Von Daniel Büttrich

 

Auch das noch! Meine Mutter bei der Polizei! Ich fasse es nicht! Sie, die immer alles im Griff und unter Kontrolle hat, verläuft sich in der Stadt und findet nicht mehr nach Hause! Ob sie weiß, was sie mir dadurch für einen Stress verursacht? Und anstatt, dass die Polizisten sie nach Hause fahren, muss ich das nun übernehmen. Warum bezahle ich die mit meinen Steuern?! Ich musste die Arbeitsstelle früher verlassen. Und ich habe einen sehr wichtigen Job im Marketingbereich einer großen Firma. Sehr wichtig, das können Sie mir glauben! Mein Alltag mit Job und Familie ist von vorne bis hinten durchgetaktet, da fügt sich eine so überflüssige Aktion wie die meiner Mutter überhaupt nicht ins Programm ein. Die Fahrt zur Polizeistation im Zentrum passt mir gar nicht in den Kram. Jetzt muss ich Mutter zu ihrer Wohnung fahren. Sie wohnt am anderen Ende der Stadt. Dann nach Hause, Finn-Ole vom Reitunterricht abholen, Abendessen zubereiten. Finn-Ole geht auf eine Privatschule, müssen Sie wissen. Er ist ein hübscher Junge. Ein guter Schüler auch, ja, nur ein wenig zu faul. Nun freue ich mich auf die Parkplatzsuche!

„Sind Sie Frau Dorn?“

„Ja, die bin ich! Hallo Mama! Kann ich meine Mutter mitnehmen? Sie hätten mir einiges an lästigen Umständen erspart, wenn Sie sie nach Hause gebracht hätten! Oder gibt es bei Ihnen einen Polizeiwagenengpass?“

„Frau Dorn, Ihre Mutter ist ganz offensichtlich sehr verwirrt. Sie hatte keine Papiere bei sich und konnte uns auch nicht sagen, wo sie wohnt. Lediglich, dass sie alleine wohnt und Theaterschauspielerin ist, wusste sie. Ihre Telefonnummer aber kannte sie auswendig.“

„Natürlich weiß ich die Telefonnummer meiner Tochter auswendig, genau so wie ich Mutter Courage auswendig weiß! Angela, mein Töchterchen, schön, dass du da bist!“

„Bevor Sie Ihre „Fundsache“ mitnehmen, Frau Dorn, müssen Sie sich bitte ausweisen und ein Formular unterschreiben.“

„Fundsache…?! Sie nennen meine Mutter Fundsache?! Ist meine Mutter für Sie eine Sache?! Das ist ja wieder typisch für die Staatsvertreter, Ordnung und Bürokratie geht über alles, da werden aus Menschen dann auch einmal Sachen, nicht wahr? Eine wachsende Zahl an Gefährdern und Extremisten läuft frei herum, aber meine harmlose Mutter wird in Gewahrsam genommen wie eine Schwerverbrecherin, und jetzt muss ich wohl auch noch jede Menge Papierkram ausfüllen! Ich habe einen harten Job und Familie, verstehen Sie das?!“

„Angelachen, beruhige dich! Der Herr war ganz freundlich. Er hat übrigens auch Familie. Nu lass mal gut sein. Natürlich hast du recht, dass mich in früheren Zeiten ein Kavalier der alten Schule nach Hause gefahren hätte. Vielleicht hätte er eine Dame wie mich sogar noch zum Essen eingeladen. Aber das sind heute einfach andere Zeiten.“

„Meine Damen, wenn ich auch etwas sagen dürfte: Das Ausfüllen des Formulars wird kurz und schmerzlos sein, dann dürfen Sie Ihre Mutter mitnehmen.“

„Danach fahren wir zu Rudolf, Angela. Das habe ich gestern mit ihm ausgemacht. Ich glaube, er wird sich freuen uns zu sehen.“

„Mama! Rudolf ist schon lange tot!“

„Neeee! Da täuschst du dich! Rudolf war gestern bei mir zu Besuch auf Kaffee und Kuchen!“

Ich schüttele den Kopf und fülle das Formular aus.

