Von Lea Naum

Plötzlich ist er da! Mitten auf dem Waldweg! Riesig und grauhaarig. Ein Wolf! Ich bremse hektisch. Das Hinterrad gräbt sich in den sandigen Waldboden, bricht zur Seite aus. Das Fahrrad kippt. Ich springe aus dem Sattel, wanke, finde das Gleichgewicht wieder, hieve das Rad in die Senkrechte. Ich merke, wie der Rucksack vom Gepäckträger gleitet. Bumm – liegt er unten. Ich kann mich nicht umdrehen. Ich darf das hochgefährliche Tier keine Zehntelsekunde aus dem Auge lassen.

 

Der Wolf tut das, was ich mache. Wir starren uns an. Zwischen uns liegen etwa fünfundzwanzig Meter. Mein Gehirn arbeitet fieberhaft. Wenn ich flugs kehrtmache, aufsteige und losrase? Blödsinn! Ich müsste mich umdrehen, das Rad wenden … Dann der Rucksack! Da ist alles Mögliche drin. Handy, Ausweis, Geld, Schlüssel. Ich müsste mich bücken. Spätestens in diesem Moment wäre ich ein gefundenes Fressen! Ein kurzer Sprint, ein Sprung und er hätte mich beim Wickel.

Er scheint meine Gedanken zu erraten. Er legt kurz den Kopf schief, als wolle er sein Vesper taxieren. Dann leckt er sich genüsslich die Schnauze und reckt den Hals. Was ist das? Ein Halsband! Der Wolf trägt ein Halsband! Gottlob! Es ist ein Hund!!! Ein Wolfshund vielleicht, aber ein Hund. Ich atme auf. Er scheint das zu merken. Sein Schwanz hebt sich. Er schwenkt ihn langsam hin und her, wie eine Friedensfahne. Ich löse meine rechte Hand vom Lenker und deute zaghaft ein Winken an. Dann sage ich, so lässig ich das hinbekomme, »Grüß Dich, Hund!«

 

Das war blöd, denn prompt setzt er sich in Bewegung. Er macht ein paar Schritte, bleibt stehen und taxiert mich. Dann wieder ein paar Schritte und stopp! In mir steigt Angst auf. Wolf oder Hund! Was macht das für einen Unterschied? Er ist riesengroß! Ich kann seine Reißzähne sehen! Ist das da Sabber an seinen Lefzen? Klar! Der pawlowsche Reflex! Er freut sich schon auf` s Fresschen! Sicher ein Stück aus meiner Wade oder aus meinem Hinterteil! Mir fallen die Semmeln ein. Ich habe zwei Salamisemmeln im Rucksack!

 

»Ha, ich hab` was für Dich«, säusel ich. »Ohh, das ist super lecker … echt aus Ungarn … hmmm … lecker Happi …«. Ich taste mit dem rechten Fuß nach dem Fahrradständer, klappe ihn aus. In Minischritten arbeite ich mich rückwärts, wo ich den Rucksack vermute. Meine Füße fühlen den Weg ab, meine Augen halten das Tier fest und meine Stimmbänder erzeugen »lecker Saalaaaaamiiii« in allen erdenklichen Tonlagen. Mein linker Fuß erspürt den Rucksack. »Saaa … laaa … miii … soooo lecker … grooooßes Happiiii …  hmmm … sooo lecker … hmmmm … «.

 

Sein Schwanzwedeln wird immer hektischer. Sein ganzes Hinterteil schwingt mit. Ohne den Blick von ihm zu wenden, gehe ich langsam in die Hocke. Fehler! Er erstarrt augenblicklich. Ich sehe, wie er die Ohren anlegt und sich sein Körper anspannt. Als er den ersten Satz auf mich zu macht, gehe ich in Deckung. Ich drehe mich in der Hocke um, vergrabe mein Gesicht im halb offenen Rucksack und halte die Arme schützend über meinen Kopf.

 

Dann ist er da! Er hat tierischen Mundgeruch. Seine feuchte Schnauze bohrt sich an meiner linken Wange vorbei in den Rucksack. Dabei schnauft er wie verrückt. Sein Körper schwingt hin und her. Er schiebt und schubst! Schlagartig begreife ich. Er versucht, mich wegzudrängen! Wie zur Bestätigung nimmt er seine Pfoten zu Hilfe. Er steckt sie in meinen Rucksack, scharrt und wühlt darin herum.

