Von Eva Fischer

Der Samstag hat die Fußgängerzone der Stadt mit Menschen überflutet. Rechts und links ziehen sich die einschlägigen Einkaufsketten entlang, austauschbar, ob man sich im Norden oder Süden, im Westen oder Osten der Republik befindet, ja sogar europaweit haben sie sich ausgebreitet wie Efeu, den man vergessen hat zurückzuschneiden.

 

Im Augenblick bin ich im Westen, komme aber aus dem Osten. Ich bin 66 Jahre alt und will meine 73 jährige Schwester besuchen, bevor wir uns ganz aus den Augen verlieren. Anfangs haben wir uns noch angerufen, dann Mails geschrieben, die auch immer weniger wurden. Jeder lebt sein eigenes Leben. Wir interessieren uns für Romane und Filme, aber nicht für die nächsten Verwandten, weil wir glauben, sie schon zu kennen.  Dabei waren 7 Jahre Altersunterschied schon von jeher eine Barriere zwischen uns. Ich war 11, als meine Schwester aus dem Haus ging. Also, was weiß ich über sie? Nichts!

 

Bei Starbucks trinken die Samstagsmenschen einen Kaffee. Die Sonne lässt sie vor der Eisdiele haltmachen, wo sie bunte Kugeln auf ihre Hörnchen türmen. Bei Zara suchen sie nach billigen Kleidchen für den nahenden Sommer, also die weiblichen Samstagsmenschen, die männlichen bevorzugen die Schnäppchen für Hifi- Geräte oder wie sie heißen. Ich bin da nicht ganz auf dem Laufenden.  Ich bin als Oldie nur mit Smartphone und Laptop ausgestattet. Ab 60 muss man sich wohl als Oldie bezeichnen. Zum Glück ist der Begriff in der Musikszene positiv besetzt. Daran halte ich mich immer fest. Jetzt erfreue ich mich an dem bunt gemischten Publikum um mich herum. Männer und Frauen, jung und alt, mit und ohne Migrationshintergrund.

 

Auf einmal höre ich ein Lied, das aus einem kleinen Laden kommt. Beides passt nicht hierhin, nicht der Laden, der ohne Verkaufskette auskommt, nicht das Lied auf Französisch.

« Ma mère voici le temps venu d’aller prier pour mon salut. Mathilde est revenue… »

Ich bin vollkommen elektrisiert. Ich kenne Jacques Brel, ich meine, seine Chansons. Ich liebe ihn, auch wenn er schon längst tot ist. Im Übrigen heiße ich Mathilde. Das haben meine Eltern  gut hingekriegt. Zumindest nach diesem Chanson habe ich mich vollkommen mit meinem Namen versöhnt. Gern wäre ich die Femme fatale gewesen, von der Brel erzählt.

« Amis ne comptez plus sur moi. Je crache au ciel encore une fois « , gefiel mir immer besonders.

 

Ich betrete das Innere des Ladens, wo die Sonnenstrahlen keinen Zutritt haben. Ich fühle mich wie auf Madame Claires Flohmarkt aus dem gleichnamigen Film. Auch hier gibt es alles: Kleinmöbel, Kleidung, Schmuck, Spielzeug, Kuriositäten, im sparsamen Licht liebevoll drapiert. Eine elegante Dame in den Fünfzigern ist die Herrin dieses aus der Zeit gefallenen Reiches. Sie lächelt mir freundlich zu, lässt mir Zeit für mein kindliches Staunen. Alles muss ich berühren, betasten, auf der Haut spüren.

„Ein schönes Lied“, sage ich und drehe mich zu ihr um.

« Ma mère arrête tes prières. Ton Jacques retourne en enfer », ertönt es.

« Ich habe nur schöne Musik, Madame.“

„Und wunderschöne Dinge!“

„Das auch.“

Wir schauen uns an wie zwei Verbündete.

„Ich suche nach einer kurzen Perlenkette. Haben Sie so etwas?“, frage ich nach einer Weile.

„Einen Augenblick, Madame.“

Sie verschwindet hinter einer Tür und ich schaue mich weiter um.

Als sie wiederkommt, hat sie eine Perlenkette in der Hand. Ich bin fasziniert. Sie ist schöner, als ich sie mir je vorgestellt habe.

„Darf ich sie Ihnen umlegen?“

Ich nicke und spüre alsbald ihre Hand an meiner Haut.

„Sie müssen unbedingt ans Licht gehen. Dann werden Sie die Perlen so richtig funkeln sehen“, sagt sie.

Sie hat nicht zu viel versprochen. Wie viel wird sie dafür haben wollen, frage ich mich.

„Die Kette sieht ganz reizend an Ihnen aus“, sagt sie.

