Von Michael Voß

„Warum halten wir?“, fragte Sajida.

„Ich weiß es auch nicht. Geh´ doch mal nachschauen“, sagte ihre Mutter Duvinia.

Sajida kletterte vom Kutschbock des Ochsenkarrens und schlängelte sich zwischen den herumstehenden Gauklern, Zugtieren und buntbemalten Wagen nach vorn. Sie machte einen Bogen um den Ziegenbock des Baders, sprang über eine Pfütze und gelangte zur Spitze des Trecks. Dort standen Nassan und einige der Männer. Sie waren nervös, hatten ihre Waffen gezogen und beobachteten Leif Luchsauge, der sich in einiger Entfernung zwischen den Bäumen und im Unterholz umsah. Dann kam der Späher aus dem Grün hervor und untersuchte eine Kutsche, die umgestürzt am Rand der Waldstraße lag. Schließlich machte er sich auf den Rückweg.

„Und?“, fragte Nassan, Oberhaupt der Gaukler.

Der blonde Halbelf schob sein Schwert zurück in das lederne Wehrgehenk: „Ein missglückter Raubüberfall. Orks und Banditen haben eine Reisegruppe angegriffen, sind aber zurückgeschlagen worden. Doch es ist vorbei, wir können beruhigt weiterreisen.“

„Bist du auch sicher?“, fragte Nassan. „Stell´ dir vor, ein paar Versprengte lauern uns hinter der nächsten Biegung auf.“

„Die Spuren sind eindeutig: keiner der Angreifer hat überlebt oder ist entkommen.“

„Na dann…“, sagte Nassan aufatmend und stiess mit der Faust in die Luft: „Weiterfahren!“

Ein schräge Flötenmelodie erklang und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

Sajida wartete, bis der Wagen der Wahrsagerinnen heran war: „Alles in Ordnung, es hat wohl vor kurzem einen Überfall gegeben. Ich bin mal vorn bei Leif!“

Ihre Mutter nickte lächelnd. Fröhlich lief die junge Frau nach vorn und drängte sich neben den Späher, der wie so oft von den beiden Tänzerinnen umlagert war.

„He Leif, weißt du, was das für Leute waren, die Reisenden?“, fragte sie neugierig.

Der Halbelf, dessen Augen unablässig die Umgebung absuchten, antwortete ruhig: „Nicht sicher, wahrscheinlich Adelige. Zumindest aber hochgestellte Leute, denn die Kutsche trug das königliche Wappen, genauso wie die Uniformen der gefallenen Soldaten. Und schau jetzt besser nicht zur Seite.“

Doch Sajida konnte ihren Blick schon nicht mehr abwenden. Mit einer Mischung aus Faszination und Grausen betrachtete sie den zerhauenen Leib eines toten Wegelageres in einem Gebüsch. Halt! War da nicht ein Glitzern?

„Bin gleich wieder da!“

Sie verliess die Strasse und näherte sich der Leiche. Irgendwo da hatte es doch eben aufgeleuchtet, oder? Mit spitzen Fingern fasste sie den blutigen Ärmel des Toten und hob den Arm an.

Ihr stockte der Atem: Im Waldboden lag ein juwelenbesetzter Dolch in einer ebenso gearbeiteten Scheide, der dem Räuber beim Sturz aus der Hand gefallen sein musste. Sajida zögerte kurz, dann nahm sie den kostbaren Gegenstand an sich und barg ihn unter ihren Kleidern.

 

Erst am Abend, als alle um das Lagerfeuer saßen, zog sie ihren Fund hervor und zeigte ihn den versammelten Gauklern.

„Bei den Göttern!“, japste ihre Mutter. „Der ist ein Vermögen wert!“

„Versteck´ ihn bloß gut, sonst heisst es, wir Zingero haben wieder gestohlen!“, warnte Nassan eindringlich.

Rowin, der Akrobat, sagte vorsichtig: „Ich kenne ein paar Leute in Lagorna, die würden ihn dir versilbern, ohne dass das Ding jemals wieder auftaucht.“

„Wie machen die das?“, fragte Sajida.

