Von Michael Voß

Umsichtig manövriert Harry seine Benelli TNT in die gerade freigewordene Parklücke am Rand der belebten Fußgängerzone. Einen Moment noch lauscht er dem heiseren Brabbeln des bärenstarken Dreizylinders, dann dreht er den Zündschlüssel auf STOP, hängt den Helm an die Sitzbank und öffnet die Bikerjacke.

„He, Harry! Haaaaarry, hiiiier!“

Eindeutig Trixies Stimme. Harry entdeckt die vollschlanke Endzwanzigerin an einem Tischchen vor „Giovannis“, einen Cappucino vor und einen Mann im Anzug neben sich. Sie strahlt und winkt.

Voll verknallt!, denkt Harry. Sonst hätte sie sich im Leben nicht dieses Schlauchkleid gezwängt und würde auch nicht solche Absätze tragen, für die man anderswo ´nen Waffenschein braucht. Harry lenkt seine Schritte in Richtung des Pärchens. Er freut sich riesig für Trixie, die er schon ewig kennt. Sie ist im selben Wohnblock aufgewachsen wie er und hat es früh geschafft, dem Hartz-IV-Sumpf zu entkommen. Nicht auf den Mund gefallen und fleißig, ist sie jetzt Kreditberaterin bei einer Bank und war neulich Angestellte des Monats. Echt super, die Frau. Nur mit den Kerlen lief es nie so gut, das waren immer nur Luftpumpen. Den Typen neben ihr kann Harry nicht einsortieren. Durchschnittsgesicht, Durchschnittsgröße, Zahnpastagrinsen, Designeranzug, Armbanduhr im Schlagringformat, klimpert mit dem Schlüsselbund auf dem Tischchen rum und macht einen auf dicke Hose. Eine Mischung aus Vertreter, Versicherungsmakler und Zuhälter.

Warum Trixie ihn so anschmachtet, kann Harry nicht nachvollziehen.

„Hi Trixie!“

„Hallo Harry! Das ist Marc, wir sind jetzt zusammen! Marc, das ist Harry, ein ganz lieber Freund!“

Marc scheint nur wenig interessiert an dem ganzen lieben Freund. Er nickt sparsam und ringt sich ein „Hi“ ab. Dann strahlt er wieder und guckt abwechselnd zwischen Trixie und den vorbeischlendernden Leuten hin und her. 

„Magst du ein Eis, Harry?“, fragt Trixie mit bittendem Blick.

„Jau.“

Harry zieht sich einen Stuhl vom Nachbartisch heran und nimmt Platz.

Eine glutäugige Bedienung kommt heran und streift Harry wie zufällig mit der Hüfte.

„Ciao Harry!“

„Hi Maria.“

„Il solito espresso, ragazzone?“

„Certo, mia cara.“

Maria schenkt Harry ein warmes Lächeln: „A presto, tesoro!“

Dann verlässt sie hüftschwenkend den Tisch. 

Marcs Augen flackern zwischen Marias Po, Trixies Ausschnitt und dem breitschultrigen Harry hin und her, der sich aus der Bikerjacke befreit.

„Du sprichst italienisch?“

„Nö. ´S reicht zum Bestellen und guten Tag sagen. Ansonsten verstehe ich nur Bahnhof.“

Marc scheint zufrieden: „In meinem Job bist du ohne mindestens zwei Business-fluent-Languages sofort raus. Beside Skills bringen einen nach oben. Ich kann Englisch, Französisch und lerne gerade Mandarin.“

Was? Mandarinen kennt Harry nur als Obst. 

„Äh, cool.“

„Und, was machst du so?“, fragt Marc mit lauerndem Blick.

Ich bin Abflussreiniger, will Harry gerade sagen, doch Trixie ist schneller.

„Harry ist selbstständig im Facility Management-Umfeld.“

„Ich bin Business Consultant. Meine Clients sind Global-Player, Sales min siebenstellig. Mein Unit-Manager hält viel von mir. Noch ein, zwei Jahre, dann bin ich Senior Consultant.“

„Aha“, sagt Harry bedächtig. „Du bist bestimmt mächtig erfolgreich.“

„90 Kilo per anno, dazu Benefits wie Dienstwagen, Laptop und Handy. Das geht natürlich nur mit Einsatz, aber Leute, die weniger als 60 Stunden die Woche machen, sind eh alle nur Faulpelze.“

Für einen Augenblick sieht Trixie nicht mehr ganz so glücklich aus.

