Von Marion Redherr

Die Märzsonne zaubert ihr sanftes Licht auf den milchigen Schleier des S-Bahnfensters, in dem Birgit die Schemen ihres Profils während ihres Blicks auf die langsam erwachende Natur beiläufig wahrnimmt. Ihr glänzendes, leicht fettiges, dunkles Haar kitzelt ihre Gesichtshaut, auf der sich einige Komedonen entfaltet haben. Nervös kaut sie an ihrer Unterlippe: Hatte sie die Abschlussprüfung zur Rechtsanwaltsfachangestellten bestanden oder nicht?!

Ändern lässt sich ohnehin nichts mehr. Die Vierzigjährige, die in ihrem früheren Leben Archäologie mit den Nebenfächern Volkskunde und Klassische Philologie studierte, grübelt über ihrem beruflichen Wendemanöver. Noch immer sitzt ihr das Prüfungsadrenalin in den Adern, und sie bangt und hofft gleichzeitig. Letztlich versucht sie sich von den unangenehmen Gefühlen zu befreien und sehnt den Haltepunkt herbei. Aussteigen und genüsslich eine rauchen, nimmt sie in den Fokus. Kleine Ziele, kleine Schritte, aufatmen und anhalten, den Augenblick Zukunft werden lassen! 

Das metallische Schrillen der Bremsen kündigt den nahen Stopp an. Aber was entdeckt Birgit geradeaus auf der verwaisten Sitzbank am Ende des fast leeren Zugabteils?

Die Reisende dreht sich unsicher um, sollte sie doch niemand beobachten! Dann schreitet sie langsam auf den Ausgang zu und ergreift vorsichtig, dennoch wie automatisch die erspähte, zusammengerollte Matte, die sich im ersten Moment etwas klebrig in ihren Händen anfühlt. 

Die Zugtüren springen sogleich auf.

Soll sie oder soll sie nicht? Zweifelnd, mit einer Mischung aus Zaghaftigkeit und Entschlossenheit packt Birgit die seelenlose Rolle, die außen von grausilbriger Farbe ist, aber im Inneren ein liebliches Apricot freigibt. Circa vier Millimeter wird die hübsche Matte dick sein. Mit einem Satz verlässt die Frau den Wagen, und da sich die Türen hinter ihr unwiederbringlich schließen, entfällt die Chance auf ein Zurück. 

„Bin ich nun eine Diebin, stehle ich etwas?“, horcht sie in sich hinein. Hat ihre Gier sie überwältigt? Nein, es handelt sich doch um ein Fundstück, das auf diese Weise sicherlich nie wieder an seine Besitzerin oder seinen Besitzer gelange, wenn sich Birgit dessen nicht erbarme. Um ihr Gewissen zu beruhigen, interpretiert die Akademikerin ihr Tun als Gutes, als fürsorglichen Dienst am Nächsten, aber wer ist das genau?

Während die Bahn aus ihrem Blickfeld entschwindet, löst sie behutsam die schwarze Schleife aus einer Art Schuhband, welches die Matte bändigt. 

Eine dekorative Yogamatte entrollt sich aus den Händen der angehenden Rechtsanwaltsfachangestellten. Deutlich zu lesen ist mit weißer Schrift auf der dunklen Seite der Namenszug Adam Lurcht. Nochmals dreht sich Birgit suchend um, sich ganz der Verborgenheit ihres Handelns versichernd. Außer ihr befindet sich kein Mensch an diesem ruhigen Sonntagnachmittag auf dem Bahnsteig des kleinen Ortes, in dem Birgit, die selbst Yoga praktiziert, lebt.

Mit einer Mischung aus Stolz und Scham begutachtet sie ihren Fang, bis doch das positive Gefühl Oberhand gewinnt und ihr ein Lächeln in das blasse Wintergesicht zeichnet.

Sodann rollt sie die neue Errungenschaft wieder auf und verschnürt diese wie gehabt. Mit erschreckend reueloser Zufriedenheit gräbt sie in ihrer Anoraktasche nach der angebrochenen Zigarettenschachtel und steckt sich genüsslich eine an, die sie auf ihrem beschwingten Nachhauseweg begleitet.

