Von Ingo Pietsch

Tatjana stieg aus dem Taxi und fragte sich, was sie eigentlich hier machte.

Vor einem halben Jahr hatte ihre Schwester Daniela jeglichen Kontakt zu ihr und ihrer Familie abgebrochen.

Keine Antwort mehr auf Briefe, Email oder Telefonanrufe. Sie war wie vom Erdboden verschluckt.

Tatjana hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um sie ausfindig zu machen. Doch niemand konnte ihr sagen, wohin sie verschwunden war oder ob sie überhaupt noch lebte.

Vor fünf Jahren hatte man bei Daniela Krebs diagnostiziert. Das hatte die lebenslustige Frau und ihre Familie tief getroffen. Sie hatte gekämpft, alle möglichen Heilpraktiken und Esoterik ausprobiert, bis schließlich nur noch eine Chemotherapie übrig blieb.

Nach der anstrengenden Prozedur hatte es sie nach Irland verschlagen. Die Luft und das Klima hatten ihr gut getan und ihre Eltern hatten sie von Zeit zu Zeit besucht. Auch Tatjana war einige Male hier gewesen.

Dann war der Krebs zurückgekommen.

Tatjana stieg die glitschigen Stufen zum Kieselstrand hinunter. Seichte Wellen schlugen auf den Strand. Der Himmel war bewölkt und leichter Nebel schwebte über dem Meer.

Jetzt, in den frühen Morgenstunden war es eisig kalt und Tatjana atmete kleine Wölkchen aus.

Sie kannte das raue Klima und hatte sich entsprechend angezogen. Später, wenn die Sonne die Wolken vertrieben hatte, würde es angenehm warm werden. Dann konnte man meilenweit aufs Meer blicken und sich bei dem beruhigenden Klang der Wellen entspannen.

Tatjana entdeckte ihre Schwester auf einer Bank, die halb in der Dünung versteckt stand. Sie trug einen langen Wollmantel und eine Strickmütze.

Früher waren ihre Haare bis auf die Schultern gefallen, aber die Chemo hatte ihren Tribut gefordert.

Tatjana setzte sich neben sie.

Keine Umarmung, keine Begrüßung.

Daniela blickte einfach aufs Meer und hatte ihre Hände in die Taschen gesteckt.

Sie saßen eine Weile schweigend da.

Dann sagte Daniela: „Wie geht es meinem Lieblingsneffen Franko?“

„Er studiert Kunst in Mailand und ist dort bei einem bekannten Lederer in die Lehre gegangen.“

„Wie alt ist er jetzt? Zwanzig?“, fragte Daniela weiter.

„Neunzehn. Ich war sechzehn und du zwanzig.“ Tatjana atmete tief ein. Ihre Schwester hatte immer alles bekommen, was sie wollte. Geld, einen Freund nach dem anderen. Tatjana hatte zu ihr aufgesehen, sie bewundert, wollte es ihr gleichtun. Doch es war schiefgelaufen. Mit sechzehn schwanger in einem kleinen Dorf. Ohne Schulabschluss.

Tatjana schüttelte den Kopf: „In deiner Email stand, dass du dich verabschieden wolltest. Wir haben ein halbes Jahr nichts mehr von dir gehört. Und: Wie oft haben wir uns schon voneinander verabschiedet? Endgültig? Mama und Papa halten das einfach nicht mehr aus!“

„Es tut mir leid.“

„Auch das haben wir von dir oft genug zu hören bekommen. Wer ist denn von zu Hause abgehauen, um Event-Managerin zu werden? Wer musste sich denn unbedingt verwirklichen und den Familienbetrieb im Stich lassen?“

„Ich habe euch jede Menge Connections und Aufträge zukommen lassen.“

Mit knirschenden Zähnen erwiderte Tatjana: „Da muss ich dir Recht geben. Mit meinen Ideen für Ledertaschen und deinen Verbindungen haben wir unser Geschäft retten können.“ Sie waren sogar international eingestiegen. Aber was nützte das ganze Geld, wenn man sich nicht mehr miteinander verstand?

