Von Raina Bodyk

Erschöpft wischt sich Katrin den Schweiß von der erhitzten Stirn: „Puh, ist das heiß! Der Wettergott meint es etwas zu gut mit uns armen Archäologen!“

Stefan grinst sie mitfühlend an: „Denk lieber an das Rieseninteresse, wenn wir mit unseren Funden an die Öffentlichkeit gehen. Ein Tempel, der der altägyptischen Göttin Isis und der römischen Magna Mater gemeinsam geweiht ist! Mitten in Mainz! Das reicht für viele wissenschaftliche Artikel!“

Mit ihren Helfern graben sie so vorsichtig wie aufgeregt weiter und hoffen, mit Hilfe von Spaten und Pinseln wertvolle Entdeckungen zu machen.

Auf einmal wird Katrin ganz euphorisch. In einem nicht sehr tiefen Schacht in einer Nische findet sie kleine, zusammengefaltete Metalltäfelchen, versehen mit vielen winzigen Zeichen. „Stefan, schau mal! Die sehen aus wie die Fluchtäfelchen aus Blei, die bisher fast nur im Mittelmeerraum gefunden wurden! Das sind bestimmt an die dreißig Stück! Das wäre eine echte Sensation! Wir müssen sehr, sehr achtsam vorgehen, wenn wir sie auffalten. Nicht, dass sie zerbrechen.“

„Was meinst du, aus welcher Zeit die stammen?“

„Ich schätze, circa 10 vor bis 100 nach Christus. Davor siedelten noch keine Römer in Mainz. Blei war damals ein vielfältig genutztes Material, auch zum Schreiben, wie hier.“

 

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„Oh je!“, kommentiert Livia, die durch das zur Straße liegenden Küchenfenster beobachtet, wie sich ihre Nachbarin Serpentina nähert. „Was die schreckliche Klatschbase wohl jetzt wieder zu erzählen weiß?“

„Livia, Livia“, dröhnt auch schon deren schrille Stimme in ihre unwilligen Ohren. „Ich muss dir unbedingt etwas berichten. Ich meine, das solltest du wissen!“

Seufzend lädt die Angerufene sie in die Küche ein. Vor lauter Eifer verhaspelt sich die Alte fast: „Es ist in meinen Augen schrecklich, wenn die Ehefrau als letzte erfährt, worüber sich schon die halbe Stadt auslässt. Daher …  Ich habe deinen Mann mit unserer Stadtschönheit gesehen – in eindeutiger Situation.“

Livia kann das nicht ernst nehmen. Doch nicht ihr braver Sextus!

Doch als Serpentina sich wohlig in Einzelheiten ergeht, wird ihr leider nur zu klar, dass die Nachbarin wohl die Wahrheit spricht. Sie muss sich dringend vergewissern! Deren Worte beunruhigen sie mehr, als sie sich eingestehen mag.

Aber für den Moment unterdrückt sie mit aller Kraft die in ihr auflodernde Wut. Das Schauspiel gönnt sie der sich im Unglück der anderen so wollüstig suhlenden Nachbarin nicht.

Zur Mittagszeit bringt sie ihrem Mann immer einen großen Topf Suppe. Eine gute Gelegenheit, mal nach dem Rechten zu sehen. Seine Tischlerwerkstatt läuft sehr gut und sie können sich manche Annehmlichkeit leisten. Seitdem das gut ausgerüstete Legionslager als Grenzposten und zum Schutz der hier lebenden römischen Familien aufgeschlagen worden ist, erleben die Handwerker und Händler einen bis dato unbekannten geschäftlichen Erfolg. Auch ist das Leben sicherer geworden. Die wilden Germanen auf der rechten Flussseite wagen sich meist nicht zu nah heran.

Nachdem Livia das Essen abgeliefert hat, versteckt sie sich hinter einem offenstehenden Tor auf der anderen Straßenseite. Tatsächlich! Es ist nicht zu fassen, da schleicht doch wirklich diese blonde Hexe Diana, hüftenwackelnd wie eine Käufliche, in die Werkstatt! Den Gerüchten nach sollen ihr schon viele Männer aus Mogontiacum zum Opfer gefallen sein. Aber auch ihrer?!

