Von Manuela Murauer

Chiara stand am Oberdeck des Ausflugsschiffes. Ihr dunkles, schulterlanges Haar leuchtete in der Frühlingssonne. Aufmerksam betrachtete sie die ligurische Küste, die langsam an ihr vorbeizog. Der Duft des Meeres stimmte sie melancholisch. Sie fühlte sich, als würde sie nach einer langen Reise endlich ankommen, in einem Hafen landen und ankern, für immer möchte sie hier bleiben. Nie mehr nach Deutschland, in die Großstadt, zurück. Nur hier bleiben. Diese Sehnsucht spürte sie schon als kleines Mädchen, immer hatte es sie zum Meer hingezogen.

Das Schiff bog um einen schroffen Felsvorsprung, der steil in das blaue Meer ragte. Endlich der erste Blick auf Manarola, ein malerisches Dorf in den Cinque Terre. In allen Farbtönen gestrichene Hausfassaden, von rot, orange über gelb und violett funkelten ihr entgegen. Die  mehrstöckigen Häuser, aberwitzig ineinander verschachtelt, aufgetürmt, an den Hängen emporgewachsen, strahlten eine unglaubliche Wärme aus.

Chiara griff in ihre Handtasche. Ohne zu schauen, fühlte sie das dünne Pergamentpapier und die breite Schleife, die um etliche Briefumschläge gebunden war. Sie wollte sich überzeugen, ob das Päckchen noch da war. Das Schiff näherte sich dem Hafen und ihr Herz schlug mit jedem Meter, dem sie sich der Mole näherten, schneller.  

Chiara dachte an die Worte von Katharina, die sie drei Wochen zuvor besucht hatte.  Im Krankenbett liegend erzählte sie mit Tränen in den Augen und schwacher Stimme:

„29 Jahre ist es her, als ich ihn kennenlernte, ich war als Kellnerin auf  Saison in den Tiroler Bergen. Er war in der Küche des Nachbargasthofes angestellt. Schon bei unserer ersten Begegnung hüpfte mein Herz. Er war so ein fröhlicher  Mann mit einer wunderbaren Ausstrahlung. Ihm ging es wohl ähnlich, wollte er doch gleich ein erstes Rendezvous mit mir. An unseren freien Stunden haben wir uns öfters fortgestohlen, Spaziergänge gemacht, sind die Berge hoch gewandert. Wir hatten so viel Spaß und waren uns von Anfang an vertraut und tief verbunden. Einen Lieblingsort hatten wir auch gefunden, eine zu dieser Zeit leer stehende Almhütte. Wir lagen dann vor dem Kaminfeuer, eng umschlungen und so sehr verliebt ineinander.“  

***

Chiara ging an Land. Heute würde sie ihn erstmals sehen. Würde ihm endlich gegenüber stehen und seine Stimme hören. Sie folgte den gewundenen Treppengassen entlang der schmalen Hauptstraße den Hang hinauf. Nur wenige Touristen waren um diese Jahreszeit hier. Sie hielt kurz an und las die Straßenbezeichnungen an den Hauswänden. Immer und immer wieder hatte sie daheim auf einer Karte den Weg studiert, der zu ihm führen würde. Sie kannte ihn auswendig, obwohl sie noch nie hier war. Ihr ganzes Leben war sie noch nie so nervös gewesen wie heute. Wieder dachte sie an Katharinas Worte:

„Eines Tages aber war er fort. Ohne Abschied und ohne Erklärung hat er Österreich verlassen. Ich lief verzweifelt zum Küchenchef des Gasthauses und fragte nach. Der hat mich jedoch wütend aus der Küche geschmissen, mit den Worten – Nach Italien, dort wo er hingehört, und hoffentlich nicht mehr wiederkommt, dieser Mistkerl – Ich habe nie erfahren, wo er wohnt. Ich wusste nur seinen Vornamen – Maurizio.“

***

Von weitem sah Chiara die kleinen, weiß gedeckten Tische vor der Trattoria. Schöne Terrakottatröge, mit Kräutern, Ginster, Hyazinthen und Oleander bepflanzt, trennten diese Trattoria von einem benachbarten Ristorante. Vereinzelt saßen Gäste an den Tischen. Chiara nahm Platz und fühlte ihr Herz rasen.

Ein junger Kellner kam an den Tisch und fragte sie freundlich, was er ihr bringen dürfe. Chiara bestellte ein Glas Vino della casa, fasste all ihren Mut zusammen und fragte nach Maurizio. Der Kellner antwortete in gebrochenem Deutsch: „Maurizio? Il Padrone di casa? Eh, ich hole.“

Aus der Trattoria hörte sie Stimmen und die üblichen Geräusche eines Gastbetriebes.  Kurz darauf betrat ein großer, schlanker Mann Anfang fünfzig mit pechschwarzen, fülligen Haaren die Veranda. Sein Gesicht mit einigen Lachfalten um die dunklen Augen war tief gebräunt, die Ärmel des weißen Hemdes hochgeschoben und die dunkle Hose von einer leuchtend roten Schürze bedeckt. Er wischte seine bemehlten Hände in der Schürze ab und kam zu Chiaras Tisch.

