Von Ursula Riedinger

Wie jeden Abend machte sich Oliver irgendwann nach 18 Uhr auf den Weg in die Innenstadt. Er wohnte in einer kleinen Mietwohnung in Wiedikon. Mit dem Tram konnte er direkt bis zum Paradeplatz fahren. Dann waren es nur noch ein paar Schritte bis zum Fraumünster. Umständlich zog er den Schlüssel zur Kirche aus der Tasche, um seinen Kontrollgang zu machen, nachdem die Touristen und Besucher gegangen waren.

Er war froh, dass ihm wenigstens dieser Job geblieben war. Ja, es hatte Gespräche gegeben, und er hatte gelobt, dass er nicht trinken würde, wenn er im Dienst war. Pfarrer Peter hatte sich für ihn eingesetzt, obwohl der Sigrist und die Kirchenpflege ihn eigentlich loswerden wollten. Aber er hatte sich darangehalten. Nach seinem Rundgang ging er dann normalerweise in seiner Quartierbeiz ein Bier trinken.

Die meisten Spuren, welche die vielen Touristen hinterlassen hatten, waren schon beseitigt worden. Die Gesangsbücher waren wieder in ihren Fächern, liegengelassene Audioguides zurück an der Info, Abfall entsorgt. Nein, seine Aufgabe war eigentlich besser. Er ging die ganze Kirche ab und schaute, ob ihm etwas auffiel, nahm Fundgegenstände mit, kontrollierte alle Türen.

Zuerst ging er in die Krypta. Die Treppe machte ihm etwas Mühe, aber er mochte diesen Ort unter der Kirche, wo Spuren des ehemaligen Fraumünster-Klosters sichtbar waren. Dort hatte er schon mal einen wertvollen Fotoapparat gefunden. Dafür wird ihm eines Tages noch ein schöner Finderlohn zustehen. Dann ging er durch die Kirche, schaute unter die Bänke und nahm alles mit, was dort nicht hingehörte. Weiter in die Kapelle mit den Chagall-Fenstern. Hier setzte er sich jeweils kurz hin und schaute und staunte. Jeden Tag wieder von neuem. Die Farben gefielen ihm. Selten fand er hier etwas, der Raum war schon gereinigt worden. Dann noch die Treppe zur Empore hoch zur Orgel. Besucher hatten an sich hier nichts zu suchen, trotzdem fanden sich ab und zu Dinge, Brillen, japanische Touristenführer, Wasserflaschen. Heute war alles in Ordnung.

Dann entdeckte er es. Neben der Orgel stand am Boden etwas wie eine grosse Einkaufstasche. Ja, es war eine dieser riesigen IKEA-Einkaufstauschen. Oliver wusste, bei Taschen und Koffern musste man vorsichtig sein. Langsam ging er näher. Er konnte nur irgendeinen Stoff erkennen, es war ziemlich dunkel. Er hob die Tasche vorsichtig hoch. Sie war schwerer als erwartet. Er trug sie nach vorne, zum Licht, und hob ganz vorsichtig den Stoff hoch. Oliver traute seinen Augen nicht.

Nicht etwa entsorgte Kleider kamen zum Vorschein, sondern ein winziges Kind. Es hatte geschlafen, aber erwachte jetzt. Und begann zu weinen. Oliver hatte keine Erfahrung mit Kindern, er war selbst nur kurz verheiratet gewesen. Was sollte er jetzt mit dem Baby machen? Wo konnte er das Ding abgeben um diese Zeit? Andere Fundsachen konnte er an der Info deponieren, die Damen kümmerten sich dann am anderen Morgen darum. Er könnte Pfarrer Peter anrufen, aber er hatte sein Handy zu Hause gelassen. Vorsichtig trug er die Tasche nach unten. Das Kind beruhigte sich ein wenig.

Es gab nur eins. Er musste es nach Hause nehmen. Er schloss alles ab und machte sich mit seiner Tasche auf den Weg zum Paradeplatz. Die Heimfahrt im Tram wurde zum Spiessrutenlaufen. Das Kind schrie jetzt aus vollem Hals und die Leute im vollbesetzten Tram schauten ihn fordernd, strafend, unangenehm berührt an. Was machte dieser alte Mann mit einem Kind in einer IKEA-Tasche? Warum tat er nichts? Endlich, Zypressenstrasse.

«Nun nur noch ein paar Schritte, dann sind wir zuhause.» Oliver flüsterte es mehr für sich als zum Baby.

An einen Schoppen in der Beiz war jetzt nicht zu denken. Eher an einen Schoppen für das Kind. Vorsichtig hob Oliver das kleine Bündel mit seinen grossen Händen hoch. Es schrie und schrie. Es war natürlich auch ganz nass. Darauf war er überhaupt nicht vorbereitet. Er befreite das Kind von seinen Tüchern und der einfachen Papierwindel, die es trug, rieb es mit etwas Wasser ab und legte es auf ein altes Handtuch. Es war ein kleines Mädchen.

