Von Renate Müller

Da lag sie. In der Sandkuhle. Irgendjemand musste auf sie getreten sein, ohne es zu merken, denn sie war tief im Sand vergraben und kaum zu sehen. Aber er sah sie.

Er blickte sich um. Am Ausgang des Spielplatzes ging eine Gruppe Kinder, 3 Jungen und ein Mädchen, er hatte sie vorhin hier im Sandkasten beobachtet. Beim Spielen. Hinzugehen hatte er sich nicht getraut. Er kannte sie nicht, hatte sie nur jeden Tag von weitem beobachtet. Beim Spielen. Immer nur von weitem. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie ihre Murmeln über den Sand trieben, lachten und sich nie stritten. Sie mussten gute Freunde sein.

Er hatte keine Freunde, hier nicht. Hier war er fremd, und allein. Auf dem Spielplatz nahm ihn niemand zur Kenntnis, er saß jeden Tag am Rand auf der Querstange des Zauns, baumelte mit den Beinen und schaute den anderen Kindern zu. Den Kleinen, die von ihren Mamas auf die Schaukeln oder die Wippe gesetzt wurden, den Größeren, die alleine kamen oder zu zweit, einen Ball oder eine Schaufel für den Sandkasten mitbrachten und sie, die 4, die so gute Freunde zu sein schienen.

Auch sie kamen jeden Tag, immer um die gleiche Zeit, immer zusammen. Es erstaunte ihn, dass die drei Jungen das Mädchen offensichtlich anstandslos akzeptierten. Sie behandelten sie wie einen anderen Jungen. Sie war aber auch kein typisches Mädchen, nicht so, wie er sich Mädchen normalerweise vorstellte, zickig,  eingebildet, voller Angst, sich dreckig zu machen. Sie trug immer Hosen, die aussahen, als wären sie vor Jahren zum letzten Mal gewaschen worden, hatte vor nichts Angst, schaukelte von allen am höchsten und kletterte in der Kletterwand ohne anzuhalten bis nach oben und lachte die Jungs dann aus, weil diese immer noch an den ersten Sprossen hingen. Aber die nahmen ihr das alles nicht übel, für die 3 Jungen schien das alles ganz normal zu sein. Und dann beim Murmelspiel – sie gewann fast immer. Er sah es, wenn sie zielte und ihr Schuss saß. Jeden Tag nahm sie mehr Murmeln mit nach Hause als sie mitgebracht hatte. Der Vorrat der Jungen, die mit ihr spielten, schien unerschöpflich, immer brachten sie neue Murmeln mit zum Spielplatz, sie wurden dieses Spiels nie überdrüssig. Die Vier waren jeden Tag so in ihr Spiel vertieft, sie nahmen keines der anderen Kinder auf dem Platz wahr, sie waren sich selbst genug, sie brauchten kein anderes Kind.

Und weil er dies spürte, saß er jeden Tag wieder auf der Stange und sah ihnen zu. Er näherte sich ihnen nie, er sprach sie nicht an und er bat nie darum, mitspielen zu dürfen. Wie sollte er auch, er hatte keine Murmeln.

Bis jetzt. Jetzt hatte er die rote Murmel gefunden, die jemand in den Sand getreten haben musste, so dass die Vier sie beim Gehen übersehen und vergessen hatten. Es war eine große Murmel, dunkelrot, schillernd. Er grub sie aus dem Sand, rieb sie zwischen seinen Händen bis sie wieder blank war. Sie funkelte in der Sonne. Wenn er sie gegen das Licht hielt, sah er in ihrem Innern Wellen in verschiedenen Rottönen, in denen sich das Sonnenlicht brach.

Er drehte sie in den Händen, rieb sie an seiner Hose noch blanker, hielt sie fest in der Faust. Sie war ganz warm und wurde in seiner Hand immer wärmer. Er nahm sie von der rechten in die linke Hand, steckte sie in die Hosentasche, holte sie wieder heraus und drehte sie wieder im Licht. Inzwischen war er ganz allein auf dem Spielplatz. Alle waren fort, nach Hause, obwohl es noch nicht spät war. Auch die Vier waren nicht mehr zu sehen.

Er würde die Murmel mitnehmen. Dann hatte er auch eine, dann konnte er mitspielen. Sie konnten nie beweisen, dass es ihre Murmel gewesen war. Er würde das einfach abstreiten. Morgen würde er mitspielen können, jetzt hatte er auch eine Murmel. Sein Herz schlug schneller, allein der Gedanke, die anderen am nächsten Tag anzusprechen, sie zu fragen, ob er mitspielen dürfe, raubte ihm den Atem. Er stellte sich vor, er ginge einfach auf sie zu, ganz locker, so wie sie immer lief, den Kopf hoch erhoben, sie zeigte niemals Angst. Er würde ihnen nicht zeigen, dass er Angst hatte, Angst, sie würden ihn nicht mitspielen lassen. Er stellte sich vor, wie er sie ansprechen würde, ohne ein Beben in der Stimme, lässig, so als wäre es ihm egal, ob sie ihn in ihre Runde aufnehmen würden. Denn das war es, was er wollte, wovon er nun schon seit Wochen träumte, jeden Tag. Er wollte dazugehören. Nicht zu irgendwem, nicht zu einem der anderen Kinder, die immer auf den Spielplatz kamen. Er wollte zu ihnen gehören, zu den drei Jungen und dem Mädchen, deren Namen er noch nicht einmal kannte. Vor allem zu ihr wollte er gehören. Und jetzt hatte er endlich eine Murmel, eine Eintrittskarte zu ihrer Gruppe.

