Von Kornelia Wulf                                          

Als sie die Nase in der kleinen Brust vergräbt, scheint ein Pfirsichzweig über ihrem Kopf zu wachsen. Und jede Faser ihrer Seele drängt danach, ihn fest an sich zu drücken. Doch er darf jetzt nicht aufwachen. Gina öffnet die Sweatshirtjacke. Die Kängurutasche wirft eine schlaffe Beule über ihrem straffen Bauch. Sie schiebt die Hand unter den mit flaumweichen Haaren bewachsenen Nacken und bettet ihn vorsichtig in den Hohlraum. „Wie für ihn geschneidert.“, denkt sie. Seine Wimpern flattern ein bisschen, als sie den Reißverschluss hochzieht, ihn bis auf einen Atemspalt verhüllt.

 

„Endlich habe ich dich wieder gefunden. Björn“, Gina versucht das Zittern zu unterdrücken, das ihren Augenmuskel zucken läßt, „nach so langer Zeit.“

 

Dann fällt ihr Blick auf die fremde Frau. Sie wirft sich zur Seite auf dem weißen Laken, wendet sich ab von Björn, während ein schmatzendes Schnaufen durch ihre Lippen dringt. „Ja, schlafe nur weiter“, zischt Gina und unterdrückt den Impuls, auf den Scheitel der Träumenden zu spucken. „Du hast ihn gar nicht verdient.“. Ihre Finger tasten nach der Klinke der Rooming-In Tür, drücken sie behutsam hinab. Gina huscht über den Flur, das kleine Bündel eng an ihren Körper gepresst. Nur noch wenige Meter muss sie überwinden. 

 

Dann überfällt er sie wieder. 

 

Dieser Spuk, der sie seit Wochen verfolgt. „Nein. Bitte. Nicht jetzt.“ Ginas Kinn zittert. Wie eine Marionette, die wehrlos an ihrem  Führungskreuz hängt, verliert sie die Kontrolle über ihre Füße. Und während sie sich verhaspeln und gegenseitig blockieren, scheinen die Wände um sie herum ein Eigenleben zu entwickeln. Gina glaubt ein rasselndes Giemen wahrzunehmen, als sie aufeinander zu kriechen. Und wieder spürt sie den Druck, der ihren Brustkorb in einen Schraubstock einspannt, sie zum Keuchen bringt. Der sich quälende Atem will schon seinen Dienst aufgeben, als sie die Stimme hört…

 

… „Hallo, es ist 5 Uhr 15. Nicht die passende Zeit für einen Besuch auf der Mutter-Kind-Station“, Schwester Beate schüttelt gähnend den Kopf, massiert ihre verkrampfte Kopfhaut. „Nicht zu glauben“, murmelt sie, während die schmächtige Gestalt, die ihr Gesicht in einer schwarzen Kapuze verhüllt, mit schlingernden Schritten auf den Ausgang zu eilt. „Hey, bleiben sie doch endlich stehen!“, doch der automatische Diener summt bereits, schließt die Tür hinter dem seltsamen Wesen.

 

„Auch das noch“, seufzt Beate, „eine halbe Stunde vor Dienstübergabe.“. Nach dieser Nacht, in der sie sich gewünscht hatte, es wüchsen ihr ein zweites Paar Hände. Gegen Zwei herrschte Alarmstimmung auf der Station. Eine Plazentaablösung bei Frau Krülls. Und dann noch der schwankende Vater. Herr Krülls Gesichtsfarbe erinnerte an staubigen Kleister, als Dr. Huber ihn um ein Haar verfehlte und seine Stirn auf die Bettkante krachte. 