„Du trinkst zu wenig, Mama. Darum bist du manchmal verwirrt.“

„Meine Damen, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Frau Dorn, denken Sie doch einmal über eine Betreuung für Ihre Mutter nach. Wenn sich verwirrte, alte Menschen in der Stadt verlaufen, kann allerhand passieren! Nicht zu vernachlässigen sind die Gefahren in den eigenen vier Wänden. Ich sage nur: Die vergessene Herdplatte, der Klassiker!“

„Junger Mann, nu‘ ist aber mal gut mit Ihrer übertriebenen Vorsicht! Ich bin eine selbständige Frau, die ohne fremde Hilfe auskommt! Wer sagt außerdem, dass ich mich verlaufen habe?! Das ist mir neu!“, schmettert meine Mutter dem Polizisten entgegen.

„Da sehen sie es! Sie trinkt zu wenig, das ist der Grund. Sonst ist sie völlig normal!“, füge ich hinzu.

„Auf Wiedersehen und alles Gute!“, sagt der Polizist in einem freundlichen Ton.

„Du kommst für ein paar Tage zu uns, Mama! Wir fahren jetzt kurz zu dir und holen einige Sachen ab!“, sage ich bestimmt.

Meine Mutter grummelt.

„Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn sie zu uns ziehen würde. In unserem Stadtviertel geht es geregelter und gediegener zu als hier. Wie es sich im Lauf der Jahre verändert hat! Die Neubauten verschandeln die Gegend extrem. Schnell, hässlich und teuer, es sieht hier bald aus wie in Bukarest unter Ceaușescu. Und immer mehr solcher Leute ziehen auch in ihrer Nachbarschaft ein! Wie sich diese Welt rasant wandelt, und wir uns durch diese Veränderung in Frage gestellt sehen! Diversität, digitales Leben, das fordert! Arme Mama!“, denke ich vor mich hin, als wir in der Straße meiner Mutter parken.

In der Wohnung verbringen wir mehr Zeit als eingeplant. Meine Mutter nervt mich gewaltig, weil sie darauf besteht, Theaterstücke zu proben. Sie zitiert aus Brechts „Mutter Courage“, woraufhin sie kreuz und quer durch verschiedene Theaterstücke hüpft und manches durcheinander bringt.

„Mein Mädchen, Angela, ich bin voll im Geschäft. Auf der Bühne stehen dieses Jahr Minetti von Bernhard und Mutter Courage auf dem Programm! Und die Marie aus Büchners Woyzeck. Im Spätherbst habe ich übrigens einen Filmdreh mit der Senta Berger und dem Heiner Lauterbach! Ich freue mich sehr!“

„Mama, du stehst nicht mehr auf der Bühne! Und auch nicht mehr vor der Kamera! Jetzt mach‘ dich bitte fertig, Finn-Ole wartet auf mich.“

„Ich stehe nicht mehr auf der Bühne…? Wenn du wüsstest, wenn du wüsstest..! Aber gut, du hast recht, ich beeile mich. Schließlich wartet ja der Finn mit der Bowle!“

Manchmal weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll!

Ich sage zu meiner Mutter mindestens viermal, dass sie höchstens eine Woche bei uns wohnen kann. Das hält sie nicht davon ab, einen Stapel an Theatertexten mitzunehmen.

„Die muss ich alle auswendig lernen!“, stöhnt sie.

Während der Autofahrt wirkt sie plötzlich abwesend und erschöpft.

„Ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich“, sage ich ihr.

„Töchterchen, mach‘ dir lieber Sorgen um dich! Mal zwickt’s leicht im Rücken, mal zwickt’s leicht im Kopf, aber das ist alles harmlos! Ich bin fit wie eine Dreißigjährige! Du hingegen stehst unter Dauerstress. Das ist die heutige Generation: Kann nichts mehr genießen, muss alles planen und lebt nicht in der Gegenwart, sondern in der Zukunft. Unsere Generation hatte auch Stress, ja, aber wir haben das Leben trotzdem genossen. Wir hatten noch Ideale! Na ja, ich setze meine Hoffnungen auf die ganz junge Generation. Die Einzigen, die gegen die Klimakatastrophe kämpfen!“

Ich erwidere nichts. Daheim setze ich meine Mutter vor den Fernseher.

Finn-Ole wartet bereits vor der Reithalle auf mich.

