Von Carina Heinreichsberger

Der Regen strömte unaufhörlich aus den düsteren, beinahe schwarzen Wolken. Er prasselte in nervösem Takt auf die gepflasterten Wege des kleinen Ortes Asmaer. Wusch die Gebäude und Straßen rein. Trieb die Bewohner in Wirtshäuser oder ihre Heime, um vor der eisigen Partnerschaft zwischen Wind und Regen geschützt zu bleiben.

Ein kleines Mädchen namens Linnea hatte es dennoch ins Freie getrieben. Sie kauerte am Straßenrand. Zog die grüne Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht. Ihre Finger faltete sie nach Art der Priester, indem sie die Handflächen aneinanderlegte und die Daumen kreuzte. Mit fest geschlossenen Augen flüsterte sie immer und immer wieder jene Silben, die die Götter anriefen: Ka-mi-mae-ara-su.

So saß sie vor einem winzigen provisorischen Häuschen, dass sie vor wenigen Monaten aus Ästen und Stroh errichtet hatte. Zitterte vor Kälte. Die Hose war trotz Mantel vollkommen durchnässt. Ihre Zehen spürte sie nur noch mit viel Fantasie.

Doch sie ließ sich nicht vom Wetter verscheuchen! Jeden Tag war sie hergekommen, um ihre Bitte vor die Götter zu bringen. Da würde sie wegen dem bisschen Regen nicht aufhören!

Behutsam zog Linnea einen kleinen, rot weiß karierten Beutel aus ihrer Manteltasche hervor. Sie löste den Knoten und platzierte zwei Schälchen unter den winzigen Tempel. In die rote Schale legte sie ein Reisbällchen. In die weiße füllte sie frisches Quellwasser aus ihrer Trinkflasche – denn Alkohol, den man den Göttern normalerweise darbot, konnte sie als Sechsjährige nicht erwerben.

Linnea versicherte sich, dass ihre Gaben vom Regen unberührt blieben, dann faltete sie abermals die Hände und sprach die anrufenden Silben. Schließlich verstummte sie. Doch in Gedanken manifestierte sie eine klare Bitte. Den einzigen Wunsch, den ein kleines Mädchen wie sie haben konnte.

Ihre Lippen zitterten. Aus den Augen versuchten sich Tränen zu befreien – doch Linnea kämpfte tapfer dagegen an. Es gab keinen Grund zur Traurigkeit! Die Götter würden sie erhören. Heute mussten sie sie einfach hören!

Das kleine Herz pochte so stark, dass es ihr in der Brust schmerzte. Mit jedem Schlag fraß sich Angst und Verzweiflung durch die Adern. Zerstörten ihre Konzentration und befleckten die Reinheit ihres Wunsches.

Schluchzend presste Linnea ihre Hände fester zusammen. Versuchte die schneidenden Gefühle aus ihrem Inneren zu verbannen. Ihre Bitte weiter zu manifestieren. Sie strengte sich so sehr an. Doch Linnea war nur ein kleines Mädchen.

Was konnte sie schon ausrichten? Selbst wenn die Götter ihren Wunsch erhörten und sich zeigten, würde das die Welt wirklich verändern?

Nach wenigen Augenblicken brachen die Tränen trotz aller Anstrengung hervor und kullerten die Wangen hinab. Schluchzend löste sie die Hände voneinander, starrte in den Regen und befreite all ihren Schmerz in erstickten Lauten.

Dann wischte sie sich die Tränen mit dem klatschnassen Ärmel aus dem Gesicht und stand auf. Es hatte keinen Sinn weiter zu machen.

Ein letztes Mal blickte sie zu ihrem kleinen Tempel herab. Warum?, hallte es in ihrem Kopf. Warum erhörst du mich nicht?

Dabei hatte Chaia ihr erst letzte Woche erzählt, dass sie es geschafft hatte, einen Gott zu erschaffen! Und das obwohl der Wunsch egoistisch und für die Welt unwichtig war! Außerdem war Chaia um ein ganzes Jahr jünger als Linnea!

War ihr Wunsch etwa nicht wichtig genug? War er vielleicht zu träumerisch? Bestimmt fehlte es ihr einfach an Willenskraft, um einen Gott zu finden. Es genügte einfach nicht, jeden Tag hier her zu schleichen. Dabei lief sie dadurch Gefahr, von irgendwelchen Erwachsenen geschnappt und in ein Heim gesteckt zu werden! Oder gar einem dieser widerlichen, betrunkenen Männer, die mit ihr machten, was sie mit Leila gemacht hatte…

Enttäuscht wandte sich Linnea vom Tempel ab. Sie musste einfach geduldig sein. Weiter Üben. Sie durfte sich von all diesen dunklen Gedanken nicht von ihrem Weg abbringen lassen. Irgendwann würde sie sich genug konzentrieren können. Und dann… DANN würden sie ihren Wunsch hören!

