Von Anni Spreemann

„Papa, Vanille.“

Ferdinand streckt seinem Papa das Waffelförmchen mit Sandkugel entgegen. 

Christian geht auf das kindliche Spiel ein und nimmt sie. „Mmh lecker. Kann ich noch eine haben?“ 

Sein Sohn strahlt und tippelt zurück zum Buddelkasten. Wie ein sanfter Kuss durchströmt ihn eine tiefe Wärme und der schwere Stein in seiner Brust wird leichter. Sonnenstrahlen kitzeln seine Nase. Er schließt die Augen und atmet tief durch. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Das vibrierende Handy in Christians Hosentasche zerstört den friedlichen Moment. Der Anrufer verrät sich durch seine Berliner Nummer auf dem Display und er drückt ihn genervt weg. Der Stein sackt zurück auf seinen Platz.

„Hi Christian, wie geht es dir?“ 

Erschrocken dreht sich der junge Vater um und erblickt den Papa von Lisa. Christian kann sich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Nach so langer Zeit ist es ihm peinlich, danach zu fragen.

„Hallo, was macht der Balkon?“, beginnt er den täglichen Smalltalk.

„Der wächst und gedeiht. Dieses Jahr probieren wir Kartoffeln“, berichtet der Hobbygärtner und rückt seine Brille zurecht.

„Kartoffeln auf dem Balkon?“, wundert sich Christian und kratzt sich über seinen Dreitagebart.

„Ja klar. Aus einer soll angeblich 400g werden. Wir haben extra einen großen Blumentopf gekauft“, erzählt er begeistert. 

Das Handy vibriert. Christian wirft einem kurzen Blick drauf und steckt es weg. Lisas Papa zieht die Augenbrauen hoch. „Nicht so wichtig“, winkt Christian ab. „Kartoffeln? Möglicherweise probieren wir es nächstes Jahr auch mal.“

Ihr Intermezzo wird von der weinenden Lisa unterbrochen. Sie ist mit ihrem Roller gestürzt und braucht ihren tröstenden Papa. Ferdinand kommt mit zufriedener Miene zurück. „Papa, Schoko!“ 

Er kniet sich hin und gerät ein weiteres Mal ins Schwärmen. „Großartig, meine Lieblingssorte.“

Große Kinderaugen blicken ihn an. „Mehr?“ 

Christian nickt. Sein Handy gibt nicht auf und vibriert ein drittes Mal. Er will eigentlich nicht raufschauen, aber eine innere Neugier treibt ihn dazu. Erleichtert erblickt er eine andere Handynummer und verschiebt den grünen Kreis.

 „Hallo? Herr Krämer am Apparat?“

 „Christian bist du das?“, hört er eine weibliche Stimme.

 „Wer ist da?“

 „Ich bin´s, die Nachbarin deiner Eltern.“ 

Er versteift sich. Seine Ohren rauschen. Der Stein drückt und ihm fällt das Atmen schwerer.

„Hallo, bist du noch dran?“

„Ja“, krächzt seine Stimme.

„Es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass deine Eltern gestern bei einem Autounfall verunglückt sind.“

Christian lässt sich auf den Boden plumpsen. Die Augen werden trübe. Die Stimme am Telefon verschwindet in den Hintergrund. Der Moment dehnt sich zu einer Ewigkeit. Als er auflegt, steht sein Sohn mit naiver Freude und einem neuen Sandeis vor ihm. Christian gibt ihm einen Kuss auf die zarte Wange und wuschelt ihm durchs weiche Haar. Mit zittrigen Händen erhebt er sich, holt tief Luft und lächelt seinen Sohn an. „Ich glaube, Mama ist mit dem Mittagessen fertig. Lass uns nach oben gehen.“

Er greift väterlich nach der kleinen Hand und ist dankbar für ihre Wärme. 

 

Christian betritt sein Elternhaus und der bekannte Duft von Zitrone und längst verdrängte Erinnerungen empfangen ihn. Er schwankt und verstärkt den Händedruck seiner Frau. Wie ein plötzlicher Regenschauer überrollt ihn die Vergangenheit.

Er ist wieder Sechzehn. 

Unverstanden, unmündig, eingeengt, gefangen. Alle seine Schritte werden verfolgt und kontrolliert. Freunde und deren Eltern werden eingeladen und überprüft. Max fällt durch. Seine Eltern sind Raucher. Sogar die Leselektüre und Kinderfilme gehen erst durch die elterliche Zensur. Nichts wird dem Zufall überlassen. Wenn sie mit anderen über ihn reden, sprechen sie in der Wir-Form. WIR haben beschlossen, Tischtennis zu spielen. WIR finden Fußball uninteressant.

Ich bin jetzt erwachsen, versucht er sich bewusst zu machen und lässt den Blick über sein altes Jugendzimmer schweifen. Eine innere Wärme durchströmt ihn, als er seinen alten Freund aus Kindertagen entdeckt. Bedächtig nimmt er seinen glitzernden Dino vom Bett. Wie hatte er ihn nur vergessen können? Mariella reißt ihn aus seinen Gedanken. „Du hast mir nie verraten, warum du den Kontakt zu deinen Eltern abgebrochen hast.“ 

Er überlegt. Sucht nach einer Erklärung. Wie soll man ein halbes Leben mit wenigen Worten beschreiben? „Ich habe immer das Gefühl gehabt in einem düsteren Geheimnis zu leben. Ein bedrohlicher Schatten, der meine Eltern stets begleitete.“ 

Christian streichelt den Dino in seiner Hand. An einigen Stellen ist er schon recht abgenutzt. „Hast du deshalb diese Essstörung?“, forscht Mariella weiter.

