Von Julia Schulze

Das Telefon klingelte. Einmal. Er griff zum Schlüssel. Zweimal. Er fuhr sich durch die Haare. Die Strähnen lagen an ihrem zugewiesenen Platz, so, wie das Haargel es angeordnet hatte. Ein drittes Klingeln. Er wusste, wer ihn anrief. Er konnte es am Klingeln hören. Er nahm seine Jacke und ging durch den kleinen Flur Richtung Haustür. Davor wartete jemand auf ihn. Ob er dafür eine Jacke brauchte?

Das vierte Klingeln mahnte, laut, das vierte Klingeln war ein Rufen auf das er normalerweise antwortete. Das war eine nicht vereinbarte Vereinbarung zwischen ihnen.

 

„Junge, bist du es?“ So fing es immer an.

 

„Mama, Hallo, ja, ich bin‘s, wie immer.“ Er musste los.

 

„Wann kommst du denn mal wieder?“

Wie jeden Tag rief sie an, um ihn zum Mittagessen zu sich zu holen. Und wie jeden Tag versuchte er ihr klarzumachen, dass dort, wo sie jetzt war, niemand mehr zum Essen kam. Das Essen kam zu ihr. Auf einem Tablett.

 

„Ich muss dir doch was erzählen, mein Junge. Deine Mutter, hach… ich bin gestern ausgegangen, weißt du? Mit einem jungen Mann.“

 

Tom kannte das Drehbuch seiner Mutter, aber heute hatte er ausnahmsweise wirklich keine Zeit. Er war dabei, seinem eigenen Drehbuch eine entscheidende Szene hinzuzufügen. Seine Finger knoteten sich ungeduldig um das Telefonkabel, auch sie wollten los.

 

„Mama, ich kann heute nicht mit dir telefonieren, ich muss dringend los. Ich komme aber morgen zum Mittagessen, ok?“ Stille. Ein Knistern, ein Rascheln in der Leitung, ein Räuspern.

„Mama?“

 

„Bist du es, Junge?“ Ja, Mama, ja, ich bin es, wie immer.

 

„Ich muss dir von Herbert erzählen. Ich habe gestern Herbert getroffen.“

 

„Mama…“

 

Seine Mutter hatte ihr Leben vergessen, nicht aber die Liebe. Das schleichende Verblassen, das sich in ihrem Gedächtnis ausbreitete, ließ ihr zwei Bilder, die überbelichtet in einem konturlosen Grau hingen: zwei Bilder von zwei Männern, die, je länger man hinsah, langsam zu einer Person verschwammen.

 

„So ein feiner Mann.“ Ich weiß, Mama, eingeladen hatte er dich.

„Er hat mich eingeladen, weißt du.“

 

Toms Vater war kein feiner Mann gewesen, sondern rau und laut, ein Kumpel, so grob wie die Materie, die er aushob, kein geschliffener Stein mit Manieren.

 

„Und schick hat er ausgesehen. Im Sonntagsanzug, frisch aufgebügelt mit einer Blume am Revers. Die hat er mir zum Abschied ins Haar gesteckt, ganz nah am Ohr, dass es gekitzelt hat.“

 

Ihre erste Verabredung mit Herbert, das war ein winziger Ausschnitt, in dem es keine Zeit, kein Alter, kein Vergessen gab. Und es war das letzte Verbindungsstück zu seiner Mutter, ein dünner Faden, der jeden Tag neu gesponnen wurde. So lange seine Telefonnummer nicht auch vom Verblassen erwischt werde würde.

 

„Wir sind in das Stadtcafé am Marktplatz gegangen. Wie die feinen Leute, weißt du.“

Ich weiß Mama, in die Eckkneipe am Ende der Straße, in der sie drei fast 30 Jahre gewohnt hatten. Es war die Stammkneipe der Kumpel, und das Bier war dort am billigsten. Toms Vater hatte nie ein anderes Lokal von innen gesehen, dafür dieses aber sehr oft.

