Von Gabriele Lengemann

Vera griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie ganz fest.
„Danke, dass du mitgekommen bist, Ilse“, sagte sie. “Ohne dich wäre das hier alles nur halb so schön.“
In dicke Jacken eingepackt standen die beiden Frauen zusammen mit anderen Passagieren auf dem Deck des Kreuzfahrtschiffes. Gleich würden sie in New York einlaufen, rechter Hand sah man schon die Freiheitsstatue. Es war noch sehr früh am Morgen, der Himmel war grau, es stürmte und der Regen wusch die Tränen weg, die Vera über das Gesicht liefen. Die Eindrücke der Reise, ihr gestriger 80. Geburtstag und jetzt New York, das war auf einmal alles zu viel für sie.

Das Bordpersonal hatte sich bemüht, Vera einen unvergesslichen Geburtstag zu bereiten. Die Crew war sowieso völlig vernarrt in die beiden Freundinnen, die, nachdem sie ihr gesamtes Leben nie aus Deutschland herausgekommen waren, nun im hohen Alter von ihrer Heimatstadt Hamburg aus, über den Atlantik schipperten, jeden Ausflug wie ein Abenteuer genossen und für jede Aufmerksamkeit, die man ihnen zuteilwerden ließ, dankbar waren.                      

„Ich war noch niemals in New York,“ trällerte Ilse unter der Dusche und drehte das heiße Wasser weiter auf, denn sie war nach dem frühmorgendlichen Aufenthalt auf dem Deck völlig durchgefroren.

Vera lächelte, sie packte einen Stadtplan von New York und zwei Plastikflaschen mit Wasser in einen kleinen Rucksack und ließ sich noch einen Moment auf das Bett fallen. Durch das große Fenster der Balkonkabine, die sie für Ilse und sich gebucht hatte, sah sie aufs Meer, dessen dunkles Blaugrau sich nach und nach aufhellte. Es tat gut, mit Ilse unterwegs zu sein. Seit Kindertagen waren sie eng befreundet, und Ilse konnte so detailliert und anschaulich von früher erzählen, dass lange Zurückliegendes auch Vera wieder einfiel, so wie der Inhalt eines Buches, das sie vor langer Zeit gelesen hatte. Etwas aus ihrem Leben allerdings würde sie nie vergessen und seit klar war, dass Ilse und sie nach Amerika fahren würden, dachte sie Tag und Nacht daran. Sie sah durch das Fenster auf das strahlend blaue Wasser, auf dem mittlerweile Sonnenstrahlen tanzten und ihre Gedanken wanderten zurück.

Es war im Frühjahr 1957, Vera hatte gerade die Schule beendet, da schickten ihre Eltern sie nach Gießen zu Ihrer Tante. Die führte dort ein gut gehendes Tanzlokal und Vera sollte ihr ein paar Monate unter die Arme greifen. In der Stadt wimmelte es damals nur so von Amerikanern, die auch im Lokal der Tante verkehrten und so lernte Vera Bob kennen. Nie war sie glücklicher und hatte bedingungsloser geliebt und kein Tag war schrecklicher für sie als der vor dem Weihnachtsfest, an dem Bob wieder nach Virginia zurückmusste. Er wollte sie nachholen und sie wollte nichts lieber als das. Als sie es ihren Eltern erzählte, nannte ihr Vater sie Ami-Flittchen.
„Ein Amerikaner hat in unserer Familie nichts verloren,“ sagte der Vater. Vera war krank vor Liebeskummer und hätte sie Ilse nicht gehabt, vielleicht wäre sie in die Elbe gegangen, um ihrem Schmerz ein Ende zu setzen. Ilse war es auch, die sie im darauffolgenden Jahr mit Heinrich bekannt machte, einem humorvollen, etwas untersetzten Philosophielehrer. Vera und Heinrich heirateten, bekamen Max und führten bis zu Heinrichs plötzlichem Tod im Herbst letzten Jahres eine glückliche, von gegenseitigem Respekt geprägte Ehe.
Von Bob hörte sie nichts mehr und erst Jahre später erfuhr Vera, dass ihre Tante seine Briefe nicht an sie weitergeleitet hatte.
„Ich war noch niemals in New York“, die Badezimmertür öffnete sich und inmitten einer Dampfwolke trat die singende Ilse, in ein Handtuch eingehüllt, heraus.