„Toll schaust du in deiner Tommy-Hilfiger-Jacke aus!“, begrüße ich ihn.

„Ich weiß, Mama. Warum kommst du so spät?“

„Weil uns deine Oma spontan besucht hat!“

„Okaay!“

Während der Fahrt mache ich mir Gedanken, ob wir für das Abendessen für meine Mutter, Finn-Ole, mich und Mike, meinen Mann, genügend Zutaten haben, oder ob ich zwischendurch noch einkaufen gehen muss. Wie gesagt: Mein Leben ist ein Fulltimejob, ich bin als Managerin in Job und Familie rund um die Uhr gefordert. Es wird Hühnchenfrikassee mit Reis und Gemüse geben.

Daheim schlägt es dann dem Fass den Boden aus, wie man so schön sagt! Im Wohnzimmer erwartet mich das reine Chaos: Unzählige Papiere, auf der Sofagarnitur und auf dem Boden ausgebreitet.

„Ahhh!! Mama!!“, schreie ich.

„Angelachen, hast du mich erschreckt! Entschuldige, ich stecke gerade mitten in den Proben!“

„Mutter, es reicht!“

„Mir reicht es auch mit dir! Wer sorgt denn für Ruhm und Bekanntheit und regelmäßige Einnahmen? Wer verleiht dem Familiennamen den Glanz? Ich!!“, brüllt meine Mutter.

„Was ist denn das?“; frage ich, und hebe einen Stoß Papiere auf.

„Ich gehe hoch, YouTube hören. Ruft mich, wenn das Essen fertig ist“, höre ich Finn-Ole im Hintergrund sagen.

„Mama, du hast persönliche Briefe von Peter Weiland, dem Schriftsteller, bekommen?! „Liebe Cäcilia, mein Täubchen? Ich sehne mich nach dir, verzehre mich nach dir!“ Mama, was soll das, ist das dein Ernst?“

Meine Mutter sagt einen Moment nichts und blickt verklärt in die Ferne.

„Peterchen! Ja, klar. Er hat wunderbare Gedichte geschrieben! Und ganz zärtliche Briefe!“

„Wie lange ging das?“

„Über Jahre. Viele Jahre!“

„Papa hat davon nichts gewusst?!“

„Nein, Papa und ich waren doch glücklich. Peterchen war anders. Papa war ein pragmatischer und liebevoller Mensch. Peterchen war durch und durch Gefühlsmensch.“

„Habt ihr Euch auch gesehen?“

„Freilich! Was glaubst du denn?! Was nützt die Liebe in Gedanken?“

„Mama!“

„Ja, und? Das ist das Leben einer Theaterschauspielerin. Fast alle hatten so kleine Liebschaften während der Schauspielreisen. Das mit Peter war harmlos. Er war übrigens der Einzige. Richtig geliebt habe ich immer nur Hermann. Peter war nicht mehr als eine Leidenschaft. Mein Gott, seid Ihr prüde heutzutage!“

„Mama, ich bin enttäuscht von dir! Und du strengst mich ungemein an! Ich weiß nicht, ob es nicht das Beste wäre, dich ins Heim zu stecken.“

„Guten Abend allerseits!“ Mike kommt zur Haustür herein.

„Mich ins Heim stecken!! Angela, das hätte ich nicht von dir erwartet! Das nicht!!“

Auf einmal wirkt meine Mutter entkräftet. Sie lässt sich auf die Couch fallen. Ihr Gesicht ist fahl. Tränen rollen über die Wangen.

„Du hast es schwer mit mir, ich weiß. Aber machst du denn keine Fehler?“ Sie spricht leise.

„Ich habe Vater geliebt. Sehr geliebt. Das weißt du. Peterchen war anders. Eine Briefwechsel-Liebschaft, aber als es vorbei war, war es vorbei. Man lebt doch nur einmal, Angelachen!“

Ich denke kurz an einen Seitensprung mit einem Arbeitskollegen. Dreimal haben wir gefickt. Ohne Gefühle.

Ich muss weinen. Meine Mutter steht auf. Wir umarmen uns. Wir sind wieder versöhnt. Ich muss mich mehr um sie kümmern. Ich liebe sie schließlich. Muss einen Plan machen, wie ich sie in unseren Wochenablauf integrieren kann.

– 2. Version –