Von Florian Ehrhardt

„Ich schreibe wieder Liebesbriefe.“

„Liebesbriefe? Bist du dafür nicht ein bisschen alt?“ Jan sieht mich belustigt an.

„Meinst du etwa, dass man mit 28 schon alt ist?“

„Naja, auf jeden Fall älter als mit 27.“

„Ach halt doch die Klappe, du Jungspund!“

Mein 27-jähriger bester Kumpel bricht in Gelächter aus. „Wir sind schon zwei alte Säcke, oder?“

Ich nehme als Antwort nur einen großen Schluck von meinem Bier.

Jan nimmt einen mindestens genau so großen Schluck von seinem Bier.

„Prost.“

„Prost.“

Und so sitzen wir da. Schweigend haben wir unsere Sorgen in unseren Gläsern versenkt, für kurze Zeit scheint alles perfekt. 

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit ergreift Jan wieder das Wort. „Was war das jetzt mit deinen Liebesbriefen?“

(Ich habe schon über 500 geschrieben.)
„Ach, nichts!“

„Sicher?“

(Sie liegen adressiert und frankiert hinter der rechten Tür meines Kleiderschranks)
„Ja, ganz sicher! Habe ich dich jemals angelogen?“

„Naja, weißt du noch, als in der zweiten Klasse mein Radiergummi verschwunden war und du mir erzählt hast, du hättest keine Ahnung wo er ist und…“

Ich bremse Jan ab. „Wie lange wirst du noch auf der Geschichte herumreiten? Du hast ihn doch wiederbekommen!“

„Ja schon. Alles gut.“ Er hebt sein Glas. „Du weißt aber, dass du jederzeit mit mir über deinen Liebeskummer sprechen kannst?“

(Kummer wäre schön. Ich bin mittlerweile bei purer Verzweiflung angekommen!)
„Klar! Wir sind schließlich Freunde!“ Ich hebe mein Glas ebenfalls. „Prost!“

„Prost!“

Im Radio plärrt Wolle Petry irgendwas, wie schön es zwischen Rhein und Weser sein soll.

 

Irgendwann muss ich wohl doch eingeschlafen sein. Von Wolle ist zumindest nichts mehr zu hören. Das Radio ist aus. Von Jan ist nichts mehr zu sehen. Er wird ins Bett gegangen sein. Ein Klebezettel hängt an meiner Stirn. Ich reiße ihn behutsam ab, der Text darauf verschwimmt immer wieder vor meinen Augen, aber Jans krakelige Schrift könnte ich auch noch mit 8 Promille lesen. Sonst wäre ich bestimmt nicht so leicht durchs Latein-Abi gekommen. 

„Hey du alter Suffkopp,
wennd zua bisch, gehsch hoim!“

Recht hat er. Mein Mund fühlt sich auch verdammt trocken an. Zeit, nach Hause zu gehen. Oder besser gesagt: Torkeln. Zum Glück sind es nur 300 Meter. Nachdem ich 17 Mal an der Haustür scheitere, merke ich, dass ich den falschen Schlüssel in der Hand halte. Der richtige Schlüssel passt immerhin schon beim dritten Versuch, für meine Wohnungstür brauche ich 21 weitere Anläufe. Drin ist trotzdem drin. Ich taumele zu meinem Bett und lasse mich auf das Kissen fallen. 

 

Ich bin schon halb im Reich der Träume angekommen, da beginnt mein Hirn schon wieder zu arbeiten. Aber mit Vollgas. Meine Gedanken kreisen um das Gespräch mit Jan. Wenn ich heute wieder einen Liebesbrief schreibe und ihn abschicke, wird er mich dann auslachen? Aber er wird es ja nicht mitbekommen. Der Brief ist nur für Julia. Ich schlurfe müde zum Schreibtisch. Ich glaube, diesmal schicke ich ihn wirklich ab. 

 

Liebe Julia,

ich hoffe, du kennst mich noch. Und ja, ich weiß, es ist ziemlich altmodisch, noch Briefe zu schreiben. Ich habe deine Handynummer aber nicht, deshalb muss jetzt diese Methode herhalten. 

Wie geht es dir jetzt eigentlich? Als wir uns zuletzt getroffen haben, warst du von deinem Jurastudi- hast du mir erzählt, wie toll es ist, Jura zu studieren. Hast du das echt durchgezogen?

Wollen wir uns Mal auf einen Kaffee treffen? Es täte gut, mal wieder mit jemandem über die gute alte Abiturzeit reden zu können.

In Liebe und

Sehnsüchtigste Grü

Alles Liebe

Fabian

 

Ich begutachte mein Werk. Die Streichungen sehen alles andere als schön aus, aber niemand ist perfekt, oder? Die Adresse kann ich auswendig. Umschläge liegen in der Schublade bereit. Ich will zum Briefkasten loslaufen, aber an der Tür überlege ich es mir nochmal anders. Wenn ich jetzt in so einem Zustand zum Briefkasten laufe, landet das Ding am Ende in einem Mülleimer. Ich sollte eine Nacht darüber schlafen. Morgen schicke ich ihn ab. Ganz sicher. 