 

„So viele Leute, alle haben sie auf uns geschaut. Ich glaub‘ wir haben richtig gut zusammen ausgesehen.“

 

Herbert mit einer jungen Frau im Feierabendkumpelgetümmel, das hatte mit Sicherheit Aufsehen erregt.

 

„Er hat mich gefragt, ob ich rauche. Er hätte auch Feuer. Oder ob es mich störe, wenn er sich eine Zigarette anmache. So höflich…“  

 

Toms Mutter hatte den kalten Zigarettenrauch gehasst, erst ertragen, dann verteufelt und als Herbert starb, vermisst.

 

„‘Ich rauche doch nicht‘, habe ich geantwortet. ‚Umso besser‘, hat er dann gesagt. ‚Bleiben Sie mir nur immer schön gesund, junges Fräulein.‘ Das hat er gesagt: junges Fräulein.“

 

Toms Mutter kicherte in den Hörer wie ein junges Fräulein das wohl vor über 60 Jahren getan haben muss. Sein Herz zog sich zusammen wie das Kabel in vielen Knoten um seine Finger.

 

„Mama, ich weiß doch. Ich kenn‘ die Geschichte schon. Ich muss langsam los, weißt du, es geht heute nicht, weil…“

 

Er würde zu spät kommen. Er riss an dem verknoteten Kabel.

 

„Ob ich noch einen Kaffee wolle oder eine Eisschokolade?“ Ein Seufzer. Dann Schweigen.

 

Hättest du doch einfach abgelehnt, Mama.

„Ich hab‘ ihn einfach angelächelt. Das hat ihm gefallen. Ich glaube, da hat es gefunkt, wie man wohl so sagt.“

 

Anlächeln ist das Neinsagen der Bescheidenen und eigentlich ein großes Missverständnis, fand Tom. Seine Mutter war eine schöne Frau gewesen. Nach Herberts Tod kreisten ein paar übriggebliebene Kumpel um die Witwe wie Adler um ein warmes Nest. Für Toms Mutter hatte es immer nur Herbert gegeben und die Kumpel dabei angelächelt.

 

„Anstand hat er, dein Vater. Weißt du, er hat mir den Vortritt gelassen, mir die Tür aufgehalten…“

 

Toms Mutter war an einem Ort, fernab der groben Grubenrealitäten, dort, wo Herbert zu ihrem Herbert wurde. Die Verwirrung war komplett und es würde keine Lösung geben. Und er würde seine Verabredung verpassen, wenn er seine Mutter jetzt nicht zurückholen konnte.

 

„Wir sind noch spazieren gewesen, am Fluß, und er hat mir erzählt, dass er ein Buch gekauft hat, von Hesse, glaube ich, oder war es Thomas Mann, herrje… Hesse muss es gewesen sein.“

 

Herberts Welt bestand aus wenigen Parametern, aber die waren klar gesetzt, unumstößlich und damit sehr berechenbar. Tom wusste, welche Themen er besser ausließ. Die Ausbildung zum Buchhändler zum Beispiel hatte er nie angesprochen. Das Geld, das er dafür benötigte, hatte ihm seine Mutter heimlich zugesteckt. Als Entschädigung brachte er ihr regelmäßig ein neues Buch aus der Buchhandlung mit. Hesse war ihr Lieblingsautor.

 

„Es war Hesse, Mama. Papa hat Hesse geliebt. So wie dich. Von Anfang an.“

 

Er konnte ihre Tränen hören wie sie leise auf die Muschel tropften im Takt ihrer Erinnerung. Wässrige, runde Bilder von Cafés und höflichen Männern mit Manieren.

 

„Er konnte sich so gewählt ausdrücken.“

 

Schimpfen wie ein Schweinebauer, Mama.

 

„Er weiß so viel von der Welt und ich bin so ein dummes Ding.“

 

Umgekehrt war es gewesen, Mama. Aber das machte am Ende wohl nichts.

 

„Mama, was hälst du davon, wenn du mir morgen mehr davon erzählst? Ich freu mich sehr für dich. Dein Sohn hat jetzt allerdings auch eine Verabredung, weißt du. Ich möchte die junge Dame nicht warten lassen.“ Seine Finger waren frei.

