Von Brigitte Weirather

Ich muss mich verabschieden.  

Diesmal ist es so weit.

Ich kann das aber nicht.

Sie umarmen, drücken, küssen, ihre Hand halten, nichts davon.

 

Und es wird mir immer leid tun.

 

Wieder einmal überrascht sie mich. Spürt meine Not, als ich gar nicht damit rechne.

„87 Jahre sind nicht wenig“, lächelt sie, „aber nicht 100 wie du es mir versprochen hast“.

„Musst du nicht arbeiten?“

„Ja, müsste ich.“

„Dann geh!“

 

Ich muss heute nicht arbeiten, nicht unbedingt, nichts was sich nicht verschieben ließe. Ich säße gerne an ihrem Bett, möchte mit ihr plaudern, ihr zuhören. Aber auch das kann ich nicht.

Mich erklären. Ihr erklären. Mich ihr erklären.

 

Die alte Geschichte: Keine Nähe zwischen uns. Keine Liebe. Oder zu viel Nähe? Zu viel Liebe? Enttäuschte Hoffnungen,  versäumte Gelegenheiten. Unwiederbringlich.

 

Ich fahre nicht ins Büro, sondern in ihre Wohnung. Lüfte, gieße ihre Blumen. Das wird sie freuen. Die Blumen sind ihr wichtig. Der Kaktus am Fensterbrett hat neue Blüten. Ich mache ein Foto. 

 

Im Kinderzimmer, der Name hat sich weit über die Kindheit hinaus erhalten, stöbere ich in meiner Schatztruhe: Der aufblasbare Plastikfrosch, mein Taschenmesser, mein  selbst gebastelter Ausweis mit Kinderfoto, Nationalität „Indianer“, mein Fremdwörterlexikon, viele Begriffe bunt unterstrichen, ein grün glänzender Stein, und ….mein Tagebuch.

 

Ich blättere, lese, unsere Geschichte: Mutter, Vater, Oskar und ich, unsere Probleme, Missverständnisse, Liebe, Bemühen.

 

Plötzlich weiß ich, wie ich mich ihr erklären kann.

 

Mein Handy. Die Nummer des Hospiz: „Schwester Pia hier, ihre Mutter fragt schon den ganzen Tag nach ihnen. Wir können sie nicht beruhigen….“.

 

Und kurze Zeit später am Bett meiner Mutter: „Weißt du noch, als ich klein war, dass ich geschrieben habe, das Tagebuch….erinnerst Du Dich?“

 

„Natürlich, aber Du wolltest uns nie daran teilhaben lassen, hast ein großes Geheimnis aus deinem Schreiben gemacht.“

 

„Jetzt nicht mehr, ich lese dir daraus vor…..“.

 

Sie liegt, vollkommen entspannt, bunte Bettwäsche, dunkle Haut, dichtes weißes Haar, ausgemergeltes Gesicht. Ich finde sie wunderschön. Wahrscheinlich bin ich total verrückt.

 

Ohne Einleitung fange ich an zu lesen:

 

„Ich heiße Rosalie, aber mein kleiner Bruder Oskar nennt mich Lie. Weil er lange das RRR nicht aussprechen konnte. Und dann, als er es konnte, hatte er sich schon zu sehr daran gewöhnt mich Lie zu rufen, und ich mich daran, dass er mich Lie nennt, dass wir das nicht mehr geändert haben.

Jetzt habe ich zwei Namen. Einer ist nur für Oskar.

 

Ich bin sechs Jahre alt und gehe schon seit einem halben Jahr in die erste Klasse. Ich kann schon lesen und schreiben. Eigentlich habe ich das aber nicht in der Schule gelernt. Aber meine Mama hat vor dem ersten Schultag gemeint, ich soll das den anderen nicht sagen, dass ich schon lesen kann, und schreiben. Auch dem Lehrer nicht. Das macht böses Blut.

 

Ich weiß zwar nicht so genau, was böses Blut ist, und warum Blut böse sein kann, aber ich habe schon verstanden, was Mama mir sagen wollte:

Viele Leute kriegen richtig schlechte Laune, wenn sie sehen, dass man etwas besser macht, als sie. Dann werden sie gemein.

