Von Nina Schmücker

„He, Sie! Was machen Sie denn da?“ Der alte Herr, circa Ende 80, springt mit seinem Gehstock auf das schwarzen Auto zu und versetzt ihm zur Begrüßung einen ordentlichen Hieb auf die Motorhaube.

 

Markus erschrickt fürchterlich. Er stellt den Motor ab und lässt sein Fenster runter. „Ja aber Herr Wenger, wir haben doch einen Termin!“

 

„Gar Nichts haben wir! Ich kenne Sie nicht! Verschwinden Sie!“

 

Markus steigt aus dem Audi seines Vaters. Er versucht den Mann zu beschwichtigen und erklärt ihm, dass er im Auftrag seines Vaters hier ist. Ferdinand Mayer, selbstständiger Versicherungsagent. Sein Vater schickt ihn, um wieder einmal die Versicherungen und Finanzunterlagen durchzugehen. Der alte Wenger schimpft lauthals vor sich hin, wie immer. Alle wollen nur an sein Geld, alle wollen ihm etwas verkaufen, alle wollen ihm nur etwas Schlechtes. Markus schüttelt den Kopf und erklärt ihm nochmals, dass er ihm nur bei seinen Finanzen helfen will. Doch eigentlich denkt er sich, hat der alte Mann ganz Recht. In Wirklichkeit hat sein Vater ihm aufgetragen, dass er ihm irgendein neues Produkt andrehen soll. Irgendwas Uninteressantes und Kompliziertes. Also ja, er will nur an sein Geld.

 

„Na gut, wenn Sie schon mal da sind. Ich brauche eh gerade Hilfe. Kommen Sie rein.“

 

Markus folgt ihm in das Haus. Ein traumhaftes Anwesen, eine alte Villa mit viel Grund. Wie kommt so ein unsympathischer Kerl zu so einem schönen Zuhause. Während Markus grübelt, muss er an seine eigene Wohnung denken. Eine Garçonnière, sehr spärlich und im Moment leider noch sehr ungemütlich. Sein Vater hat ihn gerade erst rausgeschmissen. Er sei ein Taugenichts und werde es nie zu etwas bringen. Ein Satz den er bestimmt schon tausende Male gehört hat und das nicht nur von ihm. Nach dem Rauswurf ist er also in sein bescheidenes Heim und hat versucht sich sein eigenes Leben aufzubauen. Hat nur leider nicht allzu gut funktioniert. Den letzten Job in einer Bank hat er nun auch wieder verloren. Er sei zu nett, nicht verkaufsorientiert genug. Kaffeeklatsch mit den alten Damen reiche nicht, er muss schon auch mal zum Abschluss kommen, damit die Zahlen stimmen. Markus weiß selber, dass er für solche Jobs nicht geeignet ist. Den Bankjob hat er von seinem Vater vermittelt bekommen. Natürlich hat der ihm nach der Kündigung die Hölle heiß gemacht. Der übliche Vortrag, er ist zu Nichts zu gebrauchen, eine Peinlichkeit vor seinen Geschäftspartnern und so weiter. Sein Vater beschließt ihn noch ein letztes Mal unter seine Fittiche zu nehmen. In seiner eigenen Firma, seinem Heiligtum. Er hat sich alles selber aufgebaut und erarbeitet. Ein solider Kundenstock, treue Stammkunden und vor allem das richtige Gespür. Er soll sich gefälligst ins Zeug legen, Dankbarkeit zeigen, schließlich hat diese Firma die komplette Familie ernährt.

 

„Los jetzt! Stehen Sie doch nicht so blöd herum. Packen Sie mit an“, reißt ihn der alte Mann aus seinen Gedanken. „Der Staubsauger ist neu, der muss rauf in den ersten Stock und sobald meine Frau wieder da ist erklären Sie ihr wie alles funktioniert.“

 

„Herr Wenger, ich bin doch wegen den Versicherungen hier. Mit Staubsaugern kenn ich mich nun wirklich nicht aus.“

 

