Sina Al Omaeri

Die Kälte nahm ich nicht wirklich wahr. Ich rannte einfach, so schnell ich konnte, ohne auf den Regen zu achten, meine Haare schleuderten durch die Gegend und mein schwarzes T-Shirt klebte dank dem Regen an meinem Körper wie eine nervige alte zweite Haut. Ich rannte über die Straße, ignorierte die Rufe und Hupen von Menschen und Autos.

 

Ein leises Schluchzen verließ meine Kehle. Unsere Streitigkeiten, die mit der Zeit immer öfter wurden, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Es waren so viele und sie wurden immer schlimmer bis er.. Nein. Ich will nicht wieder zusammenbrechen. VERDAMMT WIE KONNTE DAS PASSIEREN? Was ist bloß aus uns geworden? „Angel verdammt nochmal verpiss dich!“, hörte ich sein Gebrüll im Kopf. „Ich hasse dich! Du bist nie da, wenn ich dich brauche! Du machst mich krank mit deinem Badboy Scheiß!“ Ich meinte es nicht so.. Du bist doch mein Bruder.

 

Ich rannte weiter und fing an mehr und lauter zu Schluchten. „DANN VERSCHWINDE. Ich brauche weder dich noch jemanden anderen!“, das meintest du nicht so das weiß ich. Mir stieg noch eine Erinnerung hoch, wo er verheult mit mir auf meinem Bett saß und schluchzte: „Lass mich nie alleine.. Bitte tu mir das nie wieder an!“ „Wenn du dich mir in der Schule noch einmal näherst, wirst du mehr als nur blaue Flecke haben“, knurrte er mir gefährlich ins Ohr und drückte meinen Arm. Es wurde mir zu viel und vor meinen Augen kamen noch mehr Situationen mit ihm zur Vorschau.

 

Gute und schlechte. „Woher hast du diese scheiße?! Nathan rede doch mit mir!“ „Angelina verschließ dich nicht! Sei stark. Ich bin immer für dich da.“ „Woher kommen die Flecke? Was ist passiert?“ „Wir sind Geschwister. Angelina das wird niemand ändern!“ „NATHAN!“, schrie ich und blieb stehen. Meine Atmung wurde noch schlimmer.

 

Konnte es nicht einfach so bleiben wie in unserer Kindheit? Wieso musste er mir das antun? Wieso hat er sich so verändert? WIESO HAB ICH NICHTS GEMERKT? STOP! Lass es aufhören! Meine Zähne zitterten und ich stellte ihn mir vor. Mit seinen verwuschelten dunklen locken und hellbraunen Teddybär Augen. Dieses schiefe Lächeln. Ich schluchzte und als ich ihn umarmen wollte verschwand er. Eine Vorstellung.. Er ist nicht hier. „Wenn du ein Ziel hast, gib nicht auf. Geh nicht vom Weg ab.“ Drang seine raue Stimme wieder durch meine Ohren. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an die Melodie die er immer vor sich hin summte. Ich muss zu ihm. Ich muss da jetzt hin. Ich muss es herausfinden.

 

Am Friedhof hielt ich endlich erschöpft an. Im Gebäude saß ein alter Mann hinter dem Tresen und runzelte verwirrt die Stirn. Vielleicht lag es daran das ich durchnässt und mit roten Augen um 3 Uhr morgens wie eine irre vor ihm stehe? „Mein Kind es ist mitten in der Nacht, was willst du hier?“ Ich atmete schwer und keuchte: „Ich habe das in seinem Schlafzimmer..“, fing ich an zu stottern, aber stoppte und versuchte mich einigermaßen wieder in den Griff zu bekommen. „Im Schlafzimmer meines ver.. verstorbenen Bruders habe ich diesen Schlüssel gefunden.“ Ich gab ihm den Schlüssel mit dem Namen des Friedhofes.

 

Der kleine Mann sah sich den Schlüssel verwundert an. „Die Abteilung für hinterlassene Dinge hat geschlossen“, murmelte er entschuldigend.