Zum Glück hatte er für seinen Frühstückskaffee jeweils etwas Milch im Haus, nicht nur Bier. Musste man sie wärmen? Oder ging es auch so? Er wärmte die Milch ein wenig auf. Dann tunkte er eines seiner wenigen Küchentücher in die Milch und versuchte, dem Kind den Zipfel in den Mund zu stecken. Es dauerte ziemlich lang, aber am Ende begann es zu saugen und das Geschrei hörte auf. Woher ihm all diese Eingebungen kamen, wusste er nicht.

Das Kind war tatsächlich eingeschlafen. Oliver konnte sich endlich ein Bier holen und sich vor den Fernseher setzen. Es wurde eine unruhige Nacht. Er bettete das Kind aufs zweite Bett. Das Kind wachte immer wieder auf und schrie und er versuchte, es wieder zu beruhigen. Um Mitternacht trug er das kleine Bündel eine halbe Stunde lang durch die Wohnung, bis es wieder ruhiger wurde. Es weckte unerwartet zärtliche Gefühle in diesem Mann, der schon lange nichts Lebendiges in seinen Armen gehalten hatte.

Früher als normal trank Oliver seinen Kaffee, machte nochmals Milch warm für das Mädchen und wartete darauf, dass es 8 Uhr wurde und er den Pfarrer anrufen konnte.

«Oliver, guten Morgen, was gibt es denn so früh schon?»

«Bitte entschuldigen Sie Herr Pfarrer, wenn ich Sie gestört habe. Aber ich habe einen Notfall. Ich habe gestern im Fraumünster ein Baby gefunden.»

«Ein Baby? Wo denn?»

«Es lag in einer IKEA-Tasche oben neben der Orgel. Und jetzt weiss ich nicht, was ich damit machen soll.»

«Du hast es mit nach Hause genommen?»

«Was hätte ich sonst tun sollen? Es ist übrigens ein Mädchen. Ich habe ihr etwas Milch gewärmt und sie notdürftig neu gewickelt, aber jetzt weiss ich nicht weiter.»

«Also Oliver, das haben Sie ja ganz gut gemacht. Ich werde Ihnen Frau Kuster schicken.»

«Danke, Herr Pfarrer, ich bin froh, wenn sie in bessere Hände kommt.»

Bis Frau Kuster, die Pfarrhelferin endlich kam, musste Oliver sich immer wieder etwas Neues ausdenken, um das Kind zu beruhigen. Er erneuerte seine Windel aus zwei alten Taschentüchern, flösste ihm die letzte Milch ein, die er noch hatte, und trug es durch die Wohnung, bis es nochmals einschlief. Frau Kuster nahm ihm das Bündel ab. Sie war nicht gerade erfreut, als sie erfuhr, dass sie zum alten Oliver an die Zypressenstrasse fahren sollte. Die beiden hatten das Heu sowieso nicht auf der gleichen Bühne.

«Was passiert jetzt mit ihr?»

«Sie kommt zuerst ins Kinderspital, dann sehen wir weiter. Auf Wiedersehen.» Dann stampfte Frau Kuster, die ebenfalls nicht mehr gut Treppen steigen konnte, mit der IKEA-Tasche in der Hand, die vier Treppen nach unten. Das Kind begann schon wieder zu schreien.

Schon war sie weg. Oliver spürte eine Leere. Das Kindlein hatte ihn gebraucht. Nun kehrte der Alltag zurück. Am nächsten Abend nach seinem Kontrollgang im Fraumünster begab er sich in seine Stammbeiz. Jetzt hatte er wenigstens etwas zu erzählen. Seine Kollegen staunten.

«Was du auch immer erlebst, so interessent», meine Hanspeter.

Nach zwei Wochen liess es ihm keine Ruhe. Er rief Pfarrer Peter an und fragte nach dem Findelkind. Was geschah jetzt mit seinem Mädchen?

Der Pfarrer war gerührt. «Dem Mädchen geht es gut. Es ist gesund. Im Spital haben sie es Veronika genannt, aber natürlich können die Eltern, die es adoptieren werden, ihm einen anderen Namen geben. Aber der Prozess läuft noch.»

«Darf ich Veronika mal besuchen, wenn sie sich in ihrem neuen Heim eingelebt hat?»

«Ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen und die Adoptiveltern von Veronika bitten, dass Sie sie mal besuchen dürfen.»

«Danke, Herr Pfarrer, das würde mich freuen.»

 

Oliver arbeitet nicht mehr für die Kirchgemeinde Fraumünster. Er fühlt sich mit seinen 70 Jahren nicht mehr fit genug für die Arbeit.

Aber er fährt jeden Monat einmal in die Innenstadt und trifft dort Veronika.

Heute hat er ein kleines Geschenk für sie besorgt. Sie ist vor kurzem 10 Jahre alt geworden.

Dort am Paradeplatz steht sie und erwartet ihn.

 

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