Von Kornelia Wulf

Wenn ich mich morgens von meiner Matratze erhebe, brauche ich nur drei Schritte, um die Wand rechts von mir zu erreichen. Na ja, manchmal auch vier, falls ich noch müde bin. Und, um die Mauer auf der linken Seite anzufassen, muss ich fünfmal den Fuß vor den anderen setzen. Aber den grauen Verputz, auf den ich beim Erwachen starre, kann ich sogar mit den Fingerspitzen berühren. Wie ein Felsplateau türmt er sich vor mir auf, fühlt sich ganz rau an. Und wenn ich eng an ihn gelehnt über den bröckelnden Mörtel streiche, fällt ein fahler Schein auf mich herab. Der sich mühsam durch das verrostete Gitter zwängt. Das den Lichtschacht versperrt, in dem Insektenleiber kleben. Doch Onkel Rolf schleppte Pinsel und Tuben zu mir hinab. Hat zwei Fenster auf die blätternde Fläche gemalt. Ein paar Tupfen auf helle Gardinen gekleckst und Flammende Käthchen aus Farbe gepflanzt, die selbst im Winter korallenrot blühen. „Schließlich sollst du dich hier heimisch fühlen“, hat er gesagt. 

An manchen Tagen knacke ich das Schloss in meinem Kopf und öffne die Fake-Fensterläden. 

Dann schwebt der Geruch von Sauerkraut herauf, der prickelnd auf meine Zunge tropft. Frau Gerbers Leibgericht, das sie immer dienstags kocht. Versteckt unter einem Berg aus Schweinebauch und Zwiebeln. Und auf dem Balkon gegenüber sehe ich Frau Wimmer stehen. Sie schürzt die Lippen leise gurrend. Während sie mit Weißbrotbröckchen ein Heer von Tauben anlockt. „Bah, diese ekligen Ratten der Luft!“, keift Herr Möring, der Rentnerklotz aus dem dritten Stock, „… gehören alle vergast!“

Doch bald schon spüre ich seine Hand in meinem Haar. Sie strähnt die verfilzten Locken. Onkel Rolf sammelt meine Gedanken ein. Versteckt sie in seiner Bunkerfaust. Bis sie ausbluten und verhungern.

Vielleicht fragen Sie sich, wie ich in dieses Loch geraten bin. Geben Sie mir Zeit, um mich zu sammeln.  Immer wieder drohen die Kollegen aus der Erinnerungsabteilung damit, die Arbeit zu verweigern.

Falls ich mich recht entsinne, geschah es in der Winterzeit. Noch höre ich ein Knacken und Klirren. 

Auf spiegelglattem Klinker gleite ich aus und mein Knie beginnt zu schrinnen. Wüst schimpfend stoße ich die Haustür auf und humpele in den Aufzug. Im fünften Stock lässt das marode Teil mich raus. Ausnahmsweise ohne stecken zu bleiben. Auf leisen Sohlen durch die Wohnung schleichend, entdecke ich nirgendwo ein Licht. „Gott sei Dank“, denke ich und atme auf, „Mama ist noch nicht zu Haus.“ Bestimmt hat sie heute auch die Spätschicht übernommen und muss im Sklaventempo Pakete packen. Bis der Schmerz ihre Glieder quält und Arme und Schultern lähmt. Erst gestern habe ich sie wieder erwischt – drei Mal! – mit diesen Pillen in der Hand.  Im Alibert nach einem Pflaster kramend, fällt mein Blick auf die Waschmaschine. „Los, blödes Biest. Fang endlich an!“, höre ich sie noch einmal brüllen. Sehe ihre Faust – die sich im Badschrank spiegelt – auf weißes Stahlblech donnern, weil die verdammte Trommel sich wieder nicht rührt. Ich beiße auf die Lippe, nage, sauge. Schluck ein paar Bluttropfen von der Zunge. Und heute Morgen habe ich auch noch ihre Bluse zerrissen, meine Jeans vor Mamas Füße geschmissen, die schon seit Wochen im Korb vor sich hin müffelt. Heiß puckert die Wunde unter dem Pflaster, als ein Wutschwall in mir hochschwappt. Süß bitter schmeckt er. Brennt in der Kehle. Wie der Rum, den Erik in meine Cola kippte. Schluck für Schluck in das noch kaum geleerte Glas. Bis die Wände Karussell spielten, ich nur noch blöde kicherte, weil Capital Bra auf dem Poster über Eriks Bett sich wie eine gammelige Salamischeibe wellte.