Das Mädchen starrte fest zu Boden. Ihr Schatten wurde von kleinen Hagelkörnern bombardiert. Sie musste schleunigst Unterschlupf suchen, sonst… Der Gedanke entglitt ihr. Schatten? Verwirrt blickte das Mädchen in den Himmel. Dort herrschten noch immer die schwarzen Wolken über den Himmel. Keine Sonne. Woher dann der Schatten?

Linneas Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Körper schien zu Stein erstarrt zu sein. Wenn sie ihren Schatten sehen konnte, befand sich das Licht hinter ihr. Vielleicht jemand mit einer Lampe? Sollte sie laufen? Nein. Wenn sich jemand genähert hätte, hätte sie das gehört!

Vorsichtig wandte sich Linnea um. Was sie dort hinter sich erblickte, ließ ihr die Kinnlade nach unten klappen. Mit geweiteten Augen starrte sie auf ihren kleinen Tempel.

Tränen schossen ihr abermals in die Augen und für einen kurzen Augenblick war die Kälte, die ihren Köper durchzogen hatte, vollkommen verschwunden. Das Prasseln des Regens verstummt. Der Wind verebbt.

Für diesen einen Moment existierte nur sie und das kleine neugeborene Wesen vor ihr.

Linnea strich sich ihre Haarsträhnen hinters Ohr und hockte sich ein weiteres mal vor das unscheinbare Gebäude. Ein handflächengroßer Ballen aus Licht schwebte unter dem provisorischen Dach. Bestrahlte mit seinem kerzenähnlichen Flackern das blonde Stroh in goldenem Schein. Ab und zu entließ die Kugel kleine Fäden an Licht in seine Umgebung, die sich wie Rauch nach und nach auflösten.

Ein Duft, so süß wie ein Feld voller Blumen, lockte Linnea näher heran. Behutsam streckte sie sich dem Wesen entgegen. Formte mit den Händen eine Schale, als wolle sie Wasser schöpfen, und hob die Gottheit zu sich. Sofortige Wärme überzog ihre Fingerspitzen und Hoffnung durchfluteten sie.

Alle Sorgen waren mit einem Mal vertrieben. Die Last auf ihren Schultern verschwunden, als hätte man ihr den Sack voller Ziegelsteine auf ihrem Rücken einfach abgenommen.

Nach einer Weile richtete sich das junge Mädchen wieder auf und eilte aufgeregt in den Schuppen, den sie ihr zu Hause nannte.

„Chaia! Chaia, schau mal!“, rief Linnea ihrer rothaarigen Freundin zu. Begeistert streckte sie ihr, die Gottheit entgegen. Das Mädchen sah angestrengt auf die ausgebreiteten Hände. Kniff die Augen zusammen, und reckte den Kopf.

„Was soll ich da schaue?“, fragte sie. Unsicherheit klang in ihrer Stimme mit. Chaia wurde wegen ihrer Naivität gerne von den Jungs veräppelt. Sie war sich nie sicher, ob man ihr gerade wieder einen Streich spielte oder nicht.

„Na hier! Das was ich in der Hand habe!“, rief Linnea hektisch. Chaia näherte sich bis auf Haaresbreite ihren Händen. Ihre Augen waren immer noch zusammengekniffen. Dann blickte sie böse nach oben.

„Jetzt fang nicht du auch noch so an!“, keifte sie, und wandte sich ab.

Linnea verharrte an Ort und Stelle und blickte ihrer Freundin hinterher.

Sie hat nicht denselben Wunsch wie du. Daher kann sie mich nicht sehen.

Die sanfte Stimme ertönte von keiner bestimmten Richtung. Es klang mehr so, als ob sich die Stimme in ihr befand! Sofort schnellte Linneas Blick zu der Gottheit in ihren Händen. Das Licht tänzelte immer noch wie eine Kerzenflamme hin und her. Die Wärme umhüllte ihre Finger und hatte sich mittlerweile bis zu ihren Unterarmen ausgebreitet.

Stumm stieg das Mädchen die Treppen zum alten Heuboden hinauf, wo sich ihr kleines Zimmer befand. Dieses war lediglich durch Stoffbahnen, die über die Holzstreben des Daches geworfen worden waren, von den Zimmern der anderen Kinder abgetrennt. Am Boden langen mehrere Decken, die ihr Bett darstellten und ein Buch – ihr ganzer Stolz. Denn damit würde sie ganz bestimmt Lesen lernen und zu einer gebildeten Frau heranwachsen!

Linnea vergrub sich unter den Decken und setzte den Gott ab. Dann legte sie sich auf den Bauch und streckte ihr Gesicht in das orangefarbene Licht. Sie genoss für eine Weile die Energie, die von dem Ballen ausging, dann sprach sie: „Ich baue dir einen richtigen Tempel. Dann können alle Menschen, die meinen Wunsch teilen, zu dir kommen. So wirst du super stark und kannst unseren Wunsch erfüllen!“

 

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