Er schließt seine Augen. Es ist seine geliebte Frau, ruft er sich in Erinnerung. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Sie liebt mich. Ich kann ihr vertrauen. Christians Hände schmerzen. Er öffnet die Augen und schaut nach unten. Seine Finger zerdrücken den Dino und er lässt ihn schnell los.

„Ich glaube schon“, erzählt er stockend. „Irgendwann habe ich aufgehört zu essen. Es war das einzige, was meine Eltern nicht kontrollieren konnten.“ 

Verzweifelt blickt er zu Mariella und entdeckt Verständnis. Beide schweigen und hängen in ihren eigenen Gedanken nach.

„Warum vermutest du, dass deine Familie ein Geheimnis hatte?“

Christian zuckt die Schultern. Er greift nach dem Dino und hält sich daran fest.

Mariella nimmt ihn liebevoll in den Arm und streichelt ihm sanft über den Rücken. Er wird von ihrem Duft und ihrer Wärme eingehüllt. Seine Schultern sinken und der innere Druck nimmt ab. Bald ist es vorbei, denkt er sich. Ihre Blicke begegnen sich und Mariella lächelt ihn an. „Vielleicht finden wir hier eine Antwort“, sagt sie aufzumunternd und zieht ihn hinter sich her.

Er ist unendlich dankbar für ihr Organisationstalent. Sie leeren die Schränke und teilen die Inhalte nach Müll und Wohlfahrt ein. Morgen kommt eine Firma, die sich auf solche Fälle spezialisiert hat. Sie arbeitet die Ordner mit Rechnungen und Versicherungen durch. Plötzlich packt ihn das alte Gefühl lebendig begraben zu sein. „Ich bin gleich wieder da“, sagt Christian und stürzt hinaus.

 

Als er zurückkommt, wartet seine Frau mit einem Briefumschlag auf ihn.

„Christian… ich glaube, ich habe das Geheimnis deiner Eltern gefunden.“ Sie zögert und wirkt unsicher. „Wenn du magst, zerreiße ich ihn.“

Er schluckt. „Ich muss wissen, warum meine Eltern mich derart beherrschen wollten. Ich will den seelischen Mülleimer endlich wegwerfen können und nicht an unseren Sohn weiterreichen“, versucht er seine Entscheidung zu rechtfertigen.

Mariella nickt und überreicht ihm den Umschlag. „Du hattest keine Schuld“, flüstert sie leise.

Zitternd öffnet er ihn. Eine Karte und ein vergilbter Zeitungsartikel befinden sich darin. Laut Datum war Christian zu diesem Zeitpunkt ein Jahr alt.

 

  1. Mai 1970

Gestern Nachmittag wurde die kleine Stella Müller (4) beim Überqueren einer Straße von einem abbiegenden Auto erfasst. Im Wagen saß eine junge Familie, die laut Polizeiaussage mit ihrem fiebernden Kind schnell in die Notaufnahme wollten. Das junge Mädchen schwebt noch in Lebensgefahr.

 

Mit zitternden Händen liest er die Karte. Eine dunkle Vorahnung und tiefe Traurigkeit erfassen ihn.

 

Sehr geehrte Familie Krämer,

hiermit schenken wir Ihnen den Dino. Unsere Tochter Stella hat

ihn sich zum 5. Geburtstag gewünscht und braucht ihn jetzt nicht mehr.

 

Mariella wischt behutsam die unbemerkten Tränen von Christians Wangen. „Es ist nicht deine schuld gewesen“, wiederholt sie sanft.

Christian versucht die Bilder der Vergangenheit wegzublinzeln. Nun versteht er das erdrückende Verhalten seiner Eltern. Den glitzernden Dino hatte er mit 10 beim Spielen im Schrank seiner Eltern gefunden. Sie waren entsetzt, als er ihn behalten wollte. Eigentlich war er viel zu alt für ein Kuscheltier. Er hielt den Dino einfach fest und ließ sich auch nicht durch das Flehen seiner Mutter erweichen. Es war sein erster Kampf, den er geführt und gewonnen hatte. Das Tier wurde sein einziger Freund, mit dem seine Eltern nicht einverstanden waren. Er hatte nicht gewusst, dass er sie dadurch tagtäglich mit dem tödlichen Unfall eines Kindes konfrontierte und ihr übertriebenes Beschützerverhalten damit verstärkte.

Auf einmal ergibt für Christian alles einen Sinn. Der schwere Stein wird leichter und ein irrationales Lachen steigt aus seinem tiefsten Innern empor. Er verliert die Kontrolle, kann nicht aufhören, sein Bauch verkrampft sich, er schnappt nach Luft. Es ist, als würde ihn jemand erbarmungslos kitzeln. Schließlich steckt er Mariella an und sie fragt unter Lachtränen: „Schatz, ist alles in Ordnung?“ 

Ihre Freude und Energie durchbrechen seine Lachattacke und er kann sich beruhigen. Er erkennt, dass die nächsten Kapitel seines Lebens heller werden. Der Schatten nicht mehr vor ihm, sondern hinter ihm liegt.  Er bekommt wieder Luft und antwortet: „Danke, dass du bei mir bist.“

 

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