„Signora, wie kann ich Ihnen helfen?“ Wie selbstverständlich wechselte er in die deutsche Sprache. Er beherrschte sie gut, aber das wusste sie bereits.

Mit zittriger Stimme antwortete Chiara:

„Ich soll dir Grüße von Katharina überbringen.“ Maurizio sah sie verwundert an, atmete tief durch, nahm den Stuhl zur Seite und setzte sich ihr gegenüber hin.

„Von Katharina? Wie geht es ihr denn?“ Er sprach leise und senkte seinen Blick, fixierte die weiße Tischdecke. Der Kellner brachte Wein und Focaccia, Chiara musste sofort einen Schluck nehmen, ihre Kehle war trocken und brannte.

„Leider geht es Katharina sehr schlecht. Seit einigen Jahren hat sie gesundheitliche Probleme. Ihr Herz ist so schwach.“

Maurizio sah sie mit traurigen Augen an. Er wusste offensichtlich nicht, was er darauf antworten sollte.

„Erzähl mir bitte von Katharina. Es muss fast 30 Jahre her sein, seit ich sie zuletzt gesehen habe.“

Nun begann Chiara alles, was sie von Katharina am Krankenbett erfahren hatte, zu erzählen.

Maurizio richtete seinen Blick in die Ferne, auf die bunten Hauswände der gegenüberliegenden Straßenseite. Seine Augen waren immer noch sehr traurig, obwohl er doch ein fröhlicher Mann gewesen war, wie Katharina meinte.

Als Chiara von Maurizios plötzlicher Abreise erzählte, lehnte er sich zurück, strich mit seiner schmalen, feingliedrigen Hand über sein Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Mein Vater lag im Sterben, ich musste dringend nach Ligurien zurück. Der Küchenchef war außer sich vor Wut und hat mich noch in der Nacht rausgeschmissen. Vier Wochen später kam ich wieder nach Österreich zurück, ich wollte Katharina alles erklären. Da war sie aber schon abgereist. Ich habe bei meiner Ankunft die Chefin des Hotels aufgesucht und mich nach Katharina erkundigt. Sie meinte, Katharina sei sehr krank geworden und sie habe sie nach Hause geschickt, nach Deutschland, zu ihrem Vater. Aber die Hotelchefin hat gleich gemerkt, dass ich sehr verliebt war in Katharina und mir die Adresse gegeben.“

Einige Zeit saßen sie still da. Jeder in Gedanken versunken. Bis Chiara weiter erzählte:

„Der Vater von Katharina, ein Witwer, war ein verbitterter, ehemaliger General der deutschen Streitkräfte im 2. Weltkrieg. Er hat sie einige Wochen nach ihrer Ankunft aus Österreich zu einer Tante aufs Land geschickt und jeden Kontakt zu ihr abgebrochen. Bis zu seinem Tod vor drei Monaten hat sie nie mehr von ihm gehört. Als sie das Haus ihres Vaters dann schlussendlich ausräumen musste und den Schreibtisch öffnete, hat sie das hier gefunden.“ Chiara bückte sich zu ihrer Handtasche, nahm das verschnürte Paket und legte es vor Maurizio auf den Tisch.

Maurizio hielt den Atem an, er starrte auf die Briefumschläge, die fein säuberlich aufeinander lagen.

„Mein Gott, die Briefe an Katharina! Sie hat mir nie geantwortet. Jahrelang habe ich ihr geschrieben.“ Mit zittrigen Fingern strich er über die rote Schleife, die um die Umschläge gebunden war.

„Aber Maurizio, Katharina hat die Briefe nie gesehen! Ihr Vater hat sie nicht geöffnet. Sie lagen verschlossen in einer Ecke der Schublade. Erst jetzt, vor ein paar Wochen, konnte sie alle Briefe lesen und hat erfahren, dass du sie so vermisst hast.“

Maurizio betrachtete die Briefe lange, atmete schwer und sank in sich zusammen, er wirkte gebrochen.

„Was ist denn passiert? Wieso hegte der Vater so einen Groll auf Katharina?“, wollte er wissen.

Chiara  lehnte sich nach vor, sah Maurizio tief in die Augen.

„Katharina kam schwanger heim aus Tirol, Maurizio. Ihr Vater hat sie aufs Übelste beschimpft. Hat ihr vorgeworfen, sie hätte den Namen der Familie in den Schmutz gezogen! Noch dazu ein Italiener als Vater des Bastards, ein Verräter der schlimmsten Sorte und nie wolle er jemals im Leben das Enkelkind sehen.“

Maurizio starrte Chiara an. Er schüttelte den Kopf, immer und immer wieder. Und nun begann er sie zu mustern, ihre dunklen Augen, das schwarze Haar, die schmalen, feingliedrigen Hände. Er hielt eine Hand vor den Mund und seine Augen füllten sich mit Tränen. Mit der anderen Hand fasste er nach Chiaras Händen und er zögerte noch, bevor er fragte:
„Katharina ist deine Mutter? Und ich….ich….?“

Chiara lächelte, drückte seine Hand und nickte.

Die Sonne versank langsam im Meer und tauchte die Häuser in ein sattes Orange. Chiara richtete ihren Blick in die Ferne, spürte, jetzt war sie angekommen und bald wird auch Katharina hier ankommen.

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