Er hielt die Murmel hoch vor sein Gesicht und ließ sie erneut im Sonnenlicht blitzen, die Strahlen brachen sich auf der glänzenden Oberfläche.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, am Rand des Spielplatzes näherte sich jemand. Sie. Sie ging langsam und blickte nach unten, hin und her den ganzen Weg entlang. Als suchte sie etwas. Er steckte die Hand, die die Murmel hielt, tief in die Hosentasche. Natürlich, sie hatte gemerkt, dass eine Murmel fehlte, sicher war das die schönste Murmel von allen, das fiel auf, wenn sie fehlte. Auch wenn man so viele Murmeln hatte wie sie.

Er rührte sich nicht vom Fleck, stand immer noch neben dem Sandkasten, dort wo sie ihre Kuhle für ihr Spiel gemacht hatten. Hier würde sie natürlich auch suchen, hierhin musste sie auch kommen. Es schnürte ihm die Kehle zu, die Hand in der Tasche, die Hand mit der Murmel wurde schweißfeucht. Er würde die Murmel nicht hergeben, einfach behaupten, nichts von ihr zu wissen. Er atmete schwer, seine Knie fühlten sich an wie Pudding. Sie war fast herangekommen, blickte immer noch nicht auf, sondern stur nach unten. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, er musste sich räuspern, sein Hals war rau und trocken.

Da sah sie auf, das Räuspern hatte sie abgelenkt. Sie sah ihm offen ins Gesicht und lächelte. Tatsächlich, sie lächelte ihn an. Er atmete überhaupt nicht mehr, sein Herz schlug bis zum Hals. Er zog seine Hand aus der Hosentasche, streckte sie ihr entgegen und öffnete seine Faust. Da lag die Murmel, er hielt sie ihr wortlos entgegen.

Sie blickte auf seine Hand, sah ihn an und meinte: „Was für eine schöne Murmel du hast. Willst du nicht morgen mal mit uns mitspielen? Sag mal, hast du einen Schlüssel gesehen, ich habe meinen Hausschlüssel verloren und komme zu Hause nicht rein. Meine Mutter dreht durch, wenn sie nach Hause kommt und ich vor der Türe warte. Das ist schon das dritte Mal in diesem Monat, dass ich unseren Schlüssel verloren habe.“

Sein Hals war völlig ausgetrocknet, er würde nie wieder ein Wort herausbringen. Er schluckte und räusperte sich erneut, aber er brachte nur ein Krächzen hervor.

Sie sprach schon weiter: „Hilfst du mir suchen? Oder musst du nach Hause?“ Er schüttelte den Kopf und nickte. Dann nickte er und schüttelte den Kopf. Bevor sie ihn noch etwas fragen konnte, worauf er hätte wieder nicht antworten können, drehte er sich um, wandte seinen Blick zur Erde und begann, nach ihrem Schlüssel zu suchen. Sie blickte ihn an, zuckte mit den Schultern und setzte ihre Suche ebenfalls fort. Sie gingen nebeneinander, dicht nebeneinander, Seite an Seite durchkämmten sie den ganzen Spielplatz, sprachen dabei kein Wort. Aber es war ein gutes Schweigen, er fühlte sich wohl dabei, sein Herz schlug wieder in einem vernünftigen Rhythmus und der Schweiß auf seiner Stirn trocknete. Die Murmel hielt er dabei immer noch fest in seiner Hand. Die Rote Murmel. Seine Glücksmurmel.

 

Er nimmt sie vom Regal, wo sie all die Jahre gelegen hat. Unbeachtet, aber nicht vergessen. Ganz staubig ist sie. Er reibt sie zwischen seinen Händen bis sie wieder blank ist. Sie funkelt im Lampenschein. Wenn er sie gegen das Licht hält, sieht er in ihrem Innern Wellen in verschiedenen Rottönen, in denen sich das Lampenlicht bricht.

Seine Hände zittern. Wie damals. Morgen wird er sie ihr zurückgeben. Seine Murmel, die ihm so viel Glück, soviel unverdientes Glück in seinem Leben beschert hat. Er wird sie ihr mit ins Grab legen, als Dank für über 50 unendlich glückliche Jahre. Seine Beine sind wie Pudding, sein Hals ist rau und sein Atem geht schwer. Er setzt sich in seinen Sessel und vermeidet den Blick auf ihren Platz gegenüber, wo sie die letzten Jahre gesessen und mit ihm geredet, gelacht und geschwiegen hat. Er ist allein. Wieder allein. Sein Mund ist trocken und er schluckt. Er hält die Murmel ganz fest, seine Glücksmurmel. Sein Herz schlägt heftig. Er schließt die Augen, es schnürt ihm die Kehle zu. Die Hand, die die Murmel umklammert, wird schweißnass. Sein Atem rasselt, der Puls rast. Er sieht sie vor sich, damals auf dem Spielplatz.

Die Murmel fällt ihm aus der Hand und rollt über den Boden. Unter ihrem Sessel bleibt sie liegen.