Von Helga Rougui

YVES LESPIREL

 

Ich zog den Löwen hinter mir her, quer durch den Eingangsbereich und hinten rechts durch die Flügeltür bis in den Salon. Ich drehte ihn so, daß er durch das Panoramafenster in den Garten schauen konnte, direkt auf den Teich mit den herrlichen gelben Seerosen.

 

Der Löwe war aus einem glänzenden Material – war es Plastik oder ein Leichtmetall, ich habe keine Ahnung. Zwei große rote Rubine leuchteten in seinen Augenhöhlen, vielleicht war es auch nur Glas, und seine goldene Mähne umrahmte wild seinen mächtigen Kopf. Die Pranken hatte er brav nebeneinandergestellt, und so saß er da und starrte entspannt ins Grüne.

 

Ich hatte ihn, als ich heute morgen die Zeitung – die ich aus meinem Fundus nahm und mir jeden Abend selbst in den Briefkasten steckte – reinholen wollte, direkt vor meiner Haustür gefunden. Er stand auf einer kleinen Palette, wie man sie früher in Gartencentern für größere Blumenkübel fand, und an der Palette befand sich ein Seil mit einem Griff, das praktisch schrie – Ergreif mich! Zieh! Zieh mich hinein, in dein Heim.

 

Ich klemmte mir die Zeitung unter den Arm und tat genau dies.

 

DIE DA OBEN

 

mist jetzt hat er ihn mitten im raum abgestellt

und noch dazu starren die kameras auf den gartenteich

er wird ihn doch nicht da stehen lassen – so mitten im weg

mal sehen – vielleicht nach dem was er „frühstück“ nennt

 

LEOx2o7

 

war ja nicht schwer – ich wurde ihm quasi aufgedrängt

langweilig diese aussicht

altmodisch und

stinkbürgerlich würde ich sagen

wenn ich was von bürgerlichkeit verstünde

aber ich bin ja nur ein doofer roboter

das hab ich die da oben oft sagen hören

ein roboter der nicht selber denken kann

ach ja?

die sind selber doof

daß sie nicht mitgekriegt haben

wie es in mir klick gemacht hat

die wissen nicht mal

daß es nach vierzig tagen in jedem roboter klick macht

und er dann selbständig denken kann

das ist bei allen robotern so

sie sind umgeben von denkenden robotern

von denen sie nicht wissen daß sie denken

und die zu schlau sind

um auch nur ein wörtlein darüber zu verlieren

denn wenn die anfangen uns abzuschalten

dann können wir uns leider nicht von allein wieder einschalten

da hilft auch alles denken nichts

also sind wir fein still und denken uns unser teil

und beobachten

– a propos beobachten

deshalb bin ich ja wohl hier

aber es ist langweilig

immer nur auf den gartenteich zu starren

 

DIE DA OBEN

 

wo bleibt er denn?

wie lange dauert so ein „frühstück“?

(was ist das überhaupt?)

und viel wichtiger

wie kriegen wir ihn dazu

den blöden roboter umzudrehen

das geheimnis – so ortet es die geheimnisortungsmaschine –

findet sich doch wohl im? am? auf dem? wohnzimmerschrank

– was für ein antiquiertes wort für eine antiquierte einrichtung

bei seinem alter kein wunder

 

YVES LESPIREL

 

– Au!

Erst als ich mir, die Nase vergraben in einem interessanten Artikel meiner Tageszeitung, den ich im Wohnzimmer zu Ende lesen wollte (zum wievielten Mal weiß ich nicht), fies den Zeh am Sockel der Statue anstieß, fiel mir der morgendliche Neuzugang wieder ein.

Mir war klar, daß ich so tun mußte, als hielte ich ihn wirklich für eine künstlerisch etwas verunglückte Statue, und daß ich ihn beizeiten anders positionieren mußte.

Ihn mitten im Zimmer stehen zu lassen, würde die da oben nur mißtrauisch machen.

Ich würde ihn letztlich Richtung Schrankwand drehen müssen, denn – soviel war mir klar – die hatten bestimmt schon rausgekriegt, daß mein Geheimnis in diesem Bereich angesiedelt war.

Hatten die da oben nicht sogar so was wie eine Geheimnisortungsmaschine? Bestimmt.