 „Wenn du dich nicht beeilst, wird das auch nichts mehr, Ilsekind“, meinte Vera.

Den beiden blieb noch Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Die Melancholie, die Veras Gemüt getrübt hatte, war verflogen und auch der Himmel über New York zeigte sich wolkenlos. Durch die großen Panoramafenster des Speisesaales schien die Sonne und man hatte einen großartigen Blick auf die Skyline von Manhattan.

„Übrigens hat sich die Bank gestern Abend noch gemeldet“, meinte Vera, während sie ihr Ei köpfte.
Ilse kicherte.  Sie wusste, dass mit der Bank Max gemeint war, Veras Sohn. Er versuchte, seit dem Tod seines Vaters, Vera Vorschriften in Bezug auf ihren Umgang mit Geld zu machen.
Max war letzten Monat von seiner Ehefrau vor die Tür gesetzt worden und hatte sich wieder in seinem Jugendzimmer in Veras Hamburger Altbauwohnung einquartiert. Übergangsweise, wie er sagte. Im Moment versuchte er jedoch von dort, wie aus einer Kommandozentrale heraus, Einfluss auf Veras Leben zu nehmen. Diese kostspielige Schiffsreise nach New York gefiel ihm überhaupt nicht.

 „Sieh dir das an!“. Vera reichte Ilse das Handy. Max hatte ein Selfie geschickt. Es zeigte ihn, wie er etwas, das wie ein Berliner Pfannkuchen aussah, in der Hand hielt.  Er trug ein weißes Hemd, die Haare waren ordentlich frisiert. Auf seiner Krawatte befand sich ein riesiger, roter Fleck, als sei Marmelade aus dem Berliner getropft. Er hatte die Stirn gerunzelt und blickte mitleidheischend in  die Kamera, so als wollte er zeigen, wie erbarmungswürdig seine Mahlzeit war, aber eigentlich machte er denselben blasierten Eindruck wie eh und je.
„ Mäxchen  is(s)t allein zuhaus und wünscht noch einen schönen Geburtstag“,
hatte er unter das Foto geschrieben.
 Ilse gab Vera das Handy zurück.
„Das ist nun mal sein Humor, Vera“, versuchte sie Max für das peinliche Foto in Schutz zu nehmen“, er findet das lustig.
„Was soll das für ein Humor sein, Ilse?“, fragte Vera. „Von mir und Heinrich hat er das nicht. Er mag doch auch gar keine Berliner. Wahrscheinlich hat er sie nur gekauft, weil es drei zum Preis von zweien gab“.

„Jetzt wartet New York auf uns“, lenkte Ilse ab und tatsächlich mussten sie sich beeilen, um den Treffpunkt für den Ausflug pünktlich zu erreichen. Sie besichtigten das Rockefeller Center, fuhren hinauf auf die Aussichtsplattform und bewunderten die Grand Central Station. Sie spazierten am Hudson entlang, gingen ein Stück auf der Brooklyn Bridge und dann zurück zum Times Square.  Am späten Nachmittag suchten sie Ruhe im Central Park und da ihnen die Füße so weh taten, gönnten sie sich eine Kutschfahrt. Was für eine wunderbare Oase der Ruhe der Central Park doch war in dieser lauten, unruhigen Stadt.

Am Abend waren sie ganz aufgedreht von den vielen Eindrücken und landeten an der Bar. Ilse wurde von dem charmanten Conférencier, der durch das abendliche Unterhaltungsprogram geführt hatte, zum Tanz gebeten. Vera beobachtete die beiden gerührt. Ilses Augen glänzten und ihre Wangen glühten, während sie ihrem Tanzpartner unentwegt etwas ins Ohr plapperte.  