„Ach Papperlapapp. Staubsaugervertreter, Versicherungsvertreter, alles das Gleiche. Ihr drückt euch nur alle vor der Arbeit. Keiner will heute mehr arbeiten. Alle wollen die fette Kohle, aber ja nichts tun dafür. Los, jetzt bringen Sie den hinauf! Oder soll ich Ihren Vater anrufen, dass Sie Ihre Arbeit nicht ordentlich machen?“

 

Widerwillig nimmt er den sperrigen Staubsauger und schleppt ihn die Treppen hoch. Hinter ihm der alte Wenger, wie immer schimpfend. Geschwafel über seine missratene Generation, alles Versager und Faulpelze. Im Gegensatz dazu ist sein Vater, Mayer Senior natürlich ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Der hat es zu etwas gebracht, er solle sich daran doch mal ein Beispiel nehmen. Angekommen im ersten Stock, stellt Markus den Staubsauger ab.

 

„Ach was, kein Schritt zu viel. Müssen Sie den so knapp hier am Treppenrand abstellen. Was wenn der jetzt hinunterfällt. Der hat mehr gekostet als Ihr Monatsgehalt.“ Herr Wenger versetzt dem Staubsauger einen kleinen Tritt. Schon löst sich einer der Bürstenaufsätze aus der Halterung und kullert die Treppen hinunter. „Da sehen Sie’s! Das holen Sie jetzt aber ganz schnell wieder hoch, sonst ruf ich sofort Ihren Vater an. Der soll Sie feuern, Sie Nichtsnutz!“

 

Markus platzt der Kragen! Der alte Wenger erinnert ihn in diesem Moment nicht nur an seinen Vater, sondern auch an seinen meckernden Großvater, den Schuldirektor, seine ganzen Chefs. Es reicht, er lässt sich das nicht länger bieten. Er will doch diesen Job sowieso nicht! Energisch stößt er den Staubsauger von sich weg, ungeachtet dessen, dass er damit den alten Mann trifft. Herr Wenger verliert das Gleichgewicht und stürzt die Treppen hinunter. Obwohl alles rasend schnell geht, sieht Markus das Ganze in Zeitlupe. Während er am Treppenrand steht und den armen Herrn Wenger beim Fallen beobachtet, sieht er sein eigenes Leben vor seinem inneren Auge ablaufen. Er wollte nie für seinen Vater arbeiten sondern Reisen. Weit weg von Zuhause, von seiner Familie, einfach nur die Welt entdecken. Aber jetzt wo er jemanden umgebracht hat, lässt man ihn vermutlich nicht mehr aus dem Land. Umgebracht? Oh Gott, der Wenger! Markus stürzt die Treppen hinunter, da liegt er. Regungslos und das Blut rinnt ihm aus der Nase. Er beugt sich über ihn und versucht seinen Atem zu hören, aber da ist nichts. Als nächstes versucht er seinen Puls zu fühlen, wieder nichts. Er ist tot! Markus wird übel, er rennt zur Haustür und übergibt sich im Vorgarten in ein Blumenbeet. Wie in Trance wackelt er zu seinem Auto, steigt ein und fährt los. Am liebsten würde er ewig weiterfahren, irgendwohin, weit weg. Aber nein, das wäre verdächtig. Wenn er jetzt nachdem der Wenger tot gefunden wird untertaucht, dann wissen alle er war es. Markus sitzt die ganze Nacht in seinem Auto, auf dem Parkplatz vor seinem Wohnhaus. Er grübelt, verfällt in Panik, schwelgt dann wieder in Urlaubsfantasien. Irgendwann schläft er schließlich am Lenkrad ein.

 

Am nächsten Morgen, pünktlich um acht Uhr weckt ihn sein Handy. Ein Anruf. Sein Vater.

 

„Denkst du daran, dass du gleich einen Termin bei der Frau Stöllinger hast? Sie bespricht ihre Finanzen am liebsten beim Frühstück. Sie wird dir alles Mögliche auftischen. Das einzig genießbare ist der Kaffee, aber da muss man durch als guter Geschäftsmann.“

 

Markus schnaubt ins Telefon, spart sich allerdings jegliche Widerworte. Das hat er sich bei seinem Vater längst abgewöhnt.

