Von Simge Kumlu

Cataleya wusste nicht, warum ihre Füße sie ausgerechnet an diesen Ort trugen.

Ausgerechnet in dieser Nacht.

Ausgerechnet in diesem Moment.

 

Sie wusste nicht, ob hinter dieser Tür jemand auf sie wartete.

Ein Mörder vielleicht? Oder etwa ein Freund?

Jemand, den sie kannte oder womöglich jemand, dem sie noch nie zuvor begegnet war.

 

Cataleya schüttelte den Kopf.

Sie wusste ja nicht mal, ob an diesem Ort überhaupt jemand war.

Irgendeine Menschenseele, inmitten der Todesstille, die von einem riesigen Nichts umgeben war.

Nichts, ging ihr durch den Kopf. Was bedeute das schon? Wenn sie dieses Wort hätte definieren müssen, hätte sie nur ein Wort dafür gebraucht: Cataleya.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war seit sie sich fühlte wie nichts. Wie ein Geschöpf, dessen Inneres nur aus Leere bestand. Und vielleicht auch ein bisschen aus Enttäuschung. Enttäuschung, über die Wende, die ihr Leben in so kurzer Zeit genommen hatte. Seit sie Waise geworden war…

Seit wann war sie nicht mehr sie selbst? Nicht mehr ein Mensch? Ein Mensch, der richtig empfinden konnte? Liebe, Hass, Wut…all diese Gefühle kamen ihr nur vage bekannt vor.

Sie erinnerte sich an sie, so als würde sie diese aus einem früheren Leben kennen. Aus einem ganz anderen Ich.

 

Wieder schüttelte sie den Kopf, sodass ihre goldblonden Locken, die strahlten wie die Sterne am nächtlichen Himmel, ihr ins Gesicht fielen.

 

In ihren Gedanken kreiste nur eine Frage: War es richtig gewesen, hierher zu kommen oder war es falsch?

 

Als sie ein Geräusch aus dem Gebüsch neben ihr vernahm, überkam sie ein Zittern, das ihr Blut in den Adern gefrieren ließ. Und mit einem Mal wusste sie – ohne jegliche Zweifel – dass sie nicht allein war an diesem finsteren Ort.

Nur langsam schlich sich die Erinnerung in ihr Bewusstsein, nur langsam erkannte sie diese Gegend. Es war der Ort aus ihrem Traum, den sie seit längerer Zeit regelmäßig sah. Gnadenlos.

So als wäre er davon überzeugt, sie so sehr damit zu quälen bis es sie zu Tode treiben würde. Zu einem schrecklichen Tode.

 

Doch im nächsten Moment konnte sie sich an jede Einzelheit des Traums erinnern.

An das leerstehende Haus im dunklen Wald, vor dem sie im Moment stand, an den leeren Stuhl am Esstisch, an das Spielzeugauto, das ferngesteuert fuhr und an die Gestalt, die sie anblickte und sie zu sich rief. Mit einer so hellen, so süßen Stimme. So verführerisch, dass sie nicht widerstehen konnte und das Haus betrat, in der Hoffnung, dieses Verlangen endlich loszuwerden.

 

Und dann passierte es. Und das war das Schrecklichste: Sie wusste nicht, was passierte. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah.

Nachdem sie aufwachte, wusste sie nur eins:

Dass sie wissen musste, was passierte. Sie musste diese grausame Neugier, die sich in ihr breitmachte, loswerden. Endgültig.

Sie musste die Antwort auf dieses Rätsel finden. Koste es, was es wolle.

 

Und nun war sie hier. Ohne zu wissen, wie.

Ihre Füße hatten sie gelenkt, ohne dass sie Einfluss auf sie hatte. Ohne, dass sie sie hätte umlenken oder stoppen können.

 

Jetzt stellte sie sich nur noch eine Frage: War sie mutig genug, das Haus zu betreten? War sie überhaupt in der Lage, einen einzigen weiteren Schritt zu tun?

Langsam wurde ihr klar, dass es keine andere Möglichkeit gab, keinen anderen Ausweg. Wenn sie finden wollte, wonach sie suchte, musste sie es tun.

 

Cataleya wusste nicht, was sie fühlte, als sie nur noch einen einzigen Schritt vor der Tür entfernt stand.

Sie wusste, es fühlte sich nicht wie Angst an. Eher nach Erleichterung.

Sie konnte nicht leugnen, dass sie Erleichterung empfand.

Wenn sie endlich finden würde, wonach sie suchte, würde diese Qual ein Ende nehmen. Auch wenn es mit dem Tod endete. Das war es ihr wert.

 

Bald hatte sie es geschafft. Sie hatte den letzten Schritt getan und mit ihrer leicht zitternden Hand die Türklinke umfasst.

In wenigen Sekunden würde es soweit sein. In wenigen Sekunden würde sie aufhören können zu suchen.

 

Cataleya hielt den Atem an. Zögernd öffnete sie die Tür.

Alles war genauso wie in ihrem Traum:

Der leere Stuhl am Esstisch, das Spielzeugauto, das von selbst fuhr und die Gestalt, dessen Gesicht sie endlich entziffern konnte.

 

Und mit einem Mal kam ihr dieser Ort alles andere als finster vor. Im Gegenteil, sie war überzeugt davon, im Paradies zu sein. Plötzlich schien die Sonne aufzugehen, die Wolken schienen zu verschwinden.

Sie empfand keine Schmerzen mehr. Nein, sie vergaß sogar wie sich die Qualen angefühlt hatten. Noch nie schien sie so glücklich gewesen zu sein, noch nie schien ihr Herz solch einen Frieden empfunden zu haben.

 

Es fühlte sich so an, als würde ein riesiger Stein – nein, eher ein Felsen – aus ihrem Herzen fallen. Endlich schien sie wieder atmen zu können. Endlich schien sie wieder am Leben zu sein.

 

„Endlich hast du mich gefunden, Cataleya“, sagte die bekannte, honigsüße Stimme und streckte ihr eine Hand entgegen.

 

Ein Lächeln zauberte sich auf Cataleyas Gesicht, das sich ungewohnt anfühlte. Gleichzeitig wanderte eine einsame Träne ihre Wange hinab, ohne dass sie es mitbekam.

„Mama…“, flüsterte sie und lief mit langsamen Schritten auf sie zu, um ihre Hand zu halten, sodass sie auf ewig in Frieden leben konnten.