Von Agnes Decker

„Lebe deinen Traum“, hattest du mit bunten Farben an die Wand über unserem Küchentisch geschrieben, jeden Buchstaben in einer anderen Farbe, und darüber einen Regenbogen gemalt. Das Motto unserer Generation und unserer jungen Liebe. Wir würden diese Welt verbessern, davon waren wir fest überzeugt, mit all unserer jungen Naivität und unserer unermüdlichen Energie. Wir würden unsere Träume leben. Deine Haare fielen dir ins Gesicht. Als du sie, mit der dir typischen Handbewegung, zurück gestrichen hast, sah ich die bunten Farbkleckse auf deinen Wangen. Du schautest mir in die Augen. Alles an dir strahlte. `Mein Mann, ` dachte ich. `Wir werden die Welt verändern. Du und ich. Wer sonst? ` Und ich fühlte mich rundherum glücklich und vollständig. Aber das ist lange her.

 

Die Äste des Birnbaumes zeichnen sich scharf gegen den Himmel ab. Mit den Blicken folge ich ihnen und ihren Verzweigungen, zeichne die einzelnen hellgrünen Blätter nach, die ein Dach über meinem Kopf bilden. Leicht fühle ich mich, wie Luft und so, als würde ich nach oben schweben. Die Schönheit des Augenblickes treibt mir die Tränen in die Augen und gleichzeitig breitet sich eine Wehmut in mir aus. Schleicht sich in mein Inneres hinein, als würde sie mir die Harmonie dieses Morgens nicht gönnen. Ein fast perfekter Sommertag. Fast. Wäre es nicht gleichzeitig auch der Jahrestag. Unser Jahrestag.                                                                                                       

Es ist August und wundervoll kühl. Noch, denn bald wird es unerträglich heiß werden, wie an jedem Tag in diesem Hitzesommer. Für gewöhnlich liebe ich die frühen Morgenstunden, die Stille und Unversehrtheit des angebrochenen Tages, wenn die Träume der Nacht noch in der Luft hängen, wie der kalte Dunst heimlich gerauchter Zigarette. Das Gras unter meinem Körper ist feucht vom Tau. Meine Finger graben sich hinein, treffen auf steinharte Erde. Eine Ameise krabbelt über meine linke Hand. Behutsam schubse ich sie herunter und schaue ihr nach, wie sie sich geschäftig davon macht. Wie friedlich es ist.                                                                                                               

Ich richte mich auf, umschlinge mich mit meinen Armen, spüre, wie ich zittere. Kälte überzieht meinen Körper und die Bilder der Nacht kehren zurück. Dringen in mich ein. Ich versuche, sie nicht hereinzulassen, aber sie sind stärker als ich. Erschöpft gebe ich auf, lasse es zu, dass schwarze Gestalten die Sonne verdunkeln. Ich fahre mit der Handfläche über die Stirn, so als könne ich sie dadurch wegwischen. Immer, wenn ich an diese Zeit denke und an dich, fühle ich mich seltsam zerbrechlich. Diese innere Kälte macht mich so fragil  wie zerbrochenes Glas, deren kleinste Splitter jemand mühsam zusammengefügt hat und deren Sollbruchstellen die geringste Belastung zum Zerbersten bringen kann.                                                                                                

Vor meinem Gesicht zieht eine, über und über mit Blütenstaub bedeckte Hummel ihre Kreise. Ein Lächeln versucht meine Mundwinkel zu erreichen, bleibt aber auf halber Strecke stecken. Ich wische erneut über meine Stirn. Die Hummel folgt meiner Bewegung. Einen winzigen Augenblick lang sind wir auf Augenhöhe, sie und ich, schauen uns an, dann fliegt sie davon. So, wie du davon geflogen bist, mich alleine gelassen hast, damals. Möchte die Zeit zurückdrehen, deine Wärme spüren, deine Stimme hören, dich im Arm halten.  Nie mehr wird es so sein. Der Schmerz dringt wie ein Messer tief in meine Seele hinein. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Diese hat sie nicht geheilt. Auch nach all den Jahren nicht.   

