Von Kate Rogers

Da lag er also. Leibhaftig und in Farbe. Mark M. seines Zeichens Bauunternehmer und der Typ aus Susannes Visionen. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie ihn wirklich gefunden hatte. Unsicher kroch sie noch näher an ihn ran. Sie musste ihn anfassen, sicher sein, dass er dieses Mal wirklich echt war und nicht nur wieder ein Trugbild. Andererseits hatte er gesprochen, zwar nicht viel, aber in ihren Visionen war er immer stumm wie ein Fisch gewesen und hatte sie nur sehr eindringlich mit seinen unglaublichen, dunkelbraunen Augen angesehen.

„Was ist denn da unten los?“, kam von oben die Stimme von Pia, „Braucht ihr Hilfe?“
Was für eine blöde Frage, natürlich brauchten sie die.
„Ihr habt nicht zufällig etwas zu trinken dabei?“ kam es schwach aus der Ecke des Bauunternehmers.
Susanne kramte in ihrer Handtasche – nichts. „Pia!“, rief sie nach oben, „wir brauchen Wasser, Licht und einen Krankenwagen und zwar schnell!“
„Wasser habe ich in meinem Rucksack. Ich werfe es gleich runter. Mit einer Taschenlampe kann ich leider nicht dienen. Krankenwagen rufe ich sofort an. Was ist denn mit deinem Handy? Da ist doch eine Taschenlampe drin?“
„Das Handy habe ich beim Sturz verloren, seitdem ist auch die Taschenlampe aus. Ich finde es nicht“, erklärte Susanne.
„Achtung, hier kommt erstmal das Wasser!“, rief Pia, „Ich rufe jetzt den Krankenwagen und warte vor der Baustelle auf ihn, dann kann ich denen zeigen, wo ihr seid. Sonst müssen die euch erst noch suchen“, sagte Pia und warf die Flasche nach unten. Susanne konnte sie gerade noch auffangen, stieß sich aber an ihrem verletzten Fuß.

„Autsch! Verdammt tut das weh! So ein blöder Scheiß!“, fluchte sie.
„Das klingt aber nicht sehr damenhaft“, kam es scherzhaft vom anderen Ende der Grube. Na, so schlecht konnte es ihm nicht gehen, wenn er noch scherzen konnte.
Susanne kroch mit der Flasche rüber. Zum Glück war es nicht mehr so dunkel. Der Vollmond kam hinter den Wolken zum Vorschein, sein Schein fiel direkt in die Grube und sie konnte doch ganz gut sehen. Mark lag an der Wand und sah wirklich nicht gut aus. Geschwächt, zittrig und blass lag er auf dem Boden und konnte kaum den Kopf heben. Sie gab ihm die Wasserflasche. Hastig griff er danach und wollte daraus trinken, aber seine Hände zitterten so stark, dass er die Flasche beinahe fallen ließ. Susanne nahm sie ihm ab.
„Warte, ich helfe dir.“ Sie setzte sich neben ihn: „Kannst du deinen Kopf auf mein Bein legen?“ Er konnte. Susanne atmete tief ein. Ihm so nah zu sein, war ein komisches Gefühl. Ihn zu fühlen und anfassen zu können auch. Mit der einen Hand stützte sie seinen Kopf und mit der anderen hielt sie ihm die Flasche an den Mund. Er nahm einen tiefen Schluck. Susanne setzte die Flasche ab.
„Mehr!“, forderte er.
Sie bremste ihn ab: „Nicht so schnell, langsam trinken. Ein Schluck nach dem anderen. Sonst kommt alles wieder raus! Du liegst hier schon ein bisschen länger, oder?“
„Seit Montagabend. Welcher Tag ist denn heute? Hier unten verliert man ein bisschen das Zeitgefühl!“
„Sonntag“, sagte Susanne.
„Wow, dann liege ich hier schon eine ganze Woche?“
„Ja, warum hast du niemanden angerufen? Und wieso war niemand auf dieser Baustelle?“, wollte Susanne wissen. Das fragte sie sich schon die ganze Zeit. Hier musste es doch von Menschen nur so wimmeln. Bei der Größe der Baustelle eigentlich unverständlich, wieso ihn niemand gefunden hatte.
„Tja, mein Handy ist, ebenso wie deins, beim Sturz kaputtgegangen. Und die Baustelle – der Bauunternehmer ist pleite, genauso wie die Subunternehmer. Hier wird seit Wochen nicht mehr gearbeitet. Ich sollte die Baustelle mit meinen Leuten übernehmen und wollte sie mir vorher ansehen und da bin ich in diese blöde Grube gefallen. Zum Glück wollte ich danach ins Fitness-Studio und hatte meinen Rucksack mit Wasser und ein paar Snacks dabei. Aber seit 2 Tagen sind meine Vorräte erschöpft. Ich dachte schon, das wäre mein Ende. Wie kommst du auf diese Baustelle?“, fragend sah er Susanne an.