 

Das geht entschieden zu weit! Es ist mein Rucksack! Was, wenn er das Handy erwischt, mein Portemonnaie oder die Schlüssel und damit auf Nimmerwiedersehen im Unterholz verschwindet! Urplötzlich werde ich wütend. »Jetzt ist aber Schluss! … Aus! … Ende! … Basta!«

 

Unvermittelt ist alle hektische Bewegung zu Ende. Pfoten und Schnauze verlassen den Rucksack. Zögerlich zwar, aber immerhin. Ich höre nur sein Schnaufen. Ein Tropfen Sabber fällt auf meinen Unterarm. Ich schaue auf. Er guckt mich an. Er hat braune Augen. Und plötzlich zieht er die Augenbrauen nach oben, als ob er sagen will: »Ey, was soll der Scheiß jetzt, Du hast mir die Semmeln doch versprochen!«

Ich rappel mich auf. Energisch schnappe ich den Rucksack und stelle ihn auf dem Gepäckträger ab. Ich höre ihn hinter mir hecheln. Ich drehe mich um. Der Hundewolf sitzt artig auf seinem Hintern und guckt mich mit diesem Gib-mir-endlich-die-Semmel-Blick an.

»Okay, Du hast ja recht«, lenke ich ein. Ich wühle im Rucksack und fördere die Tüte mit den Semmeln zutage. »Da sind sie!« Ich hole eine raus und reiche sie ihm. Er verschluckt sie. Der Zweiten ergeht es nicht anders. Er haut sich alle meine Kekse rein, die drei Möhren und meine letzte Banane. Das Mineralwasser schlabbert er in affenartiger Geschwindigkeit aus meiner hohlen Hand. Dann sind wir pleite. Rein ernährungstechnisch gesehen. Ich lasse ihn aus Beweisgründen den Rucksack durchschnüffeln. Er will weder Geld noch Handy oder Schlüssel und gibt nach wenigen Sekunden auf.

 

Wir hocken nebeneinander auf der Böschung am Wegrand. Im Sitzen ist er mindestens einen Kopf größer als ich. Was macht man mit einem Fundhund dieser Größenordnung mitten im Wald? Ich kann ihn nicht hier sitzen lassen. Was, wenn er von einem Jäger erschossen wird?

Ich könnte das Tierheim anrufen oder die Polizei. Gute Idee! Ich wühle im Rucksack und ertaste das Handy. Es fühlt sich feucht und seltsam uneben an. Mir wird flau im Magen. Dieser verdammte Riesenköter! Was hat er damit angestellt? Ich ziehe das Handy aus dem Rucksack. Es ist voll Sabber und hat mehrere schwere Bissverletzungen. Ich versuche eine Wiederbelebung. Ausschalten, Einschalten, Ausschalten, Einschalten. Keine Chance. Es ist tot!

 

»Du blöder Hund … guck Dir das an!« Ich halte ihm das verendete Handy direkt vor die Schnauze. Er dreht den Kopf weg, als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun. Angelegentlich schaut er in eine imaginäre Ferne. Apropos Ferne! Mir fällt ein: GPS und Maps sind ja auch totgebissen! Wie soll ich nach Hause finden? Das Waldgebiet ist riesengroß! Keine Menschenseele weit und breit. Essen und Trinken alle. Verdammt! In mir steigt Panik auf. Der Handykiller spürt das sofort. Er schaut mich prüfend an. Dann legt er seine Sabberschnauze auf meinen Oberschenkel. Irgendwie beruhigt mich das.

 

Während ich seinen Hals kraule, versuche ich, in meinem Hirn eine Landkarte zu reproduzieren. Wo bin ich lang gefahren, wo links oder rechts abgebogen? Wie sah es da aus? Leider verirrt sich auch meine Erinnerung. Ich gebe den Versuch auf.

Meine Hände wuscheln weiter den Hundehals. Ich bekomme das Halsband zwischen die Finger. Mir kommt die Idee! Wo Halsband, da Herrchen! Ich schiebe behutsam den Hundeschädel von meinem Oberschenkel. Mein Hosenbein ist schlabbernass. Egal. »Jetzt geht`s los!«, verkünde ich entschlossen, während ich mich aufrappel.