„Also, was willst du? Ich habe alles stehen und liegen gelassen, um dich hier aufzusuchen. Ich habe gesagt, ich müsste auf Geschäftsreise. Nur mein Mann weiß, dass ich hier bin. Er hat versucht es mir auszureden, weil es mich wieder total aus der Bahn geworfen hat, als ich deine Email bekommen habe. Papa ist nicht mehr der Jüngste und Mama ist krank vor Sorge, weil sie nicht mal weiß, ob du noch lebst. Wir lieben dich, aber du machst es uns wirklich nicht leicht.“

Zum ersten Mal, seit die beiden dort saßen, blickte Daniela ihr Schwester direkt an.

„Ich werde gehen. Für immer.“ Danielas Augen waren gerötet und Tatjana wusste nicht, ob sie traurig war oder ob es an der beißend kalten Luft lag.

„Jetzt willst du gehen? Wohin? Stirbst du bald? Spürst du das?“, es waren mehr Anklagen als Fragen.

„Deshalb habe ich dich herbestellt. Ich werde eine Reise ohne Wiederkehr antreten. Weg von hier.“

„Von hier?“, Tatjana machte eine weit ausholende Geste.

„Von alledem hier.“

Tatjana strich sich fahrig durchs Gesicht: „Wie lange hast du noch?“

„Was meinst du?“, wollte Daniela wissen.

„Wie lange du noch zu leben hast? Was haben die Ärzte gesagt? Du klingst so, als stündest du unter Drogen.“

„Ich weiß, was du meinst. Ich denke, ich werde nicht so schnell sterben.“ Die ruhige Person, die sie eben noch gewesen war, war verschwunden. Sie war voller Enthusiasmus. „Ich habe Unglaubliches gesehen. Das wollte ich einfach mit dir teilen.“ Ihre Augen leuchteten regelrecht.

„Ich glaube, du drehst in deinen letzten Tagen völlig durch. Du hast uns, besonders mir, so viel Kummer bereitet, dass ich gar nicht alles aufzählen kann, dass ich …“, Tatjana war den Tränen nahe. Sie liebte ihre Schwester über alles, aber in diesem Moment hasste sie sie für ihre unverständlichen Worte. Sie war im Begriff aufzustehen und einfach wegzugehen.

Daniela nahm ihre Mütze ab und langes wallendes Haar fiel auf ihren Mantel. Länger als es vor der Therapie gewesen war. Länger als es in einem halben Jahr hätte nachwachsen können.

„Wie ist das möglich? Ist das eine Perücke?“, fragte Tatjana mit tonloser Stimme und fuhr durch das Haar und streichelte es.

Daniela nickte erst und schüttelte dann den Kopf.

„Bist du geheilt? Das ist ein Wunder!“

Daniela zuckte mit den Schultern und Tatjana umarmte sie.

„Dort, wo ich war, gibt es keine Krankheiten. Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich darf dir nichts darüber erzählen. Ich weiß auch nicht, warum gerade ich auserwählt wurde.“

Tatjana schob sich ans Ende der Bank zurück: „Jetzt fang nicht schon wieder mit diesem durchgedrehten Kram an.“

Daniela legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Dann griff sie in ihre Manteltasche, zog eine kleines Holzkästchen hervor und erzählte: „Vor ungefähr sechs Monaten ging ich wie üblich hier am Strand spazieren. Die Chemo hatte mich fertig gemacht. Ich konnte kaum noch laufen, war total abgemagert. An dem Tag hatte ich wirklich vor, mich ins Meer zu stürzen. Und ich konnte einfach nicht mehr.“

Daniela blickte sehnsüchtig aufs Wasser. Ihr Haar wehte spielend im Wind und sie genoss es. „Als ich die ersten Schritte hinter mir hatte und mein Mantel mich langsam nach unten zu ziehen begann, stieß diese kleine Schatulle im Wasser gegen meine  Knie.“ Sie gab sie Tatjana in die Hände.