Vera bestellte einen Gin-Tonic.  Sie sah zu, wie der Barkeeper den Drink mixte und erschrak, als sie sich selbst im großen Spiegel erblickte, der hinter der Bar angebracht war. Seit Heinrichs Tod ließ sie ihr Haar nicht mehr färben und nun  war es schlohweiß. Schmal war ihr Gesicht geworden, die Falten hatten sich vertieft.
Hastig suchte sie in der Handtasche nach ihrem dunkelroten Lippenstift. Als sie sich unbeobachtet wähnte, zog sie schnell die Lippen nach.
„Schon besser“. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu und sah im Spiegel in die Augen eines ebenfalls lächelnden, gutaussehenden Mannes, etwa in ihrem Alter, der sie beobachtet hatte.
„Johann Borg aus Lübeck“, stellte er sich vor und zog seinen Barhocker ein wenig näher an den Ihren.  Etwas an der Art wie er den Kopf zu ihr wandte und mit ihr sprach, erinnerte sie an Bob und als sie wenig später zusammen tanzten, legte sie den Kopf an seine Brust, schloss die Augen, verlor sich in der Musik und war auf einmal wieder im Tanzlokal ihrer Tante in Gießen. Die Band spielte „Strangers in the Night“, Vera hörte das Lachen der amerikanischen Soldaten und genoss den Klang ihrer Sprache. Sie roch den Zigarettenrauch, der plötzlich den ganzen Raum erfüllte und fühlte den rauen Stoff von Bob`s Uniform an ihren Händen.
„Vera, möchtest du noch etwas trinken?“, rief Ilse von der Theke und Vera öffnete die Augen. Nach und nach kam sie wieder in der Gegenwart an. Johann geleitete sie zur Bar zurück und Ilse und sie unterhielten sich noch lange angeregt mit ihm. Sie tranken ein Glas auf die Irrungen und Wirrungen des Lebens und auf das Glück. Johann verabschiedete sich formvollendet mit einem Handkuss von den Damen und als er sich zu Vera hinunterbeugte, berührten seine Lippen scheinbar unbeabsichtigt ihre Stirn.
„Danke Bob“, sagte Vera so leise, dass auch Johann es nicht hörte.

Es war nach Mitternacht, als sie endlich ins Bett fielen. Vera zückte ihr Handy, um Max zu schreiben.
Ich habe wunderbare Neuigkeiten“, schrieb sie.  Ich habe jemanden kennengelernt und mich über beide Ohren verliebt. Er sieht fantastisch aus und will mich von nun an durch das Leben tragen. Vielleicht wird er bald zu mir ziehen. Ich glaube, es wäre besser, du würdest dir was Eigenes suchen. Ich hoffe, du verstehst das Max!“.
Sie schickte die Nachricht ab und wie sie es erwartet hatte, schickte Max sofort seine Antwort über den Atlantischen Ozean. Sie bestand aus einer Reihe von Fragezeichen.
Vera wählte aus den Fotos, die sie und Ilse heute geschossen hatten, eines aus. Darauf war die Kutsche, mit der sie durch den Central Park gefahren sind, zu sehen und im Vordergrund Vera, die ihre Hand auf den Hals des herrlichen schwarzbraunen Hengstes gelegt hatte. Das Pferd hatte seinen Kopf heruntergebeugt und blickte ausgesprochen freundlich in die Kamera.
„Das ist er!“,
schrieb Vera darunter und schickte das Foto an Max.

Vera und Ilse stellten sich das Gesicht von Max beim Öffnen der Nachricht vor und sie wussten, dass er es nicht lustig finden würde. Die beiden aber kugelten sich im Bett vor Vergnügen, sie hielten sich die Bäuche und lachten und lachten, albern und ausgelassen wie zwei Teenager, die das ganze Leben noch vor sich haben.

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