Von Franck Sezelli

Beim Blick in den Terminkalender auf seinem Schreibtisch fiel Gernot am Ende der Woche das Herzchen auf. Er überlegte kurz und verglich das Datum mit seiner Erinnerung. Ja, es war zwar kein rundes Jubiläum, aber immerhin! Ein Dutzend Jahre war das schon her. Ganz bewusst hatte er dieses Datum in seinem Bürokalender gekennzeichnet und übertrug es Jahr für Jahr. Vielleicht sollte er sich eine kleine geeignete Überraschung einfallen lassen?

Schon auf dem Nachhauseweg stach ihm ein Plakat ins Auge und nach kurzem Zögern überstimmte er den kleinen inneren Widersacher, dem das nicht so gefiel. Katja wird sich bestimmt riesig freuen. Dagegen konnte niemand etwas sagen, auch nicht sein bequemes anderes Ich. Am nächsten Tag erledigte Gernot vom Büro aus die Bestellung, so konnte er das am besten vor seiner Frau geheimhalten.

Als er am Freitag mit einem großen Blumenstrauß von der Arbeit kam, war Katja wirklich überrascht.

»Oh, der ist aber schön! Habe ich irgendetwas verpasst? Ich habe doch nicht Geburtstag und Hochzeitstag haben wir heute auch nicht … Hast du vielleicht etwas gutzumachen?«

»Aber Liebes, ich kann dir doch auch mal so ein paar Blümchen schenken! Schließlich liebe ich dich! Du hast aber recht, einen Anlass gibt es. Erinnerst du dich nicht? Heute vor genau zwölf Jahren?«

Katja schaute gebannt auf den Kalender, dann fiel ihr das Datum auch auf. »Natürlich erinnere ich mich, mein Schatz! Dass du daran gedacht hast! Lass dir einen Kuss geben!«

»Nicht so eilig, meine Liebe! Das ist doch gar nicht die Überraschung, die ich extra für dich besorgt habe!« Gernot griff nach hinten und präsentierte seiner Frau zwei Eintrittskarten.

»Was? Du möchtest mit mir in die Oper gehen? Das magst du doch gar nicht, sagst du immer!«

»Für dich tue ich alles! Es sollte doch etwas Besonderes sein. Und das wird die Premiere von ›Carmen‹ bestimmt! Außerdem sind das ganz bekannte Melodien und die Oper handelt von einer verführerischen Frau, das kann man sich auch als Mann ansehen.«

»Oh! Das ist wirklich eine Überraschung! Da freue ich mich riesig! Lass dich abküssen!«

Erwartungsvoll saßen Katja und Gernot in der zweiten Reihe des Parketts, es hatte bereits zum zweiten Mal geklingelt. Links neben ihnen waren die Plätze noch frei.

»Ich habe das schon oft bemerkt«, flüsterte Gernot seiner Frau ins Ohr, »die Leute, die in der Mitte sitzen, kommen immer als letzte.« Katja lächelte bestätigend.

Da drängte sich in wirklich letzter Minute ein elegant gekleidetes Paar durch die Reihe, um auf die leeren Plätze zu gelangen. Höflich standen Katja und Gernot auf. In dem Moment, als der sich durchdrängende Mann Katja ins Gesicht schaute, um sich zu bedanken, entfuhr dieser ein erstauntes »Peter?«, woraufhin der Katja genauer musterte und zweifelnd fragte: »Bist du’s, Katja?«

»Ja, aber was machst du hier? Entschuldige, dumme Frage! Sicher dasselbe wie wir. Das ist aber ein Zufall. Setzt euch erst einmal, wir unterhalten uns in der Pause.«

Es war auch höchste Zeit. Die elegante Erscheinung, die in Peters Begleitung war, nickte Gernot freundlich zu und setzte sich direkt neben ihn, Peter einen Platz weiter. Die Ouvertüre begann.

Flüsternd wandte sich Gernot seiner Frau zu: »Woher kennst du den?« Seine Frau aber schüttelte nur den Kopf und hob den Finger, er solle zuhören. Hinter ihnen zischte es strafend.

Während der Vorstellung musterte Gernot immer mal wieder verstohlen seine Sitznachbarin. Sie war wohl auch in seinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger. Ihr Profil zeigte eine schöne selbstbewusste Frau, die einen starken Eindruck auf ihn machte. Das Parfüm, das sie umgab, hatte eine zarte und irgendwie berauschende Note. Er konnte sich kaum auf die Handlung auf der Bühne konzentrieren. Nur einmal schaute die attraktive Frau zur Seite, ihm schien es, als ob sie ihn schelmisch anblinzelte.

In der Pause machten sich die vier gegenseitig bekannt. Es stellte sich heraus, dass Katja und Peter früher in dieselbe Klasse gegangen waren und sich jetzt seit vielen Jahren erstmalig  wiedergesehen hatten. Die Begleitung von Peter war dessen Frau Sabine. Gernot fand, dass die beiden ein schönes Paar abgaben, offenbar sehr gut zusammenpassten.

Während die Männer sich um Getränke bemühten, stellten sich die Frauen an eine andere Schlange zu vielen anderen Vertreterinnen ihres Geschlechts. So blieb nicht viel Zeit, sich ausgiebig zu unterhalten. Peter schwärmte Gernot gegenüber von einer früheren Inszenierung der gleichen Oper im selben Haus, von einem anderen Regisseur, der alles viel moderner auf die Bühne gebracht hatte. Was sollte Gernot erwidern? Er behauptete, dass ihm diese mehr konservative Inszenierung sehr gut gefalle. Offenbar kannte sich dieser Mann in Opern gut aus. Ansonsten erschien er Gernot ein wenig farblos, sodass er sich wunderte, wie Peter zu der attraktiven Sabine gekommen war.

