Von Anne Zeisig

„Wirst DU meine Fundsache sein?

Geformt vom Auf und Ab der Gezeiten.

Mit geheimnisvollen Riefen und liebenswerten Unebenheiten.

Wertvolles Strandgut, das sich bei einem Seebären geborgen fühlen will.

Gemeinsam Land unter den Füßen spüren.

Wieder ankommen im Leben.

Mit Sand zwischen den Zehen, wenn ich mit dir in die Brandung blicke:

In der gleißenden Morgensonne, bei Sturm und Hagel oder Abendrot.

 

* * *

 

„Mama! Der hat doch einen Spleen! Das ist ein alter vertrockneter Eigenbrötler.“

 

„Wie kommst du darauf?“ Petra strich sich eine silbergraue Strähne aus der Stirn. „Der Mann hat keine Angst vor Falten und Cellulite.“

 

„Aber du hast keine Orangenhaut!“

 

„Aber Falten.“ Sie streichelte über ihr lächelndes Gesicht und warf ihren Kopf in den Nacken.

 

„Der beschreibt SEINE Macken!“ Die Kirchturmuhr schlug sechzehn Uhr.

 

Petra lackierte sich die Fingernägel rot: „Ich habe auch welche.“ Machte eine kleine Pause und fügte an: „Sogar einige.“

 

„So knallige Nägel. Igitt. In deinem Alter.“

 

„Rote Nägel in meinem Alter sind nur eine meiner Macken.“

 

Ihre Tochter stöhnte: „Macken sind nur so lange liebenswert, solange die Verliebtheit anhält. Spätestens nach einem halben Jahr regst du dich über die Zahnpastatube oder den Stehpinkler auf.“

Sie blickte unruhig auf ihre Armbanduhr.

 

„Na, du musst es ja wissen, nach deinem Reinfall mit dem Vater deines Kindes. Wie lange ward ihr zusammen?“, sagte Petra schnippisch.

Noch einen Hauch Haarspray.

 

„Mama! Das kann man nicht vergleichen! Mein Sohn ist ein One-Night-Stand-Unfall! Aber ich liebe ihn sehr!“

 

„Aha.“ Die Mundwinkel ihrer Mutter zuckten kurz, bevor sie den Lippenstift auftrug.

 

„Der jedoch“, sie zeigte auf den Monitor, „der hat noch nicht einmal ein Foto von sich eingestellt.“

Abermals schaute sie auf ihre Uhr.

 

„Aber Kind!“ Petra warf sich die Tunika über. „Er hat auch kein Bild von mir. Ich suche nur einen Partner in meinem Alter, bei dem ich mich geborgen fühle. Für gemeinsame Urlaube am Meer. Dass der bei mir einzieht und die Toilette benutzt“, sie lachte, „so weit ist es noch lange nicht.“

 

Ihre Tochter lachte spöttisch auf: „Seit wann suchst du Geborgenheit bei einem Mann?“

 

Aus Petras Augen blitzte es kurz auf. „Seit ich zeitlebens alles für uns, für deinen Vater, für dich, für mich, regeln und erledigen musste. Trotz meiner Berufstätigkeit.“ Sie besah sich im Spiegel, wendete ihren Kopf hin und her, nickte zufrieden.

„Ich habe in all den Jahren einhundertfünfzig Prozent geleistet, dein Vater einhundert.“ 

 

„Aber es hat dir doch gefallen, dass du immer und stets alle Zügel in der Hand gehalten hast. Diese Unentbehrlichkeit wolltest du doch immer!“

 

Ihre Mutter hielt die Luft an und quetschte sich in die Stretch-Jeans: „Falls es dir entgangen sein sollte, ich habe mich verändert, seit dein Vater nicht mehr lebt.“ Atmete laut aus und schloss den Hosenreißverschluss.

 

„Verändert?“, die Tochter blickte zu dem Hochzeitsbild der Eltern auf dem Sideboard, wo ihre Mutter unter dem geschlossenen Schleier den ernst dreinblickenden Vater, der sie haushoch von Statur überragte, lächelnd anhimmelte wie eine Madonna.

 

Petra schlüpfte in die roten Pumps: “Die Zeiten ändern sich.“

Sie hielt sich eine Handtasche vor ihr Outfit. „Meinst du, die rote passt?“

 

„Hm“, nuschelte ihre Tochter geistesabwesend und blickte abermals auf die Armbanduhr.

 

„Weißes Oberteil, blaue Jeans, rote Schuhe und Tasche“, sagte Petra mehr zu sich selbst, „das ist der passende maritime Look für ein Date mit einem Seebären.“ Und schaute ihre Tochter an, die abermals nach der Uhr schielte.

 

„Was ist los? Ständig hast du deine Uhr im Auge. Kannst ruhig gehen. Meinetwegen musst du nicht hierbleiben.“

Sie lächelte und ihre Augen glänzten. „Ich habe eine Verabredung und fühle mich so richtig gut und aufgeregt. Wie ein Teenager.“

Petra trippelte auf der Stelle und drehte sich danach mit ausgebreiteten Armen mehrmals um die eigene Achse.

„Ihr jungen Leute würdet dazu Blind-Date sagen.“

 

Ihre Tochter druckste herum: „Ich habe auch ein Date. Genaugenommen in einer Stunde.“

 

„Oh!“ Petra klopfte der Tochter auf die Schultern. „Das freut mich!“

 

Ihre Mutter stand auf, ging zur Garderobe und wählte eine Jacke aus: „Na! Dann geh! Beeil dich!“

 

„Diesmal ist das ein gaaaaaanz anderer Typ als die bisherigen!“ Schwang da in der Stimme Verzweiflung mit?

 

„Und wo ist das Problem?“ Petra hielt kurz die Luft an, weil sie ahnte, dass …

 

„Bisher gab es nie ein Problem, weil du doch immer kurzfristig auf deinen Enkel aufgepasst hast, wenn ich was vorhatte.“

 

Die Großmutter blickte kurz liebevoll in den Kinderwagen, wo der Kleine friedlich schlief. Stupste ihn kurz auf sein Näschen.

Zog sich das Sakko über und nahm ihren Schlüssel: „Ich liebe meinen Enkel. Wirklich. Aber in Zukunft stehe ich nicht mehr von einer Sekunde zur anderen als Betreuung parat.“

Wohlgefällig blickte sie noch einmal kurz in den Spiegel, sah ihre geröteten Wangen und sagte glucksend. „Ich bin tatsächlich etwas aufgewühlt.“

 

Die Tochter öffnete die Tür und rauschte wortlos samt Kinderwagen an ihrer Mutter vorbei.

 

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