Wie sollte sie das jetzt erklären? Wo blieb denn nur Pia mit dem Krankenwagen? Sie konnte ihm doch nicht die Wahrheit sagen. Wie klang das denn? Hey, ich hatte Visionen von dir und bin ihnen gefolgt und sie haben mich hierher geführt. Total abgefahren. Der würde sie doch für verrückt halten.
Er sah sie fragend an: „Hallo, träumst du? Wie hast du mich gefunden? Kenne ich dich nicht? Irgendwie kommst du mir bekannt vor? Und diese blauen Augen…!“
„Hoppla“, dachte Susanne, „was wird denn das?“ Vielleicht sollte sie ihm doch einfach die Wahrheit sagen. Das klang zwar etwas wirr, aber was sollte es. Sie sah ihm tief in die Augen, strich ihm die braune Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Finger prickelten an den Stellen, an denen sie ihn berührte. Wie von einem Stromschlag. Sie zuckte zurück. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Da war es wieder – dieses Prickeln. Sie wollte sich befreien, aber er ließ sie nicht los.
„Kriege ich jetzt noch eine Antwort, bitte“, sagte er mit rauer Stimme.

Susanne resignierte. Sie würde es ihm erzählen und dann würde sie ja sehen, wie er reagierte. Irgendwie gab es da eine merkwürdige Verbindung zwischen ihnen. Das spürte sie genau.
„Das klingt jetzt sicher total lächerlich, aber ich habe dich gesehen. Seit Montag bist du mir immer wieder erschienen – als Vision. Ich habe sie zuerst ignoriert, weil ich gedacht habe, ich würde spinnen. Aber heute habe ich einen Artikel in der Zeitung über dich gelesen, ganz hier in der Nähe am See. Dann sah ich dich wieder. Erst auf der Brücke am See, da zeigtest du Richtung Baustelle und dann später am Zaun und hier am Kran…“. Ängstlich sah Susanne ihn an. Lachte er sie aus?

Ganz im Gegenteil, er sah sehr ernst aus und er hielt immer noch ihre Hand. Legte sie jetzt auf seine Brust und fragte: „Du hast mich gesehen? Ich dich auch! Ich dachte, es sei ein Traum, eine Halluzination vom Hunger und Durst. Es war schrecklich. Ich konnte dich sehen, aber kein Wort sagen und ich glaubte schon nicht mehr an Rettung und jetzt fällst du mir hier vor die Füße. Deine Augen so blau, wie in meinen Träumen und ich kann dich anfassen und mit dir reden. Wer bist du?“

„Ich heiße Susanne! Aber das ist doch jetzt gar nicht wichtig. Wichtig bist du! Wie geht es dir, abgesehen von Hunger und Durst? Bist du verletzt?“. Susanne setzte ihm die Flasche nochmal an den Mund. Wenn er trank, konnte er wenigstens nicht reden und sie noch mehr verwirren. Was war das hier? Gegenseitige Visionen – was für ein Quatsch. Schicksal?!? Gab es nicht, nicht in dieser Welt. Das hatte man ihr schließlich früh genug eingebläut. Alles Humbug und Zeitverschwendung!

„Susanne? Sieh mich an!“, forderte Mark sie auf.
Sie sah ihn zögernd an. Liebevoll ruhte sein Blick auf ihr. Unfassbar – nach allem, was er durchgemacht hatte.
„Mir geht es gut. Ich bin nicht verletzt, außer in meinem Stolz. Hunger habe ich und Durst, klar und ich fühle mich wie 85. Aber jetzt, wo deine Freundin wohl gleich mit dem Krankenwagen kommt, ist das nicht mehr wichtig. Wichtig bist du! Und die Tatsache, dass du mein Leben gerettet hast. Es ist wie ein Wunder! Visionen, Traumbilder – ich bin Bauunternehmer, ein Macher! Ich glaube eigentlich nicht an sowas, aber jetzt stehst du hier. Hergeführt von Visionen, die nicht nur du erlebt hast, sondern ich auch. Das erste Mal habe ich dich Montagabend gesehen, bevor ich auf die Baustelle ging. An der Bushaltestelle. Da bist du mir aufgefallen. Wegen deiner Augen“, er zwinkerte und lächelte sie an, „Dann bin ich auf die Baustelle gegangen und in dieses Loch gefallen und konnte nicht aufhören an dich zu denken und das war – wieso auch immer – meine Rettung. Irgendwie habe ich dich erreicht, warum weiß ich auch nicht. Aber eins weiß ich genau – ich will dich nicht verlieren. Eins habe ich hier unten gelernt. Es kann jeden Tag zu Ende gehen. Ich werde keine Zeit mehr verschwenden. Wenn der Krankenwagen gleich kommt, will ich deinen vollständigen Namen, deine Adresse und deine Telefonnummer haben, damit ich dich wiederfinden kann, sobald die mich entlassen. Ich will dich wiedersehen, kennenlernen und herausfinden, ob es diese Liebe-auf-den-ersten-Blick-Geschichte wirklich gibt oder ob mir nur der Hunger den Verstand raubt. Ich…“.

Susanne legte ihm den Finger auf den Mund. Sie sah ihn zärtlich an. Er hatte Recht. Es gab dieses komische Gefühl zwischen ihnen. Diese Verbindung, als würden sie sich schon immer kennen. Als hätten sie sich nach langer Trennung wiedergefunden. Seelenverwandte – vielleicht war er ihrer. Auf jeden Fall hatte sie die letzte Woche von ihm geträumt und diese Visionen gehabt. Jetzt legte er seine Hand in ihren Nacken und zog ihr Gesicht ganz nah an seins. „Was…?“
„Schhhh, nicht mehr reden!“ Seine Lippen näherten sich, senkten sich auf ihre und die Welt versank.

In der Ferne hörte sie die Sirenen des Krankenwagens.

To be continued…

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