Von Susannah Winter

Ihre Füße schmerzten. Erleichtert streifte sie die Hochhackigen ab. Barfuß laufen, die warmen Holzdielen unter den Fersen spüren, war ihr schon immer das Liebste gewesen. Er hatte noch einen Parkplatz gesucht und betrat nun kurz nach ihr die gemeinsame Wohnung. Großzügig geschnittene 90qm nur für sie zwei. Kinder hatte er nie gewollt und sie hatte sich seinem Wunsch gefügt. Zu verliebt war sie gewesen, zu sicher, das ganze Leben läge ihnen beiden zu Füßen. Und vielleicht, ja vielleicht würde er seine Meinung ändern. Sagte man nicht, Männer seien in Familienfragen eher Spätzünder? Doch er beharrte darauf, dass Kinder seine Karriere, ihr ganzes Leben zerstören würden. Und sie hatte sich schließlich abgefunden. Jetzt, mit fast 40, fragte sie sich hin und wieder leise, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber fünfzehn Jahre Ehe warf man nicht einfach weg.

Seine Wünsche hatten sich erfüllt, glaubte sie. Er war erfolgreich, verdiente gut. Besser als sie, obwohl sie ähnlich viel Energie in ihren Job investiert hatte. Der Empfang heute Abend war der beste Beweis gewesen. All die Menschen in extravaganten Anzügen, feinen Roben, die sich darum rissen, ihm die Hand zu schütteln. Immer wiederkehrender Small Talk über die Arbeit, das Wetter, Lob dem Gastgeber, dem Buffet, der exklusiven Auswahl an Musik und Getränken. Auch ihr reichte man freundlich die Hand. Sie war die „Frau Professor“, Frau an seiner Seite. Und lange hatte sie sich daran nicht gestört. Doch heute war es anders. Er schien unterkühlter als sonst, sprach nicht viel. Und auch sie mochte nicht reden. Zu sehr beschäftigte sie das diffuse Gefühl, dass Dinge sich verändert hatten.

Das herzliche Miteinander, das ihre Ehe so lange getragen hatte, schien mit jedem Tag einer unerträglichen Gleichgültigkeit zu weichen. Sogar dann, wenn er seine Hand auf ihre Schulter legte, eine Geste, die immer warme Verbindlichkeit suggeriert hatte, war da jetzt eine Kluft, die keine Berührung, kein Wort mehr zu überbrücken vermochte.