Mama hatte es mir verboten.

„Auf keinen Fall erlaube ich dir zu diesem Erik zu gehen. Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede, Pia! Erst letzte Woche parkte wieder ein Polizeiwagen vor seiner Tür. Das hat mir die Gerber gesteckt. Brühwarm. Und die Schule … fünf in Mathe …“, ich riss den Stecker aus meinem Ohr.

Aus der geballten Faust wächst mein Finger heraus. Sie glaubt wohl, ich bin immer noch die niedliche Kleine, die an ihrem Schürzenzipfel hängt und gehorsam ja und amen zwitschert. „Du kannst mich mal kreuzweise“, knurre ich, die Pflasterpackung zwischen die Wattebäusche pfeffernd, „ich lasse mir gar nichts mehr verbieten.“ Doch plötzlich schiebt sich ihr Schatten in meinen Blick. Nimmt zögernd Kontur an. Ganz vorsichtig. Und mein Finger knickt ein – voll jämmerlich – als ihr Gesicht im Spiegel auftaucht. Wie blass es wieder aussieht. Fast grau. Eingeschnürt von einem Netz aus Falten, das Risse in müde Haut gräbt. Und bestimmt hat sie wieder das Essen vergessen. Hastig husche ich in die Küche, wühle im Kühlschrank nach der Erbsensuppe, bis ich sie zwischen Presskopf und Harzer endlich finde. Der grüne Sud dampft bereits, als die Klingel mich über den Flur treibt und ein borstiger Schopf im Guckloch erscheint. Mein Gesicht hellt auf, als ich Herrn Harder öffne. Rolf Harder, mein bester Freund. Der Hausmeister unserer Hochhaussiedlung. Seit letzten Herbst, als er meine Schildkröte rettete, nenne ich ihn Onkel Rolf. Keine Ahnung, was Hilda im Lichtschacht suchte. Doch die Füßchen im Gitterrost eingeklemmt, sah ihr Panzer ganz blass aus. Die Schirmmütze zwischen klobige Finger gequetscht, räuspert er sich. „Pia, ähem … also … deine Mutter hatte einen Unfall.“ Noch höre ich ein „Hey“ – und schon hänge ich in seinem Arm – als der Boden sich unter mir in ein Laufband verwandelt. „Ach herrje, nun zittere nicht“, wie ein Vater wiegt er mich, „sie hat doch nur eine Sprosse verfehlt. Auf der Stehleiter. Bei dem Versuch ein Paket aufzufangen. Und nur zur Vorsicht soll sie heute Nacht im Krankenhaus bleiben. Ach ja, du sollst Nachthemd und Waschzeug einpacken. Ich fahre dich dann rasch zu ihr.“ Die Hand nach dem weißen Nachtkleid gereckt, verweigert sich wieder das Gleichgewicht, als plötzlich ein Hauch in meinen Atem sticht. Der sich zusammenballt, wolkendicht, bevor er eklig süß in meinem Mund explodiert. Mit Armen, die sich in Gummipropeller verwandeln, versuche ich das Tuch aus Onkel Rolfs Hand zu schlagen …

… bis etwas Spitzes in meinen Rücken springt. Schwindelfetzen kreisen, als ich den Kopf drehe, flattern wie Spatzen in meinem Hirn. „Alles nur ein Spaß“, summe ich, lache leise bei dem törichten Versuch, den schwarzen Büscheln zu entgehen, die aus der Matratze blühen.