 

Unsere Träume wollten wir leben, anders werden als unsere Eltern mit ihren verhärmten Gesichtern und resignierten Reden. Wir gründeten selbstverwaltete Betriebe, bauten unser eigenes Gemüse an, demonstrierten gegen Kriege und liebten uns und unser Leben, unsere Wildheit und Entschlossenheit.                                                                                                              

Unbemerkt holte uns das Erwachsensein ein, das lange ergebnislos hinter uns hergeschlichen war,  und drängte uns in neue Gefilde. Aber das war später, nach deiner Zeit. Aus Hausbesetzern wurden Hausbesitzer, aus Wohngemeinschaften Familien. Die Rebellion in unseren Köpfen wich dem vorhersehbaren Arbeitsalltag und unsere Träume ruhten, tief verborgen, in unseren Seelen.  Wo sie auch besser geblieben wären, wenn man mich fragt.

 

Ein eiskalter Tropfen trifft meine Wange und läuft an ihr herab, an meinem Mundwinkel vorbei, bis er im Kragen meines Schlafanzuges verschwindet. Ich schaue nach oben. Dunkle Wolken haben den ehemals blauen Himmel verdrängt. Ich stehe auf und breite meine Arme aus. Heiße den langersehnten Regen willkommen.  Dann gehe ich mit langsamen Schritten durch den Garten. Schaue, wie die Tropfen niederprasseln auf den grünen Rasen und die bunten Blumen in den gepflegten Beeten. Als ich das weiße Holzhaus mit seinen blauen Fenstern erreiche, in dem wir seit vielen Jahren unseren Urlaub verbringen, sehe ich meinen Mann in der geöffneten Tür stehen.  

„Mensch, Vero. Was machst du denn in aller Herrgottsfrühe hier draußen im Garten?“, seine Stimme klingt belegt. „Du bist ja total durchnässt. Sag doch mal was.“                                                  

„Weiß nicht“, murmele ich. Matthias reicht mir seine Hand und zieht mich an sich. In der Wärme seiner Arme fühle ich meine eigene Erstarrung.                                                                              

 „Alles gut“, sage ich und löse mich von ihm. Ich setze einen Fuß vor den anderen, zähle die Schritte laut mit. „Eins, zwei, drei“, wie ein Mantra. So als, würde mich das Zählen erden. Matthias beobachtet jede meiner Bewegungen und runzelt die Stirn. Jetzt bemerke ich, dass er nur einen Slip trägt. Sein Oberkörper glänzt.                                                                                   

„Komm nochmal ins Bett.“ In seinem Blick liegt alle Zärtlichkeit der Welt. Er ist ein wunderbarer Mann. Trotzdem möchte ich jetzt lieber allein sein. Die Kälte hält mich weiterhin gefangen und trennt meinen Geist noch von seiner Welt.                                                             

„Ich glaube, ich brauche dringend trockene Klamotten und einen starken Kaffee“, sage ich und sehe, wie sich die Enttäuschung in sein Gesicht schleicht.                                                                   

„Gut, bis später dann“, er verschwindet im Schlafzimmer und zieht die Tür hörbar hinter sich zu.                                                                                                                                           

Im Bad befreie ich mich von meinem durchnässten Schlafanzug. Das heiße Wasser tut gut, lässt meine Lebensgeister wieder erwachen. Nachdem ich mich abgetrocknet habe, schlüpfe ich in einen Jogginganzug und ziehe die Kapuze der Jacke über meine nassen Haare.  Kurze Zeit später gurgelt die Kaffeemaschine leise vor sich hin. Ein verführerischer Duft erfüllt die Küche. Ich trete ans Fenster.