Ist diese komfortable Yogamatte sozusagen ein göttliches Zeichen, eine Art Belohnung für die Prüfungsstrapazen? Oder handelt es sich um eine Prüfung ganz anderer Natur?

Bei Jakobus 1,14 steht zum Beispiel: Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird. 

Die letzten Gedanken verdrängt Birgit, schließlich ist Sonntag und somit ein Tag frei von allem Gram! Sie tue außerdem nichts Widerrechtliches, nehme sie doch nur etwas für einen anderen fiduziarisch in Obhut, glaubt sie.

Eine neue Woche beginnt, und just an diesem Montagabend steht die Yogastunde bei Taruna Schmidt auf Birgits Programm. Soll sie oder soll sie nicht? Birgit überlegt, ob sie das Fundstück testen soll. „Na klar nehme ich die mit!“, entschließt sie sich dann und legt die Matte in den Fahrradkorb ihres Rades.

Bei Betreten der Übungshalle in ihrem Sportverein sind fast alle Yogis bereits anwesend. Eine Lücke zwischen den Matten der anderen Teilnehmenden tut sich auf, in die Birgit mit ihrem Equipment schlüpft und sich ebenfalls ausbreitet. Der zarte Apricot-Ton der Oberseite vermittelt die nötige Wärme, der Birgit dringend bedürftig ist. 

Nach einer dezenten Begrüßung von Taruna lässt sie sich auf der neuen Matte ungefähr in der Raummitte zwischen den anderen nieder.

„Bilde ich mir das nur ein?“ Die bohrenden Blicke der anderen meint sie wie Nadelstiche auf der Haut zu spüren. Auch gewinnt Birgit den Eindruck, als würde ihre Yogaunterlage nach etwas Scharfem riechen, etwa nach Knoblauch oder ähnlich. Ein weißlicher Krümel lässt sie spontan an Schuppen denken. Haftet etwa sein Schweiß noch an der Oberfläche seiner Matte? Hat er gegelte Haare gehabt, als er darauf Yoga übte? Unangenehme Gedanken keimen in Birgit auf und versetzen sie in eine eigenartige Unruhe, von der sie befürchtet, dass diese auch von den anderen nicht unbemerkt bleibe. 

Als sie sich noch einmal kurz vor Beginn der eigentlichen Yogaeinheit von der Rückenlage auf den Bauch dreht, wähnt sie sich Auge in Auge mit einem möglichen Zahnreihenabdruck. „Hatte dieser Adam sogar in die Matte gebissen oder war so unglücklich gestürzt, dass seine Zähne unweigerlich diese Spur hinterließen?“, denkt Birgit aufgeregt. Nach einer Weile kann sie sich auch der Mutmaßung nicht erwehren, dass ihr weicher Untergrund möglicherweise dem Zweck von Liebesspielen diente. Oh, wie konnte sie nur diese Matte mitgenommen haben?! Am liebsten würde sie sich augenblicklich in Luft auflösen. Sie ringt mit ihrer Kontenance. 

Als die Yogalehrerin Taruna mit der Begrüßung starten will – wie immer mit der demutsvollen Geste des Anjali Mudras –, springt plötzlich die Tür auf. Ein Mann mit einer grellgrünen Yogamatte unter einem Arm tritt ein, dessen massiger Body eine rote, knielange Hose sowie ein rotes Muskelshirt bedecken. Ein strenger Schweiß- und Knoblauchgeruch dringen sogleich mit in den Raum.

„Hallo“, schallt es von Taruna.

„Hallo, ich bin Adam! Darf ich hier mitmachen?“, fragt der Ankömmling, ein wenig plump wirkend.

„Aber selbstverständlich!“, erwidert die Yogalehrerin und weist Adam einen Platz gegenüber von Birgit zu.

„Hast Du bereits Yoga-Erfahrung?“, will Taruna noch erkunden.

„Ja, mittlerweile blicke ich auf einige Jahre des Übens zurück. Weil ich umzog, verließ ich mein altes Yoga-Studio. Jetzt bin ich gespannt auf Neues!“ Adam grinst, während die Schweißabsonderungen auf seinem kahl geschorenen Kopf ölig glänzen.

