mama schaut mit glänzenden Augen ins Leere durch die Windschutzscheibe. „Ich glaube, Kind, das ist Liebe auf den ersten Blick. „Mir egal, wenn das kitschig klingt.“

 

„Und?“, frage ich ungeduldig, „Wann darfst du das erste Mal mit ihm Gassi gehen?“

 

„Heute“, haucht sie. „Aber du musst mich erst heimfahren. Ich bin ja total unpraktisch angezogen! Ich brauche meine Halbschuhe, die bequemen Jeans und meine Wetterjacke.“

 

„Und die knallrote Hundeleine von Oskar“, vervollständige ich ihre Aufzählung.

 

Mama schüttelt den Kopf: „Benno bekommt eine mit Strass-Steinen! Dein Vater hätte ja darüber gemeckert, aber ich entscheide das nun alleine!“

 

 

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