 

25 Jahre alt bist du damals geworden, an jenem Tag, der sich wieder einmal jährt. Fünfundvierzig wären es heute, würden wir ihn zusammen feiern. Warum bist gerade du so in mir geblieben, so verbunden mit mir, über all diese Jahre? Warum werde ich dich nicht los, obwohl ich seit langen Jahren mein Leben mit Matthias teile und mit ihm glücklich bin? Anders als mit dir, das lässt sich nicht wiederholen. Das erste Mal. Gemeinsam leben und lieben. Und der Schmerz, dieses Glück zu verlieren, hört wohl niemals auf. Ich werde mit ihm und mit dir leben müssen.            

Wir hatten viele Träume. Träume von einem besseren Leben, von einer besseren Welt. Aber du hattest einen, den nur du geträumt hast. Ohne mich. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Und so hast du mir auch diesen Traum verraten. In die Wüste wolltest du, ganz alleine, nur du. Du hast mir oft davon erzählt. Von den Sanddünen und wie sie auftauchen aus der Nacht, wenn es langsam hell wird. Da sitzen wolltest du. Einfach nur sitzen. Und auf ihr Auftauchen warten. Erleben, wie die Kälte der Nacht der Hitze des Tages weicht. Wolltest die Beduinen mit ihren Kamelen sehen, wie sie am Horizont erscheinen, wie Scherenschnitte und die Langsamkeit und Perfektion ihrer Bewegungen. Mit ihnen wolltest du wandern, in ihren Zelten leben, die Zeit vergessend, die Getriebenheit der westlichen Welt hinter dir lassend. Das war dein großer Traum.                 

Und den wollte ich dir erfüllen. Weil ich dich mehr geliebt habe, als alles andere auf dieser Welt. Dich immer noch liebe und vermisse, manchmal. Der Schmerz hat nachgelassen über all die Jahre, ist mehr und mehr verschwunden. Nur noch zuweilen, so wie heute, spüre ich ihn wie am ersten Tag.                            

Hätte ich dir doch einen Hund geschenkt. Zu deinem Geburtstag. Auch das war einer deiner,  unserer Wünsche. Aber ich wollte das ganz Besondere. Etwas, was nur ich dir schenken konnte, weil ich alles von dir wusste, was kein anderer jemals erfahren hat. Um dir zu zeigen, dass ich der einzige Mensch auf dieser Welt bin, der dich versteht, dein wirkliches Wesen begreift.                

Ich arbeitete hart, in jeder freien Minute, in der ich nicht studierte, sparte jeden Cent, bis ich die Summe zusammen hatte, die du benötigen würdest. Um deinen Traum leben zu können. Als ich im Reisebüro stand und endlich das Ticket in den Händen hielt, zitterte ich am ganzen Körper. Ich würde dich verlieren für eine lange Zeit. Aber dann würdest du wiederkommen und mir erzählen, was du alles erlebt hast, mich in die Arme nehmen und nie mehr loslassen.                                            

Was ich damals nicht ahnte, war, dass du nicht wiederkommen würdest. Nicht zu mir. Dass du eine neue große Liebe finden würdest, kurz nach deiner Ankunft in Marokko. Einen Brief hast du mir geschrieben, einen einzigen. Den habe ich immer noch. Und die Sätze brennen genau wie damals in meiner Seele:                                                                                                            

„Danke für das wunderbare Geschenk. Ich lebe jetzt meinen Traum. Schade, dass wir ihn nicht zusammen leben können. Aber wir sind wohl doch zu verschieden. Das ist mir klar geworden, als ich Marie traf, die genau so fühlt wie ich. Sei nicht traurig. Du wirst jemanden finden, und ich wünsche dir, dass du mit ihm deine Träume leben kannst. Machs gut, dein Jan.“                             

Von deinen Eltern, die ich besorgt anrief, nach Wochen ohne ein Lebenszeichen, erfuhr ich, dass es dir gut ging, dort, im Land deiner Träume, ohne mich. Du hast dich nie wieder bei mir gemeldet.

 

´Man sollte seine Träume nicht leben, man sollte sie bewahren, tief in der Seele vergraben, sonst gehen sie verloren´, denke ich, und wende mich ab von dem Fenster, aus dem ich nicht hinaus geschaut habe.       

Version 2