Und ihren wohl verdienten Schlaf kann sie heute auch aus dem Kalender streichen. Die Zeit wird nur für einen in starken Kaffee reichen, bevor sie die Quälgeister in die Kita bringt. Beate hört schon, wie Lars „Böse Mama“ brüllt, spürt schon, wie er seine Schuhsohlen gegen ihre Waden stemmt, wenn sie die beiden hinter sich her zerrt. Gestern blieben sie an jeder Ecke stehen. Und um dem Chaos die Krone aufzusetzen, sprang Lars über den Zaun von Herrn Schuster. „Der sieht aus wie ein Krokodil“, schrie er, als er das gezackte Granitexemplar aus dem Steingarten des Nachbarn klaute, kreiert von  einem Pflanzendesigner. Und auch Ina warf sich heulend auf den Bordstein, als sie Fatima zurück in die Wohnung bringen musste. Ihr Ein und Alles, von dem sie sich selbst auf dem Klo nicht trennen will. Von dieser grässlichen Stoffpuppe mit dem schielenden Knopfauge, das schon halb auf ihrer Nase schlenkert und Beate nach jedem Nachtdienst anklagend anstarrt.

 

Dann hört sie ein Motorgeräusch durch das gekippte Flurfenster. Und ihr Blick folgt dem geheimnisvollen Gast, der just in diesem Moment das Klinikfoyer verlässt, auf ein Taxi zustürmt und in seinem Innenraum verschwindet. Sie kramt in der Krankenhauskitteltasche, als das Rufsignal aus Zimmer 5 aufblinkt…

 

…Sandra wurschtelt sich aus dem weißen Oberbett. Reibt die letzten Traumfetzen aus dem Sinn und entdeckt Donald und Daisy auf dem Zifferblatt der Wanduhr, die sich auf der Sechs umarmen. Mehr als fünf Stunden sind verstrichen, seitdem sie sich kurz nach dem letzten Stillen wieder in die Kissen vergrub. „Was für ein fürsorgliches Kind. Erst drei Tage weilt es auf dieser Welt, doch es lässt seine Mutter schon ausschlafen.“ 

Sandra greift nach den Streben des Babybetts. Und mit jedem Zentimeter, den sie es näher an sich heran rollt, spürt sie, wie das Verlangen in ihr wächst. In ihr züngelt. Denn sie muss es fühlen. Muss es wieder und wieder kontrollieren, dass sein Körper auch wirklich existiert. Nach diesen endlosen Wochen des Wartens. „Sie müssen sich schonen. Dringend.“, appellierte Frau Dr. Schäfer. „Damit er bei ihnen bleibt.“ 

„Das schaffen wir“, Jens versuchte, Farbe ins Dunkel zu bringen und türmte Sandras Lieblingslektüre neben dem Sofa auf. Und während die Buchstaben an ihren Augen vorbei plätscherten, wagte sie sich nicht zu rühren. 

 

Damit er nicht zerfließt, sich nicht auflöst in ihr.

 

Sandra hebt den Kopf, lässt ihre Hand in dem Babybett baumeln. Riecht schon die Süße der Penatencreme. Gleich werden ihre Finger seine Haut streicheln, an seinen Konturen entlang fahren, an der winzigen Delle zwischen Rippen und Bauch. Doch sie suchen ihr Ziel vergeblich. 

Sandra schnellt hoch. Ruckelt. Zuckt. Als sei sie Teil eines Stromkreislaufes. Und während sie auf den Abdruck in dem Bettlaken schaut, glaubt sie den Umriss seines Skeletts zu erkennen. Sie kneift sich in die Wange. Zwirbelt. Dreht. Der Albtraum muss ein Ende finden. Jetzt. Sofort.

Und während das Blut in die Zehen absinkt, beginnen sich Daisy und Donald vor ihren Augen zu wellen. Für einen Moment breitet sich lähmende Leere in Sandra aus, bis ihr spitzer Schrei die Stille sprengt.