Obwohl sich Birgit nicht daran erinnern kann, bereits von Wechseljahresbeschwerden geplagt zu werden, steigt plötzlich eine seltsame, sie hibbelig machende Hitze in ihr auf. 

„Adam heißt er, soso! Ist das Zufall oder der Adam?“, rätselt Birgit nach Luft schnappend. Verlegen lächelt sie diesen Adam an, der dieses sofort widerspiegelt.

„Seine grüne Matte sieht wie neu aus. Ob ihm vielleicht die Alte abhandenkam, und er sich deshalb nach etwas Neuem umsehen musste?“, schießt es der angehenden Rechtsanwaltsfachangestellten in den Sinn. Schuldbewusst mustert sie ihre Bodenauflage – ihre Talgdrüsen schütten eine Extraportion fettiges Sekret aus. Als sie von Taruna ermahnt wird, ihren Anweisungen konzentrierter Folge zu leisten, verlässt Birgit panisch mit samt ihren Siebensachen den Übungsraum. Das hämmernde Pochen ihres Herzens spürt sie bis in die äußersten Zehenspitzen ihrer bloßen Füße. Im Sauseschritt jagt sie die kalten Steinstufen des Sportzentrums herab, um erst im Freien – trotz jahreszeitlich bedingter Kälte – das Anziehen ihrer Straßenkleidung vorzunehmen.

 „Ist dieser Adam etwa der … ?“, sinniert sie fassungslos. Völlig durcheinander radelt die Yogaschülerin heimwärts, um sich in ihrer Wohnung zu vergraben und erst mal Abstand zu gewinnen von all dem.

Nach einer Tasse Baldrianwurzeltee lichtet sich allmählich Birgits Kopfchaos. Entschlossen schaltet sie den Computer ein. Sie googelt den Namen Adam Lurcht und wird fündig.

Das System spuckt einen Adam Lurcht aus, der in einem der besseren Stadtviertel wohnhaft ist. Noch an diesem nicht mehr ganz jungen Abend sattelt Birgit ihr Fahrrad erneut, deponiert darauf die besagte Yogamatte und hetzt zu der im Internet angegebenen Adresse. Atemlos bremst sie vor einer Villa im vornehmen Stadtteil. Konfus eilt sie durch den wohlgestalteten Vorgarten und drückt hastig den Klingelknopf mit der Aufschrift Lurcht. Sie läutet Sturm, bemerkt dies aber kaum.

Zögerlich öffnet ein nur dürftig mit einer gräulich verfärbten, weißen langen Feinrippunterhose und einem hellblauen Oberhemd bekleideter, korpulenter Mann so um die Fünfzig. Dessen frappierende Ähnlichkeit mit dem Adam aus der Yogastunde schockiert Birgit sichtlich. „Hier!“, platzt die Vierzigjährige stotternd heraus und hält dem Fremden waagerecht die Breitseite der eingerollten Matte entgegen, als wolle sie einem Hund eine Maulsperre verpassen.

„Oh, danke! Vielen, vielen Dank! Wo habe ich das gute Stück vergessen, helfen Sie mir bitte mal?“, reagiert der Mann zugleich verdutzt und erfreut, mit einer Freude, in der Birgit ein Quäntchen Ironie zu erkennen meint.

„In der Bahn!“, hechelt sie und setzt im Stakkato nach: „Am Sonntag! Ich bin schuld!“

„Wie kann ich mich erkenntlich zeigen? Von Schuld kann dabei doch keine Rede sein!“, erwidert der Eigentümer der Matte charmant. 

„Gar nicht!“, donnert die Finderin.

Als Birgit sich gerade umdrehen und weglaufen will, bittet Adam Lurcht sie herein. Dann sagt er kurz und bündig: „Ich bin Anwalt! Eine so ehrliche Mitarbeiterin wie Sie würde noch gut in meine Kanzlei passen!“ 

Knoblauchgeruch in Verbindung mit einem Hauch Salami schwängert die Korridorluft. 

 

© 24.06.2019 Marion Redherr