Maria kommt und stellt Harry ein Gedeck hin: Espresso, ein Glas stilles Wasser und ein Schokoherzchen auf einem kleinen Untersetzer.

Harry reicht ihr einen Schein und Maria kramt nach dem Wechselgeld.

„No, no. Va tutto bene“, winkt Harry ab.

Maria macht einen Kussmund.

„Tu sei un angelo, Harry!“

Dann ist sie wieder weg.

Marc glotzt. 

„Ziemlich üppiges Trinkgeld.“

„Jau“, sagt Harry, der die alleinerziehende Maria gern unterstützt.

„Ich zahle immer mit meiner Barclays Platinum.“

Harrys Gesicht ist ein Fragezeichen.

„Das ist eine Premium-Kreditkarte“, ergänzt Trixie stolz.

Marc legt sofort nach.

„Damit bin ich worldwide 24-7 solvent. Next Weekend fliege ich First-Class mit Trix nach …“

Harry schaltet die Ohren auf Durchzug und beobachtet Trixie, die mit leuchtenden Augen an Marcs Lippen hängt. Nebenbei trinkt er genüsslich den Espresso, verspeist das Schokoherzchen und zwinkert Maria zu, die zwischendurch zu ihm herüberlächelt. Schließlich steht er auf und greift nach seiner Jacke. 

„Sorry, Leute, aber ich muss los. War nett, dich kennenzulernen, Marc. Ciao, Trixie!“

Trixie scheint kurz aus ihrem Taumel zu erwachen. Ihre Augen flackern irritiert.

„Äh, ja, Harry. Tschüss, bis dann?“

„Joh. Macht Euch ein schönes Wochenende.“

 

Drei Wochen später, an einem Samstag, steigt Harry aus dem Rohrfrei-Transporter und läutet an der Tür eines stylischen Bungalows. 

Marc, einen Berliner kauend, öffnet. Auf der Krawatte prangt ein Klecks Konfitüre.

„Ja?“

Offenbar erkennt er Harry nicht. 

 Harry sagt: „Tach. Kaminski, Rohrreinigung.“

Marc verzieht abschätzig das Gesicht. „Das wurde aber auch Zeit! Ich habe Besuch. Und die Jungs wollen ihr Bier wegbringen.“

„Schon klar“, erwidert Harry: „Wo ist es?“

„Hier lang.“

Marc führt Harry durch einen großzügigen Wohn-Essraum, an den sich der offene Kochbereich anschließt. Die Küche samt Einbaugeräten stammt von einem namhaften deutschen Hersteller – allein für den Preis der Dunstabzugshaube kaufen andere Leute eine komplette Einbauzeile. Marc scheint die Küche kaum zu nutzen. Auf den Ablageflächen stapeln sich leere Pizzakartons, die Kochinsel ist vollgestellt mit Bierkästen, Whiskyflaschen und Tüten voller Berliner.

Am Wohnzimmertisch sitzen ein paar Männer beim Kartenspiel.

„Wo bleibst du, Marc? Wir warten auf deinen Einsatz!“, ruft einer.

„Moment noch. Muss dem Scheißhaus-Typen noch das Klo zeigen.“

„Gib ihm nen Hunni extra, er soll dalli machen“, lacht der Mann.

„Du hast wohl einen an der Waffel! Reinpacken und Scheiße rausholen ist keine fünfzig Euronen wert“, protestiert Marc.

Die Kerle lachen.

„In dem Fall arbeite ich nur gegen Vorkasse. Hundertfuffzich sofort, oder ich mache die Biege“, erklärt Harry trocken. 

„Das haste jetzt davon, Marc! Der Kloputzer ist clever!“, ruft einer.

„Okay, okay“, brummelte Marc und zückt seine Kreditkarte: „Hier!“

„Nur Barzahlung“, erklärt Harry.

„WAAS?“

„Ich hab nich son Apparat für Plastikgeld.“

„Scheiße Mann! Damit zahle ich alles und überall.“

„Ich bin nicht alles. Und was die Scheiße angeht: soll die nun weg oder nicht?“

Einer der Männer am Tisch zieht zwei Hunderter aus einer Geldscheinklammer.