 

„Ach ja, wie war der Termin beim Wenger? Hast du dem alten Griesgram das neue Produkt verkauft?“

 

Markus rutscht das Herz in die Hose. Vorlauter Alltagsgeplänkel hätte er beinahe auf den alten Wenger vergessen und vor allem auf den Mord. Nein, nein es war ein Unfall! Schon wird ihm wieder schlecht. Er übergibt sich zur Fahrertür hinaus. Während er seinen Vater am Handy schreien hört, ob er denn noch da sei.

 

„Der Wenger hat gestern nicht aufgemacht. Ich bin dann wieder gefahren. Beim nächsten Termin verkauf ich ihm bestimmt was“, lügt er und legt schnell auf. Wie ferngesteuert startet er den Motor und fährt zu seinem Termin. Frau Stöllinger öffnet ihm vergnügt die Haustüre und bittet ihn herein. Es ist genau wie sein Vater gesagt hat, der Tisch ist voller Essen und nichts davon schmeckt. Aber eigentlich ist ihm das völlig egal. Er sitzt da, trinkt Kaffee und überlegt wie er aus der Sache wieder rauskommt, während die alte Dame ihn mit dem neuesten Klatsch und Tratsch zu textet.

 

„Haben Sie das mit dem Wenger schon gehört?“, fragt sie ihn schließlich und reißt ihn damit wieder aus seinen Gedanken. „Den haben sie gestern Abend tot aufgefunden. Also seine Frau. Sie war am Nachmittag in ihrem veganen Kochkurs und als sie am Abend heim ist, lag er da am unteren Ende der Treppe. Ist scheinbar gestürzt. Tz, veganer Kochkurs, dass die sich in ihrem Alter sowas noch antut. Wahrscheinlich hat sie das eh nur gemacht um ihren Mann zu ärgern. Ein scheußlicher Kerl dieser Wenger. Also wenn die Frau kein Alibi hätte, hätte ich ja sofort sie in Verdacht. Der war ja nur gemein zu ihr. Ich mein, er war ja eh zu jedem so, aber sie musste das halt rund um die Uhr ertragen. Darum habe ich ja vermutet mit dem veganen Blödsinn will sie ihn vergiften. Aber nein, ihr Glück, fällt der alte Hund doch glatt die Stufen runter während er versucht hat den Staubsauger rauf zu tragen. Naja. Vielleicht hat er sich auch freiwillig runter geschmissen bei dem Fraß den sie ihm da immer vorgesetzt hat. Schauens, das sind Vanillekekse. Die hat sie mir gestern von ihrem Kurs mitgebracht. Fürchterlich.“

 

Markus, nimmt sich einen Keks und macht sich auf das Schlimmste gefasst, doch sie schmecken himmlisch. Frau Stöllinger leidet wohl unter irgendeiner Geschmacksverwirrung, das würde auch die kulinarischen Katastrophen erklären die sie auftischt.

 

„Markus, was haben Sie denn da auf Ihrer Krawatte? Ist das Blut?“

 

Er erschrickt und schaut mit weit aufgerissen Augen an sich hinunter. In dem Moment fällt ihm ein, dass er sich über den Wenger und seine blutende Nase gebeugt hat.

 

„Nein, nein das ist nur Ketchup. Ich hatte heute Morgen schon Rührei und mag das am liebsten mit Ketchup.“

 

„Ach darum essen Sie nichts von meinen Köstlichkeiten. Naja bei unserem nächsten Termin wissen Sie jetzt, dass Sie nichts frühstücken müssen, weil Sie bei mir genug bekommen.“

 

„Sehr freundlich Frau Stöllinger, aber das nächste Mal kommt wieder mein Vater. Ich kündige und nehme ein Jahr Auszeit. Ich bereise die unterschiedlichsten Länder, halte mich dort mit verschiedenen Aushilfsjobs über Wasser und genieße die Kultur, die Leute und generell das Leben. Wissen Sie, ein Bekannter von mir ist gerade erst verstorben. Ein wirklich frustrierter und unzufriedener Mensch. Das hat mir gezeigt, dass das Leben einfach zu kurz ist. Ich schick Ihnen eine Postkarte, versprochen!“

V1