„Nun, zuerst brechen sie die Edelsteine aus den Fassungen, dann schmelzen sie das Gold vom Stahl herunter. Anschließend transportieren sie die Teile ins Ausland, wo alles einzeln verkauft wird.“

„Das ist ja kriminell!“, empörte sich Sajida.

„Nun jaa, schon…“

„Woher kennst du eigentlich solche Leute, Rowin?“, fragte Nassan.

Erschrocken sah Rowin zu Leif hinüber, der ungerührt antwortete: „Dazu brauchst du dich nur in die passende Taverne zu verirren, wo du spätestens beim zweiten Humpen auf sowas angesprochen wirst.“

Schon lächelte Rowin wieder: „Also, Sajida, wie wär´s?“

„Nein, ich werde den Dolch zurückgeben.“

„Warum das?“, fragte Rowin entgeistert. „Du hättest ausgesorgt!“

Er kniff ein Auge zusammen: „Oder hast du ein schlechtes Gewissen? Das brauchst du nicht, denn es trifft sicher keinen Armen.“

„Nein“, sagte sie. „Es ist, hm, weil es einfach nicht richtig ist.“

„Na gut. Aber wie willst du den Besitzer finden?“

„Leif sagte, es waren Adelige auf dem Weg nach Lagorna, wo wir ohnehin unsere nächste Aufführung haben. Ich werde einfach zum Schloß des Königs gehen und mich durchfragen.“

Rowin wog den Kopf: „Da wirst du doch nur belogen. Jeder Höfling kann sich als Besitzer des Zierdolches ausgeben.“

Trotzig entgegnete Sajida: „Hast du eine bessere Idee?“

„Am ersten Wassertag eines jeden Monats hält der König eine öffentliche Audienz für jedermann ab. Vor so vielen Zeugen wird sich wohl nur der wahre Besitzer melden. Obendrein passt es gut, denn bis dahin sind wir in Lagorna angekommen.“

Auf einmal sah Sajida unsicher aus.

„Wenn du willst, begleite ich dich“, bot Rowin an.

Bittend sah Sajida zu Leif hinüber.

Der Halbelf nickte.

Dem Mädchen fiel ein Stein vom Herzen: „Danke euch.“

 

Nervös trat Sajida von einem Bein auf das andere. In dem von den Tänzerinnen geliehenen  Kleid, mit den hochgesteckten Haaren und getuschten Wimpern sah sie unbestreitbar hübsch aus. Doch unter den arroganten, in Brokat und Seide gekleideten Damen des Hofstaats kam sie sich vor wie eine graue Maus. Ein unangenehmes Gefühl, was durch das  Warten nicht besser wurde.

Endlich rief der Herold sie auf: „Es tritt vor: die Wahrsagerin Sajida von den Zingero!“

Mit klopfendem Herzen ging Sajida nach vorn und machte einen Hofknicks.

Freundlich nickte der König ihr zu: „Nun, junge Frau vom fahrenden Volk, was führt dich an des Königs Hof?“

Sajida zog den Dolch hervor: „Auf dem Weg hierher fand ich diese Waffe. Ich möchte sie ihrem rechtmäßigen Besitzer zurück geben.“

„Der Dolch kam mir vorgestern bei einem Überfall abhanden!“, tönte ein übellaunige Stimme durch den Saal.

Ein mittelgroßer Mann drängte sich aus den Reihen der Höflinge und schritt hochnäsig in Richtung Thron.

„Rasch, steck ihn weg!“, raunte der König zu Sajida, die den Dolch flugs in ihrem Ärmel verschwinden liess.

Jetzt war der Mann heran: „Gib her!“

Der König schüttelte den Kopf: „Bei allem Respekt, Eure Exzellenz, aber Wir wollen schon wissen, ob Ihr auch wirklich der rechte Besitzer seid. So sagt Uns denn: Wie viele Rubine zieren diese Waffe?“

Der Angesprochene, Botschafter des benachbarten Herzogtums, schnaubte: „Je drei Stück auf dem Heft und auf der Scheide.“

Der König nickte anerkennend und Sajida gab dem Botschafter sein Eigentum. Ohne ein Wort wandte sich der Mann zum Gehen, hielt aber inne, als vom Thron her ein Räuspern kam.
„Hier in Caldana pflegen wir einen Finderlohn zu geben!“, sagte der König missbilligend.