 

*

 

Gina knallt ihren Kopf gegen den Unterschrank. Im schweren, dumpfen Rhythmus. „Er will mich nicht“, flüstert sie. Stunde um Stunde hatte er geschrien, die kleinen Finger zu Fäusten geballt, als sie den Sauger zwischen die widerspenstigen Lippen quetschte. Dann ebbte das Geräuschinferno ab und verwandelte sich in ein heiseres Krähen. Bis er letztendlich verstummte. „Das ist nicht fair“, murmelt Gina, während sie versucht, ihr Haar von dem schleimigen Sabber zu befreien. Die letzten Hartz IV Reserven musste sie zusammenkratzen, um das teure Milchpulver zu kaufen. Doch Björn spie es aus auf sie in hohem Bogen. Und Gina spürt den Zorn, der das Verbotsschild überspringt, sich aufbläht in ihren Armen. Sie umklammert seine Brust mit festem Griff. Will ihn schwenken. Schütteln. Seine Undankbarkeit aus ihm heraus prügeln.

 

*

 

Punkt 10 Uhr führt Richter Gerber die Tasse an seine Lippen und folgt seiner eisernen Regel. Auch wenn es im Amtszimmer dampft und brummt. Zehn Minuten Kaffeepause. Während er einen Keks in die dampfende Flüssigkeit tunkt, schlägt er die Zeitung auf.  Und als Alfons Gerber die schwarze Kapuze auf Seite Zehn erblickt, schiebt er das Horn seiner Brille mit Ruck gegen die Stirn.

 

Für einen Moment hört er noch einmal das Knacken. Als bräche sein Beschluss das Rückgrat der jungen Frau, den er gestern in ihrer Verhandlung verkündigte. …

 

…“Heute wurde die neunzehnjährige Gina B., der es am 23.06. gelungen war, unbemerkt in ein Zimmer auf der Mutter-Kind Station des St. Barbara Krankenhauses einzudringen und dort den kleinen Dieter K. zu entführen, vom Amtsgericht in die Forensik der hiesigen LVR Klinik überstellt. Der verhandelnde Richter Alfons Gerber folgte hiermit der Empfehlung des Sachverständigen Dr. Meister…Dass der erst drei Tage alte Junge bereits am Abend zurück in die Arme der erleichterten Eltern gelegt werden konnte, ist dem beherzten Eingreifen der Krankenschwester Beate S. zu verdanken. Sie fotografierte mit ihrem Smartphone das KFZ Kennzeichen des Taxis, das Gina B. zu ihrer Wohnung fuhr. …Aus verlässlicher Quelle wurde uns zugetragen, dass Gina B. am 12.04. dieses Jahres nach einer Partytour im Autobahntunnel Köln-Kalk schwer verunfallte und bei diesem tragischen Ereignis ihren noch ungeborenen Sohn verlor…“

 

Der Richter ballt die Zeitungsseite in seiner Hand, schleudert sie in den Papierkorb. „Da konnte wieder einer den Hals nicht voll genug bekommen“, knirscht er.

 

*

 

Gina aalt sich auf der Bank, lässt einen Sonnenstrahl auf ihrer Nase tanzen. Sie hat es geschafft, die erste Hürde übersprungen und ihr Therapiemantra glaubhaft kopiert. Bei jeder Sitzung den Kopf gesenkt und es mit schuldvoller Miene gemurmelt. „Ich darf keine Fundstücke behalten. Ich muss sie zurückgeben, auch wenn sie den Schmerz meines Verlustes mildern“, und damit Frau Pechstein von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt. Kein anderer Patient ihrer Station darf sich ohne Aufsicht im Klinikgarten aufhalten. Selbst Franz, der schon länger als ein Jahr zu dieser schrägen Truppe gehört, sitzt hier dicht an Pfleger Max geklemmt, einem Schwergewicht der Sonderklasse. Nur ihr, Gina, ist es bereits nach drei Wochen gelungen. Diesen Erfolg muss sie ausnutzen. Die Maske aufsetzen und kühlen Kopf bewahren. Sie versucht zu lächeln, zieht den rechten Mundwinkel hoch bis zur Schläfe, was ihre Mimik in Schieflage bringt. 

 

Gina bückt sich nach einer der Butterblumen, die wie wild auf der Wiese wuchern. Zupft an den Blütenblättchen.

 

„Ich werde ihn wiederfinden…ich finde ihn ni… …!“

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