„Das wird Folgen haben, mein Lieber. Für diese Demütigung – anscheinend lachen schon alle über mich und wispern hinter meinem Rücken – wirst du zahlen!“, murmelt sie zähneknirschend.

 

Als Sextus fröhlich pfeifend und nichtsahnend abends nach Hause schlendert, erwartet ihn eine Furie an der Haustür, liest ihm in höchst peinlicher Lautstärke, hörbar für alle, die Leviten und wirft ihm seine Kleider vor die Füße: „Geh doch zu deiner Dirne, du wandelnde Schande, du Betrüger, du Lügner!“ Damit knallt sie ihm donnernd die Tür vor der Nase zu.

Als wenig später ihre Freundin vorbeikommt, schimpft sie weiter: „Rauswerfen ist nicht genug! Sextus soll richtig leiden! Und sie auch! Ich hasse sie beide!“

Antonia kann das gut nachfühlen. „Ich glaube, ich weiß ein probates Mittel. Als mein Großvater wegen eines angeblichen Betrugs vor Gericht gezogen wurde, war er ganz verzweifelt. Er wusste, dass die Zeugen des Gegners von diesem bestochen waren. Dem Richter würde gar nichts anderes übrigbleiben, als ihn zu verurteilen.“

„Das ist bitter. Und was hat er dann gemacht?“

„Er hat mir von geheimnisvollen Zauberritualen erzählt, mit deren Hilfe man die Götter beschwören kann“, erwidert die junge Frau und fährt fort:

„Er hat ein Fluchtäfelchen angefertigt und darin die Dämonen gebeten, die Zungen der Zeugen zu binden. Sie waren dann während des ganzen Prozesses stumm wie die Fische und konnten kein falsches Zeugnis ablegen.“

„Oh! Wenn das funktioniert, hat mein Mann das letzte Mal in seinem Leben gelacht! Aber wie geht das? Man muss doch sicher bestimmte Regeln beachten.“

„Genau weiß ich es auch nicht. Es ist ein festgeschriebenes Ritual. Großvater hat erzählt, dass im Isis-und-Magna-Mater-Tempel Tafeln an der Wand hängen, auf denen die genauen Anweisungen zu den defixiones niedergeschrieben sind. Sie stammen aus alten, ägyptischen Zauberpapyri. Denke aber unbedingt daran, nicht deinen Namen hinzufügen! Stell dir vor, das Plättchen würde zufällig gefunden, dann könnten dein untreuer Mann und sein Liebchen einen Gegenzauber über dich legen.“

 

Livia sucht – erniedrigt, todtraurig und gleichzeitig sehr zornig – zielstrebig den Tempel auf und prägt sich die erforderlichen Regeln ein.

Als erstes braucht sie ein Stück Blei, welches sie einfach von einem herumliegenden Rohr abschneidet. Sie erhitzt es und gießt das geschmolzene Blei auf eine glatte Oberfläche, hämmert es flach und schneidet eine kleine Tafel aus. Mit einem Stilus ritzt sie mit winzigen Buchstaben ihren Zauber ein:

 

Ich bitte euch, Proserpina, Pluto und dreiköpfiger Cerberus, bestraft Sextus von Mogontiacum für sündigen Beischlaf. Bindet seine Augen und seine Zunge, auf dass er schmäht, was er begehrt, hässlich glaubt, was schön, Berührung fühlt als Schmerz. Der Körper seiner Konkubine Diana soll von Würmern und Krebs befallen werden. Bindet ihre Zunge, auf das sie stumm bleibe ein Leben lang. Sie sollen sich mit keinem Geld und keinem Gebet vom Fluch befreien können. Dies gewähret mir, Ihr Götter, so flehe ich Euch an.

 

Sie fügt zwischen die Sätze noch einige magische Symbole ein, die ihr die Gunst der finsteren Unterweltgötter sichern sollen. Sie drückt vorsichtig ein kleines Loch in das Täfelchen und steckt einen spitzen Nagel zur Verstärkung ihrer Verwünschung hindurch.