Das pure Grau fängt mich in seine Zwangsjacke ein und für einen Moment glaube ich den Druck der Wände zu spüren, die an meinen Knochen reiben. Mein glitschender Blick – Stein für Stein – gräbt sich in den senfgelben Cordripp ein, der den fleischigen Hintern bekleidet. Die Sinne vibrieren, als ich das Smartphone sehe – das aus der Hosentasche ragt – während Onkel Rolf sich über den Eimer beugt, eine Papierrolle in der Hand, für … na, Sie wissen schon, was ich meine. Lautlos stemme ich mich hoch und knete die biegsamen Hände. Neapolitanische Klaukinderfinger nennt Mama sie immer. Das graue Gehäuse zum Greifen nah, fährt er fluchend herum. Die Tollkirschenaugen rollen. Als ob sie mich mit einem einzigen Blick in den Boden stampfen wollen. Stahlfäuste quetschen zarte Haut, und ich schreie laut auf, als sie mich auf die Matratze zurück schmettern.

Zwei Tage hat er mich dort liegen lassen. Ohne Wasser. Ohne Brot. Bis die Zunge am Gaumen klebte und Mama unter der Decke schwebte. In ihrem weißen Nachtkleid sah sie so schön aus. Und während ihre Finger über das Smartphone flogen, rief sie mir zu. „Keine Chance, mein Pialein. Hier oben ist noch kein Platz für uns frei.“ 

Dann ist er endlich zurückgekommen. Hat meinen Kopf in beide Hände genommen. Und als ich weich gebettet auf seinem Cordrippschoß, wie ein Milchlamm an der Flasche sog, flüsterte er, „nicht so hastig, Engelein“, während ich spuckte und prustete, mir die Seele aus dem Leib hustete. 

Und in diesem Moment war es mir ganz klar. Onkel Rolf ist wieder mein Freund.

Heute hat er mich mit in den Garten genommen. In diesen winzigen Flecken Grün, umwachsen von dornigen Hecken. Und eine Kette um meinen Hals gelegt. An der zwei Engel baumeln. Die zusammen gewachsen an silbernen Flügeln als siamesische Zwillinge durch den Orbit schweben. Dann hat er von seiner Tochter erzählt. In die schwedischen Schären wollte er mit ihr reisen. Ihr das satte Blau der Seen zeigen, aus denen Felskuppen zu wachsen scheinen. Die Reling eines der Pötte besteigen, die bis nach Stockholm schippern. Auf dem Parkplatz dann fielen seine Lider. Nur für einen winzigen Moment. Während Klara in ihrem Koffer kramte und mit Netz und Gejohle den Schmetterling jagte. Immer und immer hört er ihr helllichtes Lachen, das durch die rauschenden Baumkronen flog und sich mit dem Kreischen der Bremse verwob … als der blaue Volvo von der Fahrbahn abkam und Klara auf seine Kühlerhaube nahm. Sekundenschlaf habe der Richter später gesagt. 

Als Tränen auf meinen Scheitel tropften, hielt ich die bebenden Schultern umfangen. Schließlich ist Klara so etwas wie meine Schwester, oder?

Eingehüllt im wärmenden Sonnenschein, atme ich Jasminduft ein und wälze mich im Gras. Bis ich auf etwas Hartes rolle, eine Gartenschere unter dem Hintern hervorhole, versteckt im Löwenzahn. Den roten Griff fest umklammert, lasse ich den Blick durch die dichte Hecke wandern. In der ich plötzlich ein Tor entdecke, das mein Gefängnis von der Welt abtrennt. Auf dem Gehweg raufen zwei rotzige Bengel, die übermütig wie Stiere grölen und rempeln. Und hinter der Biegung der Bundesstraße, erklimmt mein Blick die schmutzige Hochhausfassade, die er bestens kennt. Bis Weißbrotbröckchen auf pinke Geranien wehen, auf dem Balkon sehe ich Frau Wimmer stehen. Verhüllt in dem grauschwarzen Federkleid, das aus ihrer Haut zu wachsen scheint, krächzt sie das Palomalied.

Auf Pantherpfoten schleiche ich mich an, die Schneide gezückt in geballter Faust. Sinnend steht er im Vergissmeinnichtbeet und singt ein trauriges Abschiedslied. 

Und noch einmal spanne ich fest an … dann … öffne ich die Hand. Lasse den Kopf auf Onkel Rolfs Schulter sinken.

 

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