Zu Hause angekommen, machte Gernot noch eine Flasche Champagner auf. Katja feierte mit ihm gebührend das Dutzend der Jahre, die sie nun schon glücklich zusammen waren und bedankte sich noch einmal für diesen so besonderen festlichen Abend. In der Nacht erkannte Gernot seine Frau kaum wieder, das heißt, sie erinnerte ihn an die heiße Anfangsphase ihrer Beziehung. Erst spät am nächsten Vormittag verließ das Paar das Bett. Sie waren glücklich, dass sie auf Kinder keine Rücksicht nehmen mussten – sie hatten noch keine.

 

Im April wurde es stressig. Gernot musste oft länger in der Firma bleiben, es gab Umstrukturierungen. Er äußerte Katja gegenüber oft seine Befürchtungen, dabei vielleicht auf der Strecke zu bleiben und gab in der Firma sein Bestes. Aber auch Katja kam oft sehr spät nach Hause. Die Abiturprüfungen standen bevor und verlangten besondere Vorbereitungen. Gernot konnte sich nicht erinnern, dass seine Frau in den letzten Jahren im Schuldienst vor den Abiturprüfungen in besonderer Weise gefordert war. In diesem Jahr war das offenbar anders. Sie hatte auch einen neuen Schuldirektor, der die Kollegen oft zu später Stunde zu Beratungen versammelte. Auch die Fachberater machten verstärkt Weiterbildungsveranstaltungen am späten Nachmittag bis in den Abend hinein. Der Lehrplan sei wieder einmal reformiert worden, stöhnte Katja. Trotz allem schienen ihr diese Mehrbelastungen nicht sehr viel auszumachen. Nur manchmal wirkte sie gereizt und müde. Gernot hatte dafür vollstes Verständnis, auch wenn er sich mal wieder einen kuschligen Abend und eine heiße Nacht mit seiner Liebsten gewünscht hätte.

Er sehnte sich die Sommerferien herbei, die Katja entlasten und ihnen beiden den lang ersehnten Urlaub bringen würden. Gernot meinte zu Recht, dass sie urlaubsreif wären.

Kurz vor Schuljahresende musste Katja kurzfristig bei einer Klassenfahrt mitmachen. Ein Vater, der sich ursprünglich zur Begleitung zur Verfügung gestellt hatte, war wegen Krankheit ausgefallen und die mit Katja befreundete Klassenlehrerin hatte so schnell keinen anderen Ersatz gefunden.

In den drei einsamen Tagen beschäftigte sich Gernot mit der Urlaubsvorbereitung. Zum Glück waren die Turbulenzen in seiner Firma vorbei und alles zwar in etwas neuerem, aber inzwischen wieder ruhigerem Fahrwasser, sodass er die Zeit und Nerven dafür hatte. Das Urlaubsziel war dasselbe wie in den Jahren zuvor und Gernot freute sich sehr darauf, denn sie hatten sich dort immer sehr wohlgefühlt. Er wälzte touristische Prospekte und Reiseführer, zog auch das Internet zu Rate, denn obwohl sie in der Gegend schon viel kennengelernt hatten, gab es immer noch Neues zu entdecken. Der Strohwitwer plante Auflüge, Wanderungen und Besichtigungen für die kommenden Urlaubstage. Mit jedem Tag stieg seine Vorfreude auf die gemeinsamen Erholungstage.

So war es nicht verwunderlich, dass Gernot im Überschwang seiner Gefühle nach der Rückkehr seiner geliebten Ehefrau sie mit seinen Plänen fast überfiel und ihr die Vorhaben in den buntesten Farben ausmalte. Dabei bemerkte er überhaupt nicht, wie sie immer ernster wurde und gar nicht richtig bei der Sache war, sondern fieberhaft nach Worten suchte.

»Ich komme nicht mit!«, glaubte Gernot auf einmal zu hören und traute seinen Ohren nicht. »Es geht so nicht weiter, Gernot!«, setzte seine Frau fort.

Der Mann fiel aus allen Wolken und meinte, sich verhört zu haben. »Was ist los? Ich verstehe nicht …«

»Aber das musst du doch auch bemerkt haben, Gernot. Wir haben uns auseinander gelebt. Ich liebe dich nicht mehr, wir müssen uns trennen.«

»Wieso das auf einmal? Wir sind doch glücklich gewesen!« Entsetzt starrte er Katja an und verstand die Welt nicht mehr. »Hast du einen anderen? Ist es das?«

»Ja …, aber das hat damit nichts zu tun.«

»Ach so, einen anderen … Da warst du wohl gar nicht auf Klassenfahrt? Kenne ich den?«

»Na ja, kennen ist zu viel gesagt.«

»Wie meinst du das? Wer ist es?«

»Peter … «

»Was für ein Peter?«

»Du weißt schon, der früher in meine Klasse ging, wir hatten ihn doch mal getroffen. Ich habe ihn immer schon bewundert. Nach der letzten Begegnung haben wir telefoniert und uns mal verabredet – und es hat richtig gefunkt. Ich kann nichts dagegen machen.«

»Aber du hast ihn früher nie erwähnt. Du hast mir doch von allen deinen Früheren erzählt … Warum nicht von ihm?«

»Da war nichts. Wir waren nur kurz zusammen, aber er war nie mein Liebhaber. Deswegen hielt ich es nicht für wichtig.«

»Seit wann geht das denn schon?«

»Seit dem Opernbesuch …«

 

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