Von Heike Weidlich

“I’m on the highway to hell – Highway to hell ….” Die Augen zusammengekniffen, singe – schreie – ich lauthals und trommle den Takt in rasendem Stakkato auf dem Lenkrad mit.

Wenigsten geile Musik, wenn ich schon meine wertvolle Zeit im Stau verbringen muss.

Mitten im besten Teil,  – ich bin mittlerweile kaum mehr zu unterscheiden von Bon Scott – meldet sich mein Handy. Normalerweise lasse ich mich bei solchen Gelegenheiten nicht stören, aber mit einem kurzen Blick stelle ich fest, dass es sich bei dem Lästling um einen meiner Auftraggeber handelt.

Widerwillig nehme ich das Gespräch an und drehe die Musik leiser, was mir beinahe körperlich weh tut. Mitten im Song! Was für eine Sch…!

„Uwe, was geht?“

„Wo bist du gerade?“ Keine Begrüßung.

„Im Auto unterwegs, ich …“

„Wo genau?“

„Auf der A9, vielleicht 20 Kilometer vor der Ausfahrt Langenbruck, aber hier geht kein Rad mehr rum.“

„Perfekt! Deshalb ruf ich an. Auf der A9 gab’s einen Unfall – Massenkarambolage. Hörst du eigentlich keinen Verkehrsfunk?“

Ah, ok, deshalb dieser Megastau. Auf meiner Lieblings-CD kommt kein Verkehrsfunk.

„Schon, aber …“ Weiter lässt er mich nicht kommen.

„Lange Rede, kurzer Sinn. Hast du deine Ausrüstung dabei?“

„Na klar, was denkst du denn?“

„Dann steig aus und sieh was du kriegen kannst. Die Unfallstelle müsste direkt vor dir sein. Meld dich, wenn du’s im Kasten hast, dann reicht‘s vielleicht noch für die Abendausgabe.“

„Uwe, ich …“ Doch Uwe hat längst aufgelegt.

Kurzer Rundumblick – alle stehen wie zuvor, also Türe auf und flugs zum Kofferraum. Dort hole ich schnell meine Kamera und schlängle mich dann zwischen den stehenden Autos hindurch. Während die einen schimpfen und mich fragen was eigentlich los ist, nutzen die anderen die unfreiwillige Pause, indem sie auf ihren Handys herumdaddeln, sich unterhalten, oder einfach nur ihren Sitz zurückstellen, um mal ein paar Minuten die Augen zu schließen.

Ich hingegen bin jetzt im Arbeitsmodus: Hoch konzentriert – voller Adrenalin. Ich sehe schon  die blinkenden Lichter, höre das Rufen der Rettungskräfte, die Anweisungen der Polizei. Hinter mir kämpft sich ein weiterer Krankenwagen durch die leidlich gebildete Rettungsgasse. Plötzlich bleibt er stehen. Der Fahrer lässt die Scheibe runter, debattiert.  Maulend steigt ein, von der Hitze geplagter Autofahrer, wieder in seinen Wagen und fährt langsam rechts ran.

Mir alles egal – ich muss jetzt sehen, dass ich vorwärts komme, bevor der Ort des Geschehens vollends von Gaffern verstellt ist. Ich bin schließlich im Dienste der Allgemeinheit unterwegs. Also halte ich meinen Ausweis hoch. „Presse“, rufe ich. „Presse! So lassen Sie mich doch durch!“

Einige ziehen die Augenbrauen hoch, manch einer tut, als ob er mich nicht hören würde. Aber meistens zieht mein Ausweis, und wenn nicht – hey,  ich bin Profi und habe meine Mittel und Wege!

Als ich beinahe vorne stehe, erkenne ich das ganze Ausmaß. Sechs Wagen, zum Teil ineinander verkeilt, einer liegt auf dem Dach. Überall liegen blutüberströmte Menschen. Ein einziges Inferno. Eine Frau ist in ihrem Wagen eingeklemmt. Rettungskräfte von der Feuerwehr warten offensichtlich auf Spezialeinsatzgeräte um sie zu befreien. Ob sie noch zu retten ist? Reglos hängt sie in ihrem Gurt.

Klick, klick-klick. Ich knipse wie besessen. So was bietet sich einem nicht alle Tage. Und noch dazu in der Pole-Position. Die Bilder werden Tausende wert sein.

Weiter hinten kniet ein Helfer neben einem Verletzen. Er beginnt mit der Beatmung und versucht gleichzeitig einen anderen darauf aufmerksam zu machen, dass er Unterstützung braucht. Wahrscheinlich für die Herzdruckmassage.

Klick, klick-klick. Darum kann ich mich leider nicht auch noch kümmern, habe ich ja selber eine wichtige Aufgabe. Die Bevölkerung hat ein Recht auf Information!

Wenn ich nur besser sehen könnte. Überall stehen Rettungskräfte im Weg. Zu allem Überfluss stellen einige jetzt auch noch Sichtschutzwände auf. Unglaublich, wie man behindert wird. Denken die auch einmal daran, dass auch andere ihre Arbeit erledigen müssen?

Während ich mir noch überlege von wo aus ich jetzt die beste Sicht habe, steht plötzlich ein Polizeibeamter neben mir.

„Was machen Sie hier?“

Lässig halte ich ihm meinen Ausweis entgegen.

„Aha, dann kommen Sie mal mit!“. Offenbar ein fähiger Mann. Hat gleich erkannt, dass ich von hier aus kaum mehr was sehen kann.

Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck sieht er mich an und plötzlich werde ich stutzig. „Wohin geh‘n wir, wollen Sie mich etwa verhaften?“

„Nein, keine Sorge, wir sind gleich da.“

„Wo?“

„Da vorne ist das Auto einer Familie. Der Vater ist zwar schon tot, aber die Mutter kämpft noch um ihr Leben.“

Als wir um das Einsatzfahrzeug der Feuerwehr herumkommen, sehe ich die ganze, schreckliche Szenerie: Das Familienfahrzeug, ein Opel Astra, vollgeladen mit Gepäck, ist sowohl von vorne als auch von hinten völlig eingedrückt. Ein Leichensack wird gerade zugezogen – wahrscheinlich der Vater.

Eine weitere Person, offenbar die Mutter, liegt blutüberströmt am Boden – ein Notarzt gibt sein Bestes.

Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass ich an einem Unfallort bin. Auch Leichen habe ich schon gesehen. Ich habe mich mit meinen 25 Jahren seither für ziemlich abgebrüht gehalten.

Aber jetzt starre ich auf diesen Opel mit dem die Familie ganz offensichtlich in den Urlaub fahren wollte. Ein Koffer wurde herausgeschleudert und ist aufgeplatzt. Ein Teddy liegt mit abgerissenem Ohr auf der Straße und plötzlich stehen Bilder vor meinen Augen, die hier gar nichts zu suchen haben:

 

Ich mit meiner Familie auf dem Weg an die Adria, in den letzten gemeinsamen Urlaub. Wir hatten ebenfalls einen Opel Astra:

Wir hören Musik, wobei ständig diskutiert wird, welcher Sender der bessere ist. Meine Mutter reicht gut gelaunt belegte Brötchen herum, mein Bruder verschüttet seine Cola auf dem hellen Sitzbezug. Vater stöhnt. Trotzdem sind alle glücklich, aufgeregt  und voll Vorfreude auf das Kommende.

Nach dem Urlaub hatte ich ein Volontariat bei einem Medienunternehmen geplant, um anschließend mit meinem Journalismus-Studium  zu beginnen.

Während des Volontariats waren mir bei einem Einsatz auf einem Festival ein paar gute Bilder gelungen – hier liegt offenbar mein Talent. So begann meine „Karriere als freier Mitarbeiter“ und schnell merkte ich, je spektakulärer, brutaler oder peinlicher die Fotos waren, umso mehr Kohle war damit zu machen.

Studieren konnte ich immer noch – erst mal ein bisschen Geld verdienen. Das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Das war jetzt beinahe vier Jahre her. Anfangs hatte meine Familie nachgefragt, wann ich denn nun endlich mit dem Studium beginnen wolle. Doch nachdem meine Reaktionen immer heftiger ausgefallen waren – „kümmert euch um euren eigenen Scheiß!“, hatten sie mich endlich in Ruhe gelassen.

Ich wollte Geld verdienen, nicht die Schulbank drücken. Ich hatte schon einen Beruf: Mann, sahen die nicht, wie wichtig meine Arbeit war? Die checkten einfach gar nichts! Spießig, alle miteinander!

Aber jetzt sind plötzlich diese Bilder in meinem Kopf. Ich kann nichts dagegen tun.

 

„Möchten Sie nicht ein bisschen näher ran?“ fragt mich plötzlich der Polizist. Den hatte ich ganz vergessen. „Hier sehen Sie doch gar nicht richtig. Schauen Sie, dort hinten ist das Kind.“

Ein kleines Mädchen, wie durch ein Wunder offenbar unverletzt, sitzt, eingehüllt in eine goldene Rettungsdecke, auf einer Kiste. Es weint und will zu seiner Mutti. Doch die Sanitäter lassen es nicht. Versuchen es abzulenken. Verzweifelt sieht das Kind zu mir herüber, sucht unausgesprochen nach Hilfe.

Plötzlich wird mir schlecht. Ich mache ein paar Schritte zur Seite und übergebe mich. Ich habe das Gefühl, dass das Würgen nie mehr aufhören wird.

„Haben Sie jetzt genug gesehen?“ fragt mich der Polizeibeamte mit hartem Gesichtsausdruck. „Dann gehen Sie hinter die Absperrung.“ Angewidert sieht er mich an: „Haben Sie eigentlich gar keinen Anstand, keine Ehre?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schiebt er mich unter den Flatterbändern durch und eilt, ohne sich noch einmal umzudrehen,  dem Grauen wieder entgegen.

Langsam, noch immer würgend, gehe ich zu meinem Wagen. Ich setze mich auf den Fahrersitz und betrachte die Bilder in meiner Kamera. Sie sind der Wahnsinn. Ein Szenario des Schreckens, perfekt eingefangen. Die Lichtverhältnisse,  Blickwinkel: Es passt alles. Die sind eine Menge wert. Das wäre meine Urlaubsreise gewesen.

„Haben Sie eigentlich überhaupt keine Ehre?“ Die Worte des Beamten hallen in mir nach. Ist das so? Und noch viel wichtiger: Kann man seine Ehre wiederfinden?

Langsam lösche ich ein Bild nach dem anderen. Das war mein letzter Einsatz als Sensationsfotograf, es geht nicht mehr, ich will nicht mehr.

Dann greife ich nach meinem Handy, drücke die bekannte, lange nicht mehr benutzte Kurzwahltaste:

„Schreiner“

Als ich ihre Stimme höre, sehe ich schon beinahe nichts mehr vor lauter Tränen.

„Mama?“

„Moritz! Was ist? Weinst du?“

„Mama, geht’s euch gut? Ich komm heim.“

 

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