Wütend nestelte der Botschafter einen Kreuzer aus seinem prallen Geldbeutel und ließ ihn vor Sajidas Füße fallen. Dann stampfte er davon. Das Mädchen wäre am liebsten im Boden versunken. Der König winkte einen Gardisten herbei, der die kleine Münze aufhob und Sajida überreichte. Als sich ihre Blicke kreuzten, machte ihr Herz einen Satz.

„Danke“, stotterte sie verlegen.

„Sehr gern“, sagte der Soldat freundlich und hielt ihren Blick noch einen Augenblick fest, bevor er ging.

Sajida stockte der Atem. Dann wurde sie rot, weil sie sich dabei ertappte, ihm hinterher zu starren und senkte eilig den Kopf.

Wie durch Watte hörte sie die Stimme des Königs: „Wir danken dir für diese Demonstration von Ehrlichkeit und Mut. Damit strafst du all jene Lügen, die das fahrende Volk als Diebesgesindel bezeichnen. Schatzmeister, gib er Fräulein Sajida eine Dublone!“

Sajida konnte es kaum fassen. Überglücklich steckte sie das Goldstück ein, knickste aufgeregt und ging zu ihren Begleitern zurück. Schließlich war die Audienz beendet und die Leute drängten aus dem Saal, um sich draussen vor dem Palast zu zerstreuen.

Die Drei wandten sich Richtung Tor, als sie von dem Gardisten eingeholt wurden, der etwas unsicher zwischen ihnen hin- und herschaute: „Ähm…“

Leif fasste Rowin am Ärmel: „Wir warten da vorn auf dich, Sajida.“

 

Der Soldat fragte vorsichtig: „Darf ich dich zu des Königs Ball einladen, übermorgen? Du – du kannst doch tanzen, oder?“

Sajida stotterte: „Ball – Einladung? N… vielleicht, ähm, ich meine ja, wieso…“

Sie räusperte sich: „Ist das denn nicht nur dem Adel vorbehalten?“

Er strahlte: „Für gewöhnlich schon! Aber nachdem mein Fähnlein dem Botschafter im Wald den gepuderten Arsch, hrm, das Gesäß gerettet hat, sind wir als Ehrengäste geladen. Und wir dürfen jemanden mitbringen.“

Sajida war ganz aufgeregt: „Also gut! Wie schade. Äh, ich meine: Schade, dass es erst übermorgen ist…“

„Warum schade? Ich könnte dir morgen nach Dienstschluss die Stadt zeigen.“

Sajida bekam weiche Knie: „Das wäre ganz…“

Unwillkürlich musste sie zu dem selbstsicheren Halbelfen hinübersehen. Als ob er es gemerkt hätte, blickte er sie plötzlich an und lächelte ermutigend. Auf einmal war sie wieder sie selbst.

Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und bedachte den Gardisten mit einem Augenaufschlag: „Nur, wenn du dir vorher von mir die Karten legen lässt…“

 

Leif meinte: „Sieht aus, als ob unsere Freundin einen Schatz gefunden hat, den sie nicht zurückgeben will.“

Rowin brummte zustimmend.

Der Halbelf fuhr fort: „Im Übrigen solltest du jetzt gehen, um den Dolch bei der Diebesgilde zu verscherbeln, bevor die Gaukler ihn durch einen dummen Zufall zu sehen bekommen. Ich werde Sajida sagen, dass du noch was in der Stadt zu erledigen hast.“

Rowins Augen weiteten sich vor Schreck: „Woher weißt du, dass…“

„Du ihn dem Botschafter abgenommen hast, als sich alle Richtung Ausgang drängten? Dass du der meistgesuchte Dieb des Kaiserreichs bist? Oder dass du seit deinem spektakulären Ausbruch inkognito bei den Gauklern untergetaucht bist?“

Rowin fiel die Kinnlade herunter.

Leif grinste: „Nun, ich halte eben nicht nur unterwegs Augen und Ohren offen. Aber keine Angst, solange du sie nicht beklaust, werde ich den Gauklern nichts erzählen.“

 

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