Von Franck Sezelli

Es ist nun schon ein Jahr her, dass meine Frau mich verlassen hat. Vor etwa einem halben Jahr begann ich, mich von diesem schweren Schlag zu erholen, mich wieder auf mich zu besinnen und das Leben neu zu ordnen.

In dieser Zeit fand ich in einem Kellerschrank auch die Radierung wieder. Aus der zu groß gewordenen Wohnung musste ich vernünftigerweise ausziehen. Deshalb durchstöberte ich den ganzen verbliebenen Hausrat und hatte plötzlich die Mappe mit dieser Aktzeichnung in der Hand.

Damit wurde die Erinnerung wieder lebendig. Ich konnte es kaum glauben: Der dort dargestellte Jüngling war ich! Allerdings ist seit jenem Sommer viel Wasser den Rhein hinabgeflossen. Auf dem großen Blatt sah ich einen selbstbewussten jungen Mann stehen in seiner ganzen männlichen Pracht und Potenz. Eva hatte mich so zeichnen wollen und anschließend daraus die Radierung gefertigt.

In der ersten Zeit unserer Ehe hing diese ungewöhnliche erotische Darstellung, die zweifellos nicht für die allgemeine Öffentlichkeit bestimmt war, im gemeinsamen Schlafzimmer. Bis meine Frau dann bei der Neueinrichtung des  Zimmers meinte, dass das Bild nicht so recht zu den modernen Möbeln passe.

Das Kunstwerk, das mir Eva zum Ende des Sommers geschenkt hatte, ist mir geblieben – und mit ihm die Erinnerung an eine wunderbare Zeit. Den Sommer nach dem Abitur verbrachte ich in der Toskana. Eine Gemeinschaft deutscher und österreichischer Maler und Bildhauer nutzte ein etwas abseits vom nächsten Dorf gelegenes Gelände mit mehreren Ateliers für ihre kreative Arbeit. Sie hatten sich für den Sommer künstlerisch interessierte junge Leute eingeladen, die für sie Modell standen und denen sie manche künstlerische Technik beibrachten. Einer der Glücklichen, die dieses Praktikum in der Künstlerkolonie erleben durften, war ich.

In unserer jugendlichen Unbekümmertheit gewöhnten wir uns schnell an das freizügige Leben der Maler und Bildhauer und verbrachten die Sommertage und -nächte unter dem toskanischen Himmel fast immer nackt. Eines Tages kam dann die Malerin Eva mit dieser doch recht ausgefallenen Bitte zu mir. Natürlich habe ich zunächst abgelehnt, mich dann aber doch überreden lassen. Eva verstand es, mein männliches Ego zu kitzeln und meine jugendliche Naivität geschickt auszunutzen.

Auf dem Bild sieht man nur den stolzen Jüngling, zu dem mich vor allem Eva mit ihren Komplimenten gemacht hatte. Ich aber weiß, dass da noch mehr war. An dem Erfolg der Session, in der die Skizze entstanden ist, hat noch jemand anderes großen Anteil. Vielleicht ahnte meine Ex das auch und hat das Bild schließlich deshalb verbannt?

Eva hatte Franziska gebeten, sie darin zu unterstützen, dass die von ihr gewünschte Pose lange Bestand hatte. Es war ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ich stehenblieb. Das fiel meiner Sommerliebe dank ihrer vollkommenen Figur und raffinierter weiblicher Verführungskunst nicht schwer. Ihr umwerfendes Lächeln verstand ich richtig als ein erregendes Versprechen.

Und so sehe ich auch heute beim Betrachten des Bildes vor meinem inneren Auge nicht so sehr Eva an der Staffelei, sondern Franziska in ihrer jugendlichen weiblichen Schönheit. Leider verloren wir uns nach dem Sommer schnell aus den Augen. Wir kamen aus verschiedenen Städten und im Studium lernte ich schnell andere Mädchen kennen mit gemeinsamen Interessen und übereinstimmender Freizeitgestaltung.

 

In der neuen kleinen Junggesellenwohnung verfüge ich nur über zwei Räume, einen kleinen zum Schlafen und den Wohnraum  mit einer bequemen großen Couch, einer Essecke und der Küchenzeile. Die Radierung von Eva habe ich wie damals in meiner Studentenbude in einer Ecke mit schwacher Ausleuchtung angebracht. So wirkt sie zwar wie versteckt, ist aber doch einsehbar. Seinerzeit konnte ich manche Besucherinnen mit dem Bild ködern. Bei der Frage nach dem Modell des Jünglings hielt ich mich immer geheimnisvoll bedeckt, was dazu führte, das die Fragestellerin es nun erst recht genau wissen wollte.

Gestern nun hatte ich mich mit einer neuen Internetbekanntschaft verabredet. Sandra ließ sich von mir auch meine kleine Wohnung zeigen. Ich beobachtete, wie sie sich im Zimmer umsah und dabei auch den männlichen Akt entdeckte. Sie schaute zu mir herüber, erkannte offenbar die immer noch vorhandene Ähnlichkeit und lächelte, sagte aber nichts dazu. Stattdessen fragte sie: »Hast du eigentlich auch ein Bett zum Schlafen?«

Ich ging mit ihr ins Nachbarzimmer und zeigte es ihr gern.

 

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