 

„Das ist mir egal. Ich muss sehen, ob er mir einen Brief hinterlassen hat.“

 

„Lass mich raten du bist Angelina?“

 

„Ist das jetzt wichtig? Bitte. Bitte lassen Sie mich nach gucken!“ Der alte kleine Mann seufzte und nickte Richtung Treppe.

 

„Erster Stock Nummer 17 Nathaniel wusste, dass du den Schlüssel irgendwann findest.“

 

Ich nickte dankend und ging die Treppen hoch. Also war es doch Selbstmord. Er ist nicht ausgerutscht. Er ist freiwillig gesprungen. Mit zittrigen Händen öffnete ich den Schrank und sah ein Bild von mir und Nath.

 

Da waren wir noch Kinder.. Die Zeit bevor er anfing das Leben zu hassen. Als hätte ich es vorher schon gewusst. Aber hasste er das Leben wirklich? Wieso hat er das getan? Wieso hat er mich.. uns verlassen? Wie erhofft war da ein Briefumschlag. Oh Gott jetzt wird es ernst.. Ich hielt den Brief mit zittrigen Händen fest. Na ja ich versuchte es aber nach dem letzten Satz ging es nicht mehr.

 

Das Zittern meines Körpers wurde immer mehr und meine Tränen flossen ohne Pause über meine Wangen. Der Schmerz durchfloss alles. Meine vom weinen geröteten Augen, meinen einigermaßen gesunden Menschenverstand und meine letzte klitzekleine Hoffnung, dass er noch lebte und das alles nur ein Traum ist. Dieser Schmerz stieg meinen Rücken auf und verfestigte sich in meinem Kopf. Er erarbeitete sich durch mein Herz. Dieser Schmerz ist größer und stärker als alles andere, dass ich je zuvor spüren musste. Er schlitzte mich von innen besser als jedes Messer der Welt auf und hinterlässt blutige, unvergessliche und nicht verdrängbare Wunden die mich zu sterben drohen.

 

Sterben.. Nichts lieber als das würde ich jetzt. Wenn er es konnte, wieso nicht ich auch? Es war seine letzte Bitte.. Erinnerte mich die giftige schmerzhafte Stimme in meinem Kopf. Er wollte nicht das ich so Ende wie er. „Unterschätze weder dich noch die anderen“, schrieb er. „Mach weiter Prinzessin! Gib nicht auf.“ Wie kann er sowas von mir erwarten, wenn er es nicht selbst konnte?

 

Ohne es richtig wahrzunehmen, ließ ich mich auf die Knie sinken und schrie. Es war ein Ohren betäubender schmerzlicher Schrei. Die Tränen fingen erst jetzt richtig an zu laufen und mein Hals schmerzte. Ich spürte ein kleines ziehen in der Brust. Es brannte höllisch aber es verlangte nach mehr Schmerz. Mein lauter Herzschlag wurde immer schneller so, dass ich befürchtete das es mir rausfliegt.

 

Ich schrie so laut bis ich wie ein Stück Elend heulend zusammen brach und vor mich hin schluchzte und wimmerte. Diese Worte.. Diese schmerzhaften letzten Worte, die er für mich schrieb, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Es soll aufhören! Dieser Schmerz soll aufhören!”, wimmerte ich.

 

“ Liebe Angelina, wir haben gestritten, wir haben gelacht, geheult und dumme aber witzige Entscheidungen getroffen. Wie du siehst, ist das ein Abschied. Ich würde jetzt nicht für immer sagen man weiß ja nicht, ob du vielleicht die Anführerin einer Gang wirst und zu mir in die Hölle kommst. Dir könnte ich alles zutrauen deine süßen Augen sind das Werk vom bösen! Schieben wir den Spaß mal etwas zur Seite. Du hast gehört, was passiert ist und weißt du auch wieso ich ausgerechnet von dieser Brücke gesprungen bin? Da gaben sich unsere Eltern das Versprechen immer füreinander dazu sein, da sagtest du zum ersten Mal meinen Namen.. Na ja du hast eher Nati gesagt aber trotzdem war ich stolz auf dich und auf dieser Brücke schreibe ich gerade deinen Brief. Du solltest mir nicht hinterher weinen. Ich verdiene deine kostbaren Tränen nicht.