Er ging ins Bad. Die übliche Routine. Zähne putzen, Nachtkleidung anlegen. Alles wie immer, solange man nicht tiefer grub. Früher hätte sie sich beeilt, ihm zu folgen. Wie oft hatten sie gemeinsam auf dem Rand der Eckbadewanne gesessen und sich über dem gemeinsamen Zähneputzen angefeixt, Vorfreude auf die gemeinsame Nacht in den Augen, in der Körperhaltung. Dieser Tage suchten sie beide diese Gemeinsamkeit nicht mehr. Meist lag er zuerst im Bett, mit kurzem Hinweis darauf, dass am nächsten Morgen ein harter Arbeitstag bevorstand. Doch morgen wartete ein Sonntag mit Freizeit, die sie dieser Tage nur dann gemeinsam verplanten, wenn sie dem alten Hobby Tennis nachgingen. Was er für morgen geplant hatte, wusste sie nicht. Sie hatte sich mit Freundinnen verabredet. Kontakte pflegen, obwohl sie viel lieber an irgendeinem See gesessen hätte, die schmerzenden Füße im kühlen Wasser, die Sonne auf der Haut. Sie hörte ihn das Bad verlassen. Die Schlafzimmertür ging. Er murmelte ein „Gute Nacht“. Dann hatte sie die Wohnung für sich. Aus einer Laune heraus setzte sie sich im Schneidersitz vor einen der Eichenschränke im Wohnzimmer. Er liebte das schwere, dunkle Holz. Ihr wäre etwas Leichteres, Moderneres lieber gewesen. Sie öffnete die schwergängige Schublade. Eine dieser Schrankladen, in denen sie Souvenirs aufbewahrte. Alte Fotos, Erinnerungsstücke, Briefverkehr. All dies lagerte dort, ohne dass es je hervorgeholt würde. Ihre liebsten Fotos hingen an den Wänden, standen auf Ablagen und Schreibtischen. Jetzt zog sie ein Fotoalbum hervor, an das sie sich nicht wirklich erinnern konnte, obwohl der schwere graue Einband seltsam vertraut wirkte. Die erste Seite zeigte ihre Kinderfotos. Sie als kleines Mädchen, damals noch mit blonden Locken, der Blick fröhlich und unverstellt. Ein breites Lachen im Gesicht, das dem Fotografen gelten konnte oder aber der Situation geschuldet war. Sie hielt eine kleine, rote Schaufel in der Hand, war umgeben von Sand. Das zweite Bild zeigte sie nur wenig älter im Arm ihrer Mutter, schlafend, friedlich. Die Seiten danach waren ihr Leben im Zeitraffer. Das kleine Mädchen, das kaum jemals ernsthaft zu blicken schien. Dann die Bilder ihrer Einschulung. Der erste nachdenkliche Zug um Mund und Augen während sie die viel zu große Schultüte hielt und sich sichtlich unwohl fühlte in dem blauen Kleid und den weißen Kniestrümpfen, die man ihr zur Feier dieses Tages zugemutet hatte. Mehr Fotos. Viele von ihnen mit alten Schulfreunden, die sie längst aus den Augen verloren hatte. Das Lachen verlor sich, oft wirkte sie in sich gekehrt. Viele Bilder zeigten sie über Büchern, Schularbeiten. Stolz hatte ihr Vater ihre Erfolge festgehalten. Erfolge im Tennis, Erfolge in Form von Schulehrungen. Und sie stets irgendwo dazwischen. Sie trug die blonden Locken nun meist streng zurückgebunden und das einzige Bild, auf dem sie noch einmal ungehemmt zu lachen schien war ein Sommerbild, das sie und Freundinnen zeigte, wie sie im See herumtollten, ein Wasserball zwischen ihnen. Sie blätterte noch einmal zurück, dann langsam vor. Fiel ihr heute zum ersten Mal auf, wie sehr die Heiterkeit der frühen Jugend schon jung einer erwachsenen Ernsthaftigkeit gewichen war? Wem hatte sie es recht machen wollen? Dem Vater? Sich selber? Sie konnte sich an diese Zeit kaum erinnern. Vielleicht, weil es Zeit zum Innehalten nie gegeben hatte. Schule, Tennis, Klavier, Freunde treffen, feste Regeln und Zeiten für alle Mahlzeiten. Wohin war das Mädchen verschwunden, das so hemmungslos offen in alle Kameras gelacht hatte? Wann hatte sie das letzte Mal so gelacht? So sehr sie sich auch bemühte, sie erinnerte sich nur an all die festlichen Anlässe an der Seite ihres Mannes, die ein höfliches aber nicht sehr ehrliches Lachen erforderlich machten. Sie erinnerte sich, wie oft sie gemeinsam vor dem Fernseher saßen, irgendeine Spielshow im Programm und wie sie sich seinem lauten Gelächter anschloss. Nachmittage und Abende mit ihren Freundinnen und lachen aus Höflichkeit. Sie blätterte durch den Rest des Albums und irgendetwas löste sich in ihr. Sie sah mit einem Mal, wer sie gewesen war, wer sie im Gegensatz dazu heute war. Diese Entdeckung schmerzte, rang ihr ein paar Tränen ab, weckte aber auch Zorn. Wo war das Mädchen, das sich irgendwo zwischen Schule, Beruf, Ehe verloren hatte? Und noch wichtiger: wo war das Lachen hin? Sie lief barfuß ins Arbeitszimmer, zog zwei Koffer hervor, die sie und ihren Mann auf Reisen begleitet hatten. Und immer lediglich seine bevorzugten Reiseziele. Teneriffa, Fuerteventura, Frankreich. Wie gerne hätte sie die griechischen Inseln besucht, Kultur in Italien erlebt, fremde Städte bereist, die nicht mehr Touristen als Einheimische zählten. Sie warf wahllos Kleidung in die beiden Koffer. Wäsche, Hosen, Röcke, Jacken, Blusen. Zuoberst kam das Fundstück, das alte Fotoalbum. Die vage Erinnerung an den Menschen, der sie gewesen war, der sie wieder sein wollte. Sie war ihr Leben immer planvoll angegangen und wenn sie eines wusste, dann dass sie jetzt für eine Weile alleine sein musste. Das erste Mal in ihrem Leben für sich um herauszufinden, ob es das kleine Mädchen noch gab, das sie gerade so schmerzlich vermisste. Sie schrieb ihrem Mann einen kurzen Zettel. Die Worte so belanglos wie alles, was sie in der letzten Zeit ausgetauscht hatten. Die Bitte um Respekt vor ihrer Entscheidung, eine Weile alleine zu sein. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe. Sie hatte nur ein Paar. Die restlichen Schuhe waren offiziellen Anlässen angemessen hoch und unbequem. Das Paar, das sie heute Abend getragen hatte, nahm sie mit hinunter, genoss das Gefühl, sich in ihren Turnschuhen beinahe so zu fühlen, als würde sie barfuß laufen. Die Hochhackigen landeten in der Mülltonne vorm Haus. Selten hatte sie sich so frei gefühlt wie in diesem Moment, in dem sie mit zwei Koffern in der Hand ihr altes Leben hinter sich ließ, gespannt auf das Selbst, das sie hinter der nächsten Ecke finden mochte.