Mit grimmiger Stimme murmelt sie dazu: „An diesem Nagel sollst du hängen, Sextus! Gebunden an diesen Fluch wie die Sterne ans Firmament, unfähig, dein künftiges Schicksal zu beeinflussen.“

Genüsslich stellt sie sich dabei vor, wie sie das spitze Werkzeug ihrem Gatten ins untreue Herz bohrt. So muss der Zauber gelingen!

Sorgfältig faltet Livia das Bleiplättchen, solange es noch nicht völlig ausgehärtet ist, mehrfach.

 

Für die Verbergen des Fluchtäfelchens sind die richtige Zeit – abnehmender Mond – und der gebührende Ort wichtig. Nur so kann die bannende Kraft wirken. Die Anweisungen aus dem Tempel empfehlen, die Bleitafel im Grab von vorzeitig oder gewaltsam Verstorbenen zu verscharren. Da diese ihre Bestimmung nicht erreicht haben, dienen sie als Vermittler zu Göttern und Dämonen, bis sie ihr vorgesehenes Lebensalter erreicht haben.

Livias Onkel ist erst vor kurzem bei einem Scharmützel mit den Barbaren vor den Stadttoren gestorben. Sie schleicht in der Finsternis zu seiner letzten Ruhestätte, vergräbt das Plättchen und murmelt dabei dessen Text gebetsartig vor sich hin. Immer wieder schaut sie sich misstrauisch um, denn nur Geheimhaltung garantiert den Erfolg.

Zum Schluss ein kurzer, verletzter Lacher: „Geh elendiglich zugrunde, du Schuft.“

 

**

 

Katrin und Stefan stecken in ihrer Werkstatt die Köpfe zusammen und begutachten die Täfelchen, die sie bereits entfaltet haben. Es ist eine langwierige Arbeit. Leider können sie fast nichts lesen. Die Buchstaben sind winzig und die dazwischen eingeritzten Symbole und Linien machen es nicht leichter. Gottseidank gibt es seit ein paar Jahren eine Methode, solche Fluchtafeln zu entziffern. Aber da werden sie sich noch eine ganze Weile gedulden müssen, was ihnen jetzt schon schwerfällt. Sie sind so neugierig, seitdem sie diesen ganz besonderen Fund gemacht haben. Vielleicht ist der vorangegangene Schadenszauber ja auch dabei …

Stefan sinniert vor sich hin: „Es müssen sehr gefährliche Zeiten gewesen sein, wenn jeder jeden aus den nichtigsten Gründen verfluchen konnte! “

Katrin hört nur mit halbem Ohr zu. Sie hat gerade sorgfältig ein weiteres Plättchen aufgefaltet bekommen. Ihr entgeht nicht, dass es sich von den anderen unterscheidet: nicht durchlöchert, kein Nagel und nur ein kurzer Text. Das Beste aber: die Buchstaben haben eine lesbare Größe! Mit vor Aufmerksamkeit gerunzelter Stirn vertieft sie sich in das Geschriebene. Dann stößt sie einen überraschten, kleinen Schrei aus.

„Stefan, das glaubst du nicht! Hier steht keine Verwünschung!“

„Nicht? Was ist es dann?“

„Hier lies!“

 

Ich danke euch, Proserpina, Pluto und dreiköpfiger Cerberus, dass Ihr das böse Tun von Sextus und Serpentina bestraft habt Gestern hat Sextus sein qualvolles Leben beendet und sich erhängt. Ich preise Euch für Euer gerechtes und gütiges Eingreifen.

 

Die beiden Archäologen sehen sich an, begeistert, dass sie so eine Danksagung an die Götter entdeckt haben, aber auch entsetzt und berührt. Dieser Text bringt ihnen die antike Welt plötzlich viel näher, sie wird fühlbar. Lebendige, leidende, liebende Menschen tauchen vor ihren Augen auf. Sie spüren die Rachegefühle des oder der Verfluchenden, bekommen eine kleine Ahnung von der Verzweiflung des Opfers.

Katrin spricht aus, was auch Stefan durch den Kopf geht: „Ich wüsste zu gern, was die beiden verbrochen haben und wer sich rächen wollte! Eine Liebesgeschichte …?“