 

Ich will mich in diesem Brief nicht klischeehaft gut reden, denn es ist mir zuallererst zu anstrengend und pure Zeitverschwendung. Wir wissen beide, dass ich kein guter Mensch bin. Ich bin kein Held. Du wirst mehr Dinge über mich hören. Schreckliche Dinge und ein paar davon sind wahr. Du wirst das Gefühl haben mich nicht wirklich zu kennen, aber das stimmt nicht. Du kennst mich besser als jeder andere! Ich wünschte, ich könnte dir schreiben, wie weh es mir tut dich zu verlassen, aber das tut es nicht. Na ja zumindest nicht mehr. Das, was ich gemacht habe, war nicht aus reiner Langeweile oder Herzenslust. Es wurde alles hunderte von male durchdacht. Ich habe genug Fehler im Leben gemacht. Lügen im Abschiedsbrief wären wahrscheinlich nicht so schlau.

 

Versteh das jetzt nicht falsch! Ich liebe dich mehr als ich mich liebe! Was eigentlich nicht schwer ist, da ich mich hasse.. OK ich mache es gerade nicht besser, aber ich meine damit das es besser für dich ist, wenn ich nicht mehr da bin. Du warst für eine sehr lange Zeit der einzige Grund weshalb ich es nicht schon vorher beendet habe. Angelina ich liebe dich das ist Fakt. Ich liebe dich verdammt so sehr das ich dir von dieser Sache nicht erzählen konnte! Ja ich wünschte ich hätte diese Wörter öfter zu dir gesagt oder mich in der Cafeteria zu dir gesetzt anstatt dich vor meinen „Freunden“ zu beschützen, aber hätte ich es gesagt müsste ich dir auch beichten, dass ich mich selbst umbringen will.

 

Du hättest mich mit diesen verfluchten Kulleraugen angesehen und ich hätte es nicht geschafft dich so alleine zu lassen. Du bist doch meine kleine Schwester, die zu mir aufsehen müsste, aber das konntest du nicht. Es gab da nichts zum Aufsehen, weil du schon so hoch warst. Kleine Schwester genieße dein Leben in vollen Zügen. Vergiss nicht das ich nie von dir enttäuscht sein könnte. Unterschätze weder dich noch die anderen. Tu mir den Gefallen und mach weiter Prinzessin! Gib nicht auf. Ich bitte dich nicht um Vergebung denn das haben Leute wie mich nicht verdient. Ich habe nicht mal dich verdient, aber ich bitte dich darum die guten Momente nicht zu vergessen. Du bedeutest mir soviel Prinzessin. Dass, was ich getan habe, hatte nichts mit dir zu tun. Dein großer Bruder Nathan! „

 

Ich spürte eine Decke über meinen Schultern, woraufhin ich erschrocken zum besten Freund meines Bruders sah. Ich hatte ihn nicht mal gehört. Aidan setzte sich mit roten Augen und durchnässten Schuhen zu mir. Ob seine Augen vom kiffen oder vom weinen rot waren konnte ich nicht sagen. Ich konnte Aidan nie einschätzen und das machte mir Angst.

 

Menschen, die man nicht einschätzen kann, sind unberechenbar. „Du hast den Brief gefunden.“ Er zog eine Augenbraue hoch, woraufhin ich ihn einfach nur anstarrte. „Nein ich liege gerne verheult auf dem Boden.“ Meine Stimme war rau. Schwer zu verstehen und sehr brüchig. Er seufzte und wir sahen uns einfach nur das Bild von mir und meinem Bruder an.