Sie bestand aus einem dunkelbraunen Holz und war über und über mit Zeichen bedeckt, die dort eingeschnitzt worden waren.

„Sind das Runen?“, fragte Tatjana.

Daniela nickte.

„Und was bedeuten sie?“

„Sie erzählen die Geschichte der Insel der Äpfel. Avalon. Und hier ganz unten steht der Name Morgan Le Fay.“

Tatjana wollte mehr wissen: „Und dieses Kästchen hat dich gesund gemacht?“

Daniela schüttelte den Kopf: „Nein. Ich habe versucht, herauszufinden, was es damit auf sich hat und habe es sogar einem Experten gezeigt. Der meinte, es wäre nur ein Replik, bot mir aber trotzdem eine sehr hohe Summe dafür. Ich habe natürlich abgelehnt. Er versuchte es auch vergeblich zu öffnen, in dem er mehrere Runen in einer Reihenfolge oder gleichzeitig drückte. Und tatsächlich entpuppte es sich als Trickkästchen. Ich saß immer noch völlig entkräftet in meinem Zimmer in der Pension, als ich zu weinen begann und die Tränen auf die Schatulle fielen. Mit einem Klicken öffnete sich der Deckel.“

Daniela machte eine Pause.

„Jetzt mach es nicht so spannend. Was war darin?“

„Nicht das, was ich mir erhofft hatte. Einen Heiltrank oder ein Pergament mit der Formel für ewiges Leben oder so. Nein, darin lag nur eine kleine silberne Flöte.“

Tatjana schaute sie fragend an.

„Natürlich probierte ich sie sofort aus. Aber nichts geschah. Sie gab nicht einen einzigen Laut von sich. Wahrscheinlich war der Ton so hoch, dass ein Mensch ihn gar nicht wahr nahm.“

Tatjana war irritiert. Gänsehaut kroch ihr den Rücken hoch, sie konnte die Spannung kaum noch aushalten.

Daniela stand auf und nahm ihre Schwester bei der Hand. „Lass uns ein Stück laufen.“

Sie gingen zum Kiesstrand hinunter. Die Sonne war etwas stärker geworden, würde aber noch bis zum Mittag brauchen, um den Nebel aufzulösen.

Daniela sah sich um, ob sie auch alleine waren, holte tief Luft und blies in die Flöte, die sie wie aus dem Nichts hervorgezaubert hatte.

Tatjana zitterte vor Aufregung.

Der Nebel um sie herum wurde dichter. Er schluckte sämtlich Geräusche. Nur der leise Wellengang vor ihnen war zu vernehmen.

Und dann tauchte urplötzlich ein riesiger Schatten vor ihnen im Wasser auf.

Tatjana viel rückwärts auf den Kies. „Ist das Nessie?“, fragte sie mit weit aufgerissen Augen und tonloser Stimme.

Sie krabbelte noch ein Stück zurück, bis Daniela sie beruhigte: „Ein Wasserdrachen. Er tut dir nichts.“

Der lange Hals bog sich zu ihnen herunter und Daniela tätschelte den kleinen Kopf. Der Drachen gab ein Geräusch wie ein Schnauben von sich und knurrte auf eine gutmütige Art.

Das Tier machte mit seinen Paddelflossen ein paar Schritte auf den Strand.

Auf dem Rücken befand sich ein Sattel und Zaumzeug.

Tatjana wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war.

„Ich werde dich vermissen.“

„Ich dich auch.“ Die Schwestern umarmten sich.

„Werden wir uns jemals wiedersehen?“, wollte Tatjana noch wissen, als Daniela begann im Sattel Platz zu nehmen.

„Ich weiß es nicht. Aber ich werde immer an dich und unsere Familie denken. Und es tut mir leid, dass ihr meinetwegen soviel Kummer hattet. Ich wünsche euch alles Glück der Erde.“

Sie winkte ihrer Schwester hinterher. Auch lange noch, nachdem sie im Nebel verschwunden war.