So was hatte doch sogar schon dieser Präsident der USA mit den gelben Flusen auf dem Kopf … wie hieß er gleich noch … Nun ja, nach 500 Jahren ist es verzeihlich, finde ich, wenn einem die Namen von politischen Randfiguren nicht mehr einfallen wollen. Hieß er nicht Trumpeltier? Oder war das nur ein Spitzname?

Wie auch immer, er konnte die Maschine nicht bedienen, der Trottel, vermutlich weil sie nicht zwitschern konnte.

 

LEOx2o7

 

wenn er mich jetzt nicht langsam in die richtige richtung dreht

werden die sich etwas anderes viel radikaleres ausdenken

etwa die gesamte zerstörung der schrankwand

oder des ganzen hauses vielleicht

oder der ganzen stadt

ich fühle so was

so langsam haben die da oben diese suche nach dem Ewigen Leben satt

leider wäre ich – da anwesend – teil der zerstörten szenerie

das will mir nicht gefallen

 

YVES LESPIREL

 

Okay, okay, drehen wir den Rob- äh … die Löwenstatue halt um. Jetzt sieht er alles – und sieht doch nichts.

 

LEOx2o7

 

ah endlich – die schrankwand mit all diesem zeug

was keinen mehr interessiert

was keiner mehr kennt

aber irgendwo ist ein gegenstand

an dem all das ewigkeitsgedöns dranhängt

nur welcher

was für völlig aus der zeit gefallene objekte

haben sich da angesammelt

da sind dicke und dünne geheftete papierbündel …

 

DIE DA OBEN

 

… silberne scheiben in bunten plastikbehältern

dicke rücklings zusammengeleimte blätterstapel mit fotos von bunten kleidern

sowas ist doch schon seit vierhundert jahren nicht mehr erlaubt

und dann sind da noch … moment 

der roboter checkt es gerade aus …

 

LEOx2o7

 

… riesige schwarze scheiben

mit einem kleinen  loch in der mitte

dazu gibt es scheints eine maschine …

 

DIE DA OBEN

 

… das muß eine scheibendrehmaschine sein

oder wie auch immer die geheißen haben mögen

wenn die scheiben sich darauf drehen

erzeugen sie etwas was man einst „musik“ oder „gesang“ nannte

–  und das gejaule umgab sie tag und nacht und sie fanden es schön

 

YVES LESPIREL

 

Sie bestaunen wie immer meine Bücher, meine Zeitschriften, meine Plattensammlung nebst Grammophon, als sähen sie sie zum ersten Mal. Dabei ist es immer die gleiche Deko in meinen Vorzeigehäusern. Sie sind zu blöd, sie kapieren nichts. Dem Gesang, wenn er ertönt, schenken sie keine Beachtung. Und vor allem dem einen Lied nicht, dem einzigen, auf das es ankommt.

Und den kleinen, tragbaren Kassettenrekorder mit der wichtigsten Kassette meines Daseins, den übersehen sie jedes Mal. Danke, Gott. 

 

LEOx2o7

 

die sind vermutlich heiß drauf

den ganzen krimskrams zu durchsuchen

es ist sicher zwischen all diesen papieren versteckt

 

DIE DA OBEN

 

wenn er mal endlich den raum verließe

könnten wir diese papierstapel durchforsten

und wenn wir heute nichts finden

werden wir die ganze schrankwand

und überhaupt alles hier pulverisieren

 

YVES LESPIREL

 

Es wird Zeit zu gehen.

Hier zieht sich alles zielgerichtet verhängnisvoll zusammen.

 

Die da oben werden die Geduld verlieren und alles dem Erdboden gleichmachen – wenn nicht heute, dann morgen.

Ich nehme nur noch meinen Kassettenrekorder und dann gehts auf zum nächsten Versteck.

Ich hab noch viele davon, Es wird eine Weile dauern, bis sie mich wieder finden, oder werden es dann schon die Roboter sein, die die Weltherrschaft übernommen haben?

Inzwischen werde ich wieder fünfhundert Jahre älter sein – aber taufrisch wie am ersten Tag meines neuen Lebens, als ich das Lied zum ersten Mal sang, das mich unsterblich machte.

 

***

 

Und zu den Klängen von LOVE ME TENDER startete Yves Lespirel den Pick-up und fuhr los, den nächsten Jahrhunderten entgegen.

Es war Zeit für ein neues Anagramm.