„Hier! Reicht das?“

Harry tippt mit dem Finger an den Rand seiner Basecap.

„Gebongt.“

Er packt sein Werkzeug und stiefelt ins Bad.

 

Durch die halboffene Tür hört er, wie die Runde sich weiter unterhält.

„Tja, Marc, wenn alle CEO´s so wären wie der Kloputzer, wärst du arbeitslos!“

„Wieso das?“

„Na, so wie der drauf ist, braucht der keinen Unternehmensberater!“

„Willst du sagen, der hat mehr Grips als meine Kunden?“

„Auf jeden Fall weiß er, wo´s lang geht. Deine Klienten haben vielleicht studiert, aber sagst du nicht immer, die hätten keine Ahnung?“

„Stimmt ja auch. Die wissen nicht, was in ihren Firmen so abgeht. Deshalb holen sie sich Leute wie mich ins Haus, wenn sie Probleme in ihrem Laden sehen.“

„Und wie machst du das? Du hast zwar BWL studiert, aber ganz ehrlich, Marc – von dem, was und wie eine Firma produziert, hast du doch keinen Plan!“

„Brauche ich auch nicht. Die Produkte sind doch völlig egal. Ich mache immer denselben Business-Plan. Die Zielvorgaben: Der Vertrieb muss 20% mehr verkaufen, die Entwicklung und Produktion müssen die Herstellkosten um 40% senken. Dazu wird die Belegschaft um 20% reduziert. Das senkt die Kosten und erzeugt Druck. Dadurch legen sich alle ins Zeug und nach einem Jahr sieht die Bilanz schon viel besser aus“.  

Harry, der durch die immer noch halboffene Tür alles mitbekommen hat, zieht sein Handy und schaltet Lautsprecher und Tastentöne auf stumm. Dann ruft er Trixie an und stellt das Smartphone in der Nähe der Tür ab. 

Einer von Marcs Freunden sagt: „Das funktioniert doch nicht auf Dauer. Wenn alle Angst vor Entlassungen haben, gehen die guten Leute bald woanders hin. Und diejenigen, die bleiben, kriegen es alleine nicht mehr hin. Dann machen sie unbezahlte Überstunden, nur um ihren Job zu behalten. Nach zwei, drei Jahren ist der Laden ausgebrannt und fährt vor die Wand.“

„Wen juckt das? Ich hab´ meine Kohle, meine Klienten sind erst mal zufrieden und empfehlen mich weiter. Übrigens habe ich jetzt einen lokalen Kunden, nämlich unsere Sparkasse!“

„Seit wann kümmerst du dich um so kleine Klitschen?“

„Wart ´s ab! Der neue Direktor ist ehrgeizig und will den angestaubten Laden auf Vordermann bringen. Nur: bei den Zinssätzen kann keine serviceorientierte Bank mehr überleben. Ich habe ihm vorgerechnet, dass er die Filialen durch Automaten ersetzen muss und die Bank nur noch online betreiben darf. Er ist begeistert!“

„Arbeitet nicht deine neue Freundin als Kundenberaterin bei der Sparkasse? Die wird dann aber ihren Job los, Mann.“

„Genau das ist der Plan.“

„Bist du bescheuert? Du ziehst deinem Girlfriend den Teppich unter den Füßen weg?“

„Alles gewollt. So treibe ich sie in meine Arme und die Hochzeit ist sicher.“

„Seit wann willst du heiraten, alter Schürzenjäger?“

„Seit ich Senior Consulting Manager werden will. Die Firma erwartet einen soliden Background: Haus, Frau, Kinder. Dafür brauche ich Trixie. Sie ist super vorzeigbar und legt überall ´nen guten Auftritt hin. Leider will sie noch ein paar Jahre arbeiten, bevor sie an Kinder denkt. Da muss ich eben nachhelfen.“

Harry testet die Spülung: das Wasser läuft nun wieder einwandfrei ab. Er packt sein Werkzeug zusammen und wäscht sich die Hände. Als er sich verabschieden will, klingelt es an der Tür. Marc öffnet. 

 

„Du Scheißkerl!“

Wutentbrannt verpasst Trixie ihm eine schallende Ohrfeige. 

„Das war´s mit uns!“

Sie dreht sich auf dem Absatz um und stürmt davon. 

 

Im Rausgehen drückt Harry dem glotzenden Marc einen Berliner in die Hand. 

 

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