 

Charly. Ihr Avatar hieß Charly, war 35 Jahre alt und Dozentin für englische Literatur.

 

„Oh, natürlich, mein Junge. Warum sagst du denn auch nichts. Man lässt junge Damen nicht warten.“

 

So wie er dich hat warten lassen, eine Eheleben lang. Auf seine Heimkehr, auf einen gemeinsamen Kinobesuch, auf ein paar Blumen, auf eine Liebe, die der Alltag braucht, um nicht alltäglich zu werden. Gelbe Gerbera, darüber hatte sie sich gefreut, wenn Tom ihr einen Strauß mitgebracht hatte. Er aß jeden Mittag zuhause. Saßen zu dritt, später zu zweit am Esstisch, auch als er schon ausgezogen war. Er hatte seine Mutter nie warten lassen.

 

„Schon gar nicht bei der ersten Verabredung.“ Sie klang entrüstet wie Mütter klingen, wenn ihre Söhne dabei waren, Unfug zu machen.

Charly sollte unter keinen Umständen auf ihn warten müssen. Er hatte während des Telefonats ihr Online-Profil aufgerufen und ihr eine Nachricht hinterlassen. Sie war offline.

 

„Danke Mama, ich weiß. Ich komm dann morgen, versprochen.“

 

Er legte auf und lauschte seinem schlechten Gewissen, das jedes Mal in der Leitung hing, wenn der Freiton kam. Dann rannte er zu Bahn. Heute wollte er einer Frau Blumen schenken, wie ein Mann einer Frau Blumen schenkt.

 

Charly ging offline. Heute wollte Charlotte Tom treffen und Charly sollte für immer offline gehen. Charlotte war bereit für das Leben da draußen. Sie wollten sich im Stadtcafé treffen und sie hoffte ein bisschen, dass er Blumen mitbringen würde.

Und jetzt war sie spät dran. Wie konnte ihr das passieren? Ein letzter Blick durch die Wohnung, ein letzter Blick in den Spiegel, ein letzter Blick auf die Uhr. Es war nicht weit und vielleicht war es auch noch nicht zu spät. Frauen kamen doch immer zu spät zu Verabredungen, oder?

 

Es war genau die halbe Stunde, die er gebraucht hatte, um seine Mutter am Telefon abzuwimmeln. Als Tom ankam, wusste er, sie war nicht da. Seine Augen schossen durch das Café auf der Suche nach einem Ziel, das sie nicht kannten. Er fand keine Frau mit suchenden Augen, keine Frau, die wie eine Charly aussah. Sein Herz hörte auf zu flattern, weil es dafür zu schwer geworden war. Enttäuschung, wenn sie eintrifft, wiegt soviel schwerer als die Angst vor ihr. Eine halbe Stunde. Eine halbe Stunde hatte jemand anderes auf ihn, Tom, gewartet als seine Mutter oder das, was von ihr noch anwesend war.

 

Die Sonne stahl sich durch Wolkenberge als Charlotte vor die Tür trat. Sie blinzelte in den Himmel und rannte los. Ihr Kleid spielte um ihre Beine als würde es sich genauso freuen wie Charlotte.

Welch ein Glück ich doch habe, dachte sie, als sie den letzten Blick auf die Straße vergaß. Und als ihr auffiel, dass sie ihn vergessen hatte, weil sie an ihr wehendes Kleid dachte und an die Blumen, die er für sie vielleicht gekauft hatte und daran, dass man besser einen letzten Blick auf Straßen und nicht nur in Spiegel werfen sollte, hatte der Bus sie bereits in voller Fahrt erfasst und dem Kleid das Spielen strengstens verboten.

 

Sie war nicht zum Treffpunkt gekommen. Wie recht er hatte und wie falsch er lag, würde er sehr viel später erfahren. Vor dem Eingang stehend wie ein Wartender auf seine Verabredung, so blieb Tom noch eine Weile stehen, weil er gern ein Wartender auf eine Verabredung gewesen wäre. Wolkenberge schoben sich vor die Sonne und erstickten das Licht darin. In der Ferne hörte er die Sirenen eines Krankenwagens.