 

***2 Wochen später***

 

„Und, gehst du zu seiner Beerdigung“

„Ich?“

„Mit wem sollte ich denn sonst sprechen, Julia?“

Franzi betont meinen Namen besonders, was bei mir sofort Aggressionen auslöst: „Ach halt doch dein Maul!“, gebe ich wütend zurück.

„Ich habe dich nur gefragt, ob du zu seiner Beerdigung gehen wirst!“ Meine Freundin sieht mich empört an. 

„Merkst du denn nicht, dass ich deine Frage nicht beantworten will?“ Ich merke, wie meine Stimme langsam zu beben anfängt. „Franzi, ich habe dir jetzt schon ungefähr tausend Mal gesagt, dass ich nicht dort sein will!“ 

„Aber unser halber Jahrgang wird da sein!“

(Seine Mutter hat es mir verboten)
„Ich will aber nicht da sein!“

„Aber warum denn nicht?!“

(Das weiß ich doch selber nicht! Ich weiß nicht mal, woher die alte Schachtel meine Nummer hat!)

Statt der Wahrheit antworte ich nur mit Schweigen.

„Du hast ihn geliebt, oder?“

Warum können beste Freundinnen eigentlich Gedanken lesen? „Können wir jetzt bitte das Thema wechseln?“

„Na gut, aber nur, wenn du zu seiner Beerdigung kommst!“

(Nie im Leben. Nicht nach der Drohung! Ich werde an dem Tag einfach krank sein.)
„Okay, aber nur, weil wir Freunde sind.“

 

***25 Jahre später***

 

Ich sitze in der Küche, als mich die Vergangenheit einholt. Meine Tochter, Lina-Franziska, mindestens so schön wie ich vor 30 Jahren und zarte 17 Jahre alt, kommt rein und hält einen Stapel Briefe in der Hand. Das ist das erste, was mir an ihr auffällt. Normalerweise hat sie immer ihr faltbares Smartboard in der Hand. Aber heute ist nicht normal. Das erkenne ich auch am Gesichtsausdruck meiner Tochter. 

„Mama, wer ist Fabian Schmitz?“

Meine Gedanken rasen zurück in die Vergangenheit. Damals, als ich das erste Mal Schmetterlinge im Bauch hatte. Damals, als das Abitur Fabi und mich trennte, lange bevor ich ihm meine Liebe beichten konnte. Und als ich endlich den Mut gehabt hätte, wieder mit ihm in Kontakt zu treten, war es zu spät. Erinnerungen kommen hoch und treiben mir Tränen in die Augen. Erinnerungen an diese schreckliche Beerdigung und die geifernde Frau Schmitz, die den Tod ihres Sohnes nicht wahrhaben wollte und mich verantwortlich machte. Und an Michi, der mich damals verteidigte. Michi, der mich erst in den Arm und dann mit zu sich nach Hause nahm. Michi, mit dem ich jetzt seit 20 Jahren verheiratet bin. Bin ich bereit, darüber zu reden? Mit meiner Tochter? „Woher weißt du von Fabi?“

„Ich habe seine Liebesbriefe an dich gefunden.“

Mein Atem setzt kurz aus. „Seine was?“

„Seine Mutter hat sie aufgehoben. Aber die ist ja jetzt auch tot.“

Ich blicke meine Tochter verständnislos an. 

„Mama, verstehst du denn nicht? Ich hab dir doch erzählt, dass ich momentan bei der Entrümpelungsfirma im Altenheim mein Taschengeld aufbessere! Und heute sind wir in die Wohnung von dieser Anneliese Schmitz gekommen. Und da waren diese Briefe!“ Sie hält mir einen hin. 

Tatsächlich, er ist von Fabi und an mich adressiert. Als ich den Text lese, wird mir endgültig schwindlig. 

„Mama? Alles okay?“ Meine Tochter sieht mich mit ihren ruhigen, braunen Augen an. 

Ich fasse es nicht. Fabi war genauso verliebt in mich wie ich in ihn.  Und jetzt wird auch das verrückte Telefonat mit seiner Mutter logisch. Und ihre Reaktion auf mich bei der Beerdigung. Mir wird schlecht.

„Mama?“

„I-Ich glaube, ich muss kotzen!“, bringe ich gerade so noch heraus.

Meine Tochter sieht mich hilflos an.

Ihr Blick gibt mir den Rest. Ein Vorhang aus Tränen legt sich über mein Blickfeld. Ich merke nur noch halb, wie ich vom Stuhl kippe, bevor die Welt endgültig schwarz wird.