„Ich lasse sie Ihnen für 10 Euro.“

Ich kann mein Staunen nicht verhehlen.

„Ich habe sie gefunden, aber ich denke, Sie sind eine würdige Besitzerin. Sie werden die Kette in Ehren halten und immer an mich denken“, zwinkert sie mir zu.

„Ja, das werde ich“, sage ich so feierlich wie bei einem Taufversprechen.

 

Als ich wieder draußen stehe, habe ich das Gefühl, nur ich spiele in diesem Film mit. Die anderen sind alle Statisten. Sie eilen vorbei, ohne meine Perlen zu bemerken. Sie haben keinen Blick für das Wesentliche. Ich denke an Bruno. Ich bin keine 66 Jährige mehr, sondern eine 16 Jährige auf dem Weg zum Abschlussball in der Tanzschule. Die Perlen machen mich jung, lassen mich träumen.

Nein, Perlen trug ich damals nicht, aber ich war wahnsinnig verliebt.

 

Pünktlich zur verabredeten Zeit klingel ich an der Türe meiner Schwester. Puh, 4. Etage! Wie hält das die 73 Jährige nur aus?

„Mathilde!“, ruft sie erfreut. Es klingt zwar nicht so elegant wie bei Brel. Sie betont das E, damit auch jeder weiß, dass es ein deutscher Name ist.

Sie umarmt mich herzlich, so als hätten wir uns gestern noch gesehen und nicht das letzte Mal vor 10 Jahren bei der Beerdigung unseres Vaters.

„Hallo, Moni! Gut siehst du aus“, gebe ich die Freundlichkeit zurück.

„Komm rein!“

Sie nimmt mir die Jacke ab und sofort bleibt ihr Blick bei der Perlenkette hängen.

„Wo hast du die her?“

Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen.

„Die habe ich heute Nachmittag in eurer Stadt gekauft“, sage ich, nicht ahnend, dass die Temperatur zwischen uns gerade mindestens um 10 Grad gefallen ist.

„Das ist meine. Ich erkenne es an den zwei Brillanten vorne.“

„Wieso deine?“ stottere ich hilflos.

„Peter hat sie mir zur Verlobung geschenkt. Aber dann habe ich die Kette verloren. Ich war damals todunglücklich.“

Zum Beweis sehe ich tatsächlich Tränen in ihren Augen.

„Sollte ich den Peter kennen?“, frage ich ratlos.

„Nun stelle dich nicht dümmer, als du bist. Oder hast du Alzheimer!“, pflaumt mich meine Schwester an.

Vage kommt eine Erinnerung zurück. Ich war 13, meine Schwester 20. Sie sollte heiraten und ich hatte mich schon auf ein schickes Kleid gefreut, aber dann fand die Hochzeit aus irgendeinem Grunde nicht statt.

„Diese Kette war das Erbstück von Peters Mutter und er war stinkesauer, als er erfuhr, dass ich die Kette verloren hatte. Wir haben uns gestritten und er hat wenige Wochen später die Verlobung gelöst.“

Die Stimme meiner Schwester wird schrill und jetzt kullern tatsächlich Tränen über die Wangen.

„Wie lange ist das jetzt schon her?“, seufze ich und denke, dass dieser Peter doch offensichtlich nicht heiratstauglich war.

„Wie lange ist das jetzt schon her?“ äfft sie mich nach.

„Du hast damals mein Glück zerstört“, kreischt sie.

„Aber Moni, ich wohnte damals zu Hause und du warst schon ausgezogen. Wie sollte ich an deine Kette gekommen sein? Ganz abgesehen davon, dass ich sie heute Nachmittag gekauft habe, wie ich dir schon erzählt habe.“

Ich versuche beschwichtigend einen Arm um ihre Schulter zu legen, den sie sofort abschüttelt.

„Jetzt habe ich dich erwischt, du falsche Schlange!“ fährt sie unbeeindruckt fort und reißt mit voller Wucht an meiner Kette.

Die Perlen kullern auf den Boden. Entsetzt schaue ich ihnen nach, höre, wie sie fast melodiös aufs Parkett aufschlagen.

„Sie waren so schööön!“, jammere ich.

„Ja, das waren sie. Und jetzt gehst du besser wieder.“  Meine Schwester reicht mir meine Jacke. Ihr Blick verrät, dass sie keinerlei Diskussion mehr mit mir wünscht.

Ich steige die Treppe hinunter.

Was weiß ich schon über meine Schwester? Nichts, und ich fürchte, das wird so bleiben.

 

Die Straßen sind grau, als ich die Haustür öffne. Ich mische mich unter die Schatten, die über den Asphalt huschen.

Ich werde den nächsten Zug nehmen, der gen Osten fährt.