 

Zum Beispiel wegen Oskar. Er ist zwei Jahre jünger als ich und ganz dünn und klein, aber er schwimmt sicher besser als ein Fisch.

Ja vielleicht nicht besser als ein Hai, aber jedenfalls besser als ein Karpfen oder ein Goldfisch.

Und das schon seit er drei Jahre alt ist, und obwohl ihm niemand das Schwimmen beigebracht hat.

Auch ich nicht, obwohl ich ihm sonst alles zeige, und ganz gut auf ihn aufpasse.

Weil die Mama kann das ja nicht, weil von der das Herz ist irgendwie kaputt.

Unser ❤️ schaut nämlich gar nicht so aus, wie ich das im Kindergarten gelernt habe, beim Zeichnen. In echt ist das nämlich ein Muskel, hat der Papa gesagt. Und wenn der krank ist, wie bei der Mama, muss man ihn ganz fest schonen, sonst kann man sterben.

 

Deshalb dürfen wir die Mama auch nicht aufregen, und müssen immer brav sein, und leise. Vielleicht wird das Herz von der Mama dann wieder gesund. Und dann lacht sie mit uns, und geht mit uns schwimmen und, und, und…

 

Aber der Oskar ist ja noch ein kleines Kind. Und der kann das nicht verstehen. Und so ein Kind braucht doch eine Mama. Eine mit der es spielen kann, und wo es auch laut sein darf, und die einen beschützt, wenn der Lehrer ungerecht ist, oder die Lisl und der Toni gemein sind.

 

Weil der Papa kann das auch nicht. Auf den Oskar aufpassen, meine ich. Weil der muss immer arbeiten, und das ganze Geld verdienen. Für unser Essen und so. Und für die Miete. Und und die Schulsachen.

 

Deshalb braucht mich der Oskar ganz dringend. Und er ist ganz froh, dass er mich hat.

 

Manchmal gehe ich mit Oskar ins Schwimmbad, wenn es sehr heiß ist, und man nicht so gut im Hof spielen kann, weil dort kein Schatten ist,  und wir die Mama in der Wohnung allein lassen sollen, weil ihr Herz Ruhe braucht.

 

Oskar ist immer schon sehr müde, wenn wir im Schwimmbad ankommen, obwohl ich die Badetasche mit dem Handtuch und unserem Schwimmzeug trage, und Oskar fast hinter mir her ziehe.

 

Das  Schwimmbad ist nämlich am anderen Ende des Dorfes, ganz weit von unserer Wohnung entfernt. Trotzdem springt Oskar, sobald er seine Badehose anhat, ins tiefe Wasser, wo man nicht stehen kann, und taucht und schwimmt dann,  bis wir wieder heim gehen müssen. Ich glaube er macht sogar Pipi ins Wasser, weil ich muss zwischendurch immer ein paar Mal aufs Klo, und wenn Oskar nicht rausgeht, muss das ganze Pipi ja irgendwo hin.

 

Wenn Oskar lange taucht, und so richtig gut schwimmt, schaut die Mutter vom Toni, die war früher Turnlehrerin, hat Mama gesagt, immer ganz komisch, und sagt dann böse Sachen über unsere Mama.

Zum Beispiel, dass sie nicht versteht, warum Mama uns alleine ins Schwimmbad lässt, und dass sie sich nicht um uns kümmert, und dass Oskar beim Schwimmen gefördert werden müsste.

 

Was natürlich alles Blödsinn ist. Weil unsere Mama kümmert sich sehr gut um uns und wir bekommen das Eintrittsgeld für das Schwimmbad, obwohl wir so wenig Geld haben, und zwei

Jausen Brote mit Extrawurst, die mögen wir am liebsten, und Mama kann ja nichts dafür, dass ihr Herz Ruhe braucht. Und Oskar hat ja mich und er braucht nicht gefördert werden beim Schwimmen, weil er viel besser schwimmt als alle Kinder im Dorf, auch …..“

 

„Ich wusste nicht. dass du das so siehst. Dachte, dass Du mir Vorwürfe machst, weil ich nicht für euch dasein konnte…“, unterbrach mich meine Mutter nachdenklich, leise lächelnd.

 

„Aber bitte, lies doch weiter!“