Er springt augenblicklich hoch und schaut mich erwartungsvoll an. Ich sage vernehmlich: »Achtung Hund«, und hebe oberlehrerhaft den Zeigefinger. Dann das Kommando: »Such das Herrchen, los such das Herrchen!« Er legt den Kopf in den Nacken und sieht ratlos aus. »Los, such Herrchen!« Ich zeige auf den Waldboden und schnüffle als Anleitung vernehmlich durch meine Nase. Der Handyhacker legt den Kopf schief, so als wollte er sagen, »Interessante Sache, die du da machst«.

 

Ich denke kurz darüber nach, ob ich mich auf alle Viere hocke und vor Schnüffel. Ich verwerfe diesen Gedanken, weil mir ein neuer kommt. »Achtung!« Ich hebe wieder den Zeigefinger. Er starrt darauf. »Lauf nach Hause! Nach Hause!« Es kommt Bewegung in das Tier. Nicht die Erhoffte. Der Riesenköter hopst wie ein übermütiges Fohlen, dreht sich im Kreis, fiept und winselt. Offenbar glaubt er, ich wüsste, wo sein Zuhause ist. Verdammt. Ich weiß nicht mal, wie ich meins finde!

 

Hierbleiben ist aber auch keine Lösung. Entschlossen sage ich: »Los, wir gehen!« Ich steige auf` s Rad. Er geht, trabt, rennt, Mal vor mir, mal neben mir, manchmal bleibt er zurück. An jeder Kreuzung und jeder Weggabelung schnüffelt er. Ich warte, bis er damit fertig ist. Dann geht es weiter.

 

Mit einem Mal kommen mir Zweifel. Ist das da nicht die krumme Birke, die mir vor einer Stunde schon auffiel? Der kaputte Hochsitz! Den habe ich doch auch schon mal gesehen? Fahre ich etwa im Kreis? Ich weiß es nicht. Also weiter!

 

An der nächsten Waldwegkreuzung hält der Hund plötzlich inne. Er guckt sich um, schnüffelt hier, schnüffelt da. Er dreht sich zu mir um, als wollte er sagen »Hier lang«, und rennt in einem Affenzahn los. »Warte Hund, warte auf mich!«, rufe ich. Ich trete in die Pedale. Der Hund ist den linken Weg eingebogen. Er rast, dass der Sand aufwirbelt. Ich brülle aus Leibeskräften: »Hund, warte!« Er hält tatsächlich an und wartet, bis ich aufgeholt habe. Dann läuft er weiter. An jeder Kreuzung schnüffelt er. Ich bin mir sicher, er weiß genau, wo es lang geht.

 

»Rolf, Du mein Bester! Du Schlawiner! Du Schlingel! Wo warst Du nur! Was hast Du uns für einen Schrecken eingejagt! Ohh, Du Allerliebster. Unser Wolfirolfi. Endlich! Was für ein Glück!«

Hinter dem Gartenzaun, den Wolfirolfi vor zwei Minuten mit einem Satz übersprungen hat, umhalsen sieben Personen aller Altersgruppen den Riesenhund. Rolfiwolfi bellt, quietscht, winselt, wedelt, wackelt. Er wirft sich auf den Rasen, hüpft wieder auf, bellt, windet sich aus den Umarmungen und rennt zu mir an den Zaun.

 

Alle Augen richten sich auf mich! »Haben Sie uns Rolfi wiedergebracht?« Ich zucke mit den Schultern. »Naja, eigentlich, also …«.  Weiter komme ich nicht. Die Freudegemeinde drängt aus dem Gartentor. Mir wird das Fahrrad entrissen. Ich werde umhalst, gedrückt, auf die Wange geküsst und ins Haus verschleppt. Es gibt Happi und Trinki für mich, dazu Fotos von Rolfi als Säugling an der Hundemutterbrust, als Sandalennager, als Sofabesatz, als Mülleimerplünderer und so weiter.

 

Wir unterhalten uns prächtig. Als ich vom vielen »Trinki« auf` s Klo muss, stolpere ich im Flur über Rolf. Er frisst gerade meine EC-Karte. Scheiß der Hund drauf! Vesper mit Rolf ist eh unbezahlbar.