Von Anne Zeisig

„Tatüütataaa!“
Und es waren nur noch die Rücklichter zweier Krankenwagen zu sehen, in dessen Innerem man sich vergeblich um die Wiederbelebung bemühte.
Aber beginnen ‘wir’ von vorne:

Heinz blickte von seiner Morgenzeitung auf. „Wir müssten meine Mutter mal wieder besuchen.“
„Warum?“, fragte seine Frau und blätterte in der Modezeitschrift, nippte mit spitzen Lippen am Orangensaft.
„Weil sie seit Papas Tod mutterseelenalleine in ihrem alten Haus ihr Dasein fristet.“
Heute schmeckte der Kaffee bitter. „Sie hat mich angerufen, ich soll unbedingt heute zu ihr kommen.“
Er setzte die Tasse ab und verzog das Gesicht. „Sie muss sich sehr einsam fühlen.“
„Selber schuld, wenn sie während ihrer Ehe ausschließlich die Gesellschaft ihres Mannes erduldet hat.“
Er biss ins Brötchen. „Vater war es, der keine Gäste wollte“, nuschelte er kauend.
„Und sie hat sich das bieten lassen.“ Seine Frau schüttelte verständnislos den Kopf.
Plötzlich störte ihn der grelle Lippenstift, der nicht mehr zu ihrem Alter passte.
Weil sein Krawattenknoten schief war, beugte sie sich über den Tisch, zog ihn gerade und säuselte. „Sie freut sich doch auch, wenn du alleine kommst.“
Er stand auf, straffte seinen Oberkörper, nahm seinen Blazer von der Stuhllehne und zog ihn über. „Was soll ich sagen, wenn sie nach dir fragt?“ Es folgte der gewohnheitsmäßige Kusshauch seitlich auf Irenes Hals.
„Sag ihr, dass ich einen Backkurs besuche.“
„Du und backen? Das glaubt Mama mir nicht.“
Seine Frau kniff ihn sanft in die Wange. „Wir wissen beide, dass ausschließlich deine Mutter die Superbäckerin in der Familie ist.“
„Und nun soll ich ihr sagen, dass du backen lernst?“ Er räusperte sich hüstelnd.
„Es wird sie freuen, wenn ich ihrem Sohn endlich mal was Gutes tue mit dem ganzen Süßkram.“ Sie zeigte auf seinen Bauchumfang.
Er zog seinen Bauch ein, hielt die Luft für einen Augenblick an, um seinen Umfang optisch geringer ausfallen zu lassen, wollte die Hoffnung nicht aufgeben: „Komm doch einfach mit.“
Irene schob ihn unsanft zur Tür hinaus und blickte auf ihre Armbanduhr. „Es wird Zeit, ich muss gleich los.“
„Wohin denn?“
„Wie jeden Freitag!“ Sie formte einen Schmollmund. „Yoga bis zur Erschöpfung.“ Streifte mit beiden Händen an ihren Hüften entlang. „Ich muss doch in Form bleiben.“
„Aha. Turnen mit den Freundinnen.“
Sie nickte kurz.
Und er dachte im Gehen zur Garage, dass Sport seiner Mutter auch gut getan hätte. Da hätte sie Menschen um sich herum gehabt.
‘Und du?’, fragte ihn eine innere Stimme. ‘Hast nur Mutter und Irene.’
Quatsch, dachte er, mit Vater hatte er immer die Sportschau geguckt am Samstag. Und zum Bier gab es Mutters Rosmarin-Melisse-Plätzchen. Zwar überzuckert, aber saftig aromatisch.
Und dann Vaters Infarkt.
* * *
Nach seinem Bürojob in der Bilanz-Buchhaltung stand er nun vor der Tür seines Elternhauses, glättete seinen Haarscheitel und rückte die schwarze große Brille zurecht. Hielt einen Moment inne, bevor er klingelte und drückte seine hirschlederne Aktentasche, in der sich die Lunchdose und eine Thermoskanne befanden, eng an sich.
„Mama?“,flüsterte er sich leise zu, „stell dir vor, Irene konnte nicht mitkommen, weil sie mir heute zur Überraschung was bäckt. Hat extra einen Kursus besucht.“
„Was?“, hörte er seine Mutter antworten. „Irene und Backen? Junge! Da musst du doch misstrauisch werden! Sie könnte sich beim Teigkneten ihre Rotlackierten beschädigen.“
„Aber Mutter!“, würde er entrüstet sagen. „Sie benutzt Haushaltshandschuhe!“
Plötzlich blickte er um sich. Woher kam die laute Musik?
Wohl von dem jungen Pärchen, welches das Haus nebenan gekauft hatte. Der Alte war verstorben, die Erben wollten es nicht.
Er blickte an der verwitterten Putz-Fassade hoch. Irene würde das Haus auch nicht wollen, obwohl es inzwischen einen wunderschönen Kräuter-Garten hatte. Den hatte Mama letztes Frühjahr nach Vaters Tod angelegt.
„Für jedes Wehwehchen gibt es ein Kräuterlein“, hörte er seine Mutter sagen. Und ihre Augen leuchteten, wie in all den Jahren nicht, mit weit geöffneten Pupillen in den hellblauen Augen.
Heinz holte tief Luft und drückte endlich den Klingelknopf nieder. „Ging-Gong!“ Welch ein vertrautes Geräusch.
Just wurde die Haustür schwungvoll aufgerissen und vor ihm stand eine unbekannte graumelierte Frau, welche gegen lautstarke Musik anschrie: „Du musst der Heinzi sein! Komm rein! Wie die Zeit vergeht! Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie du in meine Kindergartengruppe gekommen bist! Du warst ja so ein ausgesprochen schüchternes Kind!“ Sie hielt ihm ihre Hand hin. „Ich bin die Gertrude!“
Sie zog ihn in den Flur hinein.
„Mama hat Besuch?“, fragte er sich leise.
Eine weitere Seniorin erschien. „Du kennst mich bestimmt nicht mehr, ich habe in der Apotheke gegenüber deiner Schule gearbeitet.“
Die Dame zerrte ihm ungelenk die Jacke hinunter und hing sie recht schief über einen Kleiderbügel an das Garderobenbrett.

Schoben ihn in den Wohnraum.
‘Yesterday’ von den Beatles klang ihm entgegen.
„Dein Sohn!“, riefen sie.
Seine Mutter saß inmitten von lachenden Frauen auf dem Sofa und wiegte ihren Oberkörper im Takt der Musik, wies ihm mit der ausgestreckten Hand einen freien Platz gegenüber im Ohrensessel seines Vaters zu. Er setzte sich und legte seine Unterarme auf die verschlissenen Lehnen.
Weitere Damen tranzten wild umher und sangen um die Wette.
Nicht schön, aber laut, dachte er und war verwundert, hier so viele Menschen zu sehen, wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Mutter und ihre Gäste schienen ausgelassener Stimmung zu sein.
Auf dem Tisch stand ein Teller mit Keksen und etliche halbvolle Sektgläser. Die Flasche in einem Kühler.
Er stand auf, umarmte seine Mutter und flüsterte ihr ins Ohr: „Dein Geburtstag ist doch erst im Dezember.“ Setzte sich wieder.
„Heute ist dennoch ein Tag zum Feiern!“, sagte sie laut und zeigte in die ausgelassene Runde.
Er war sichtlich verwirrt, sah die lachenden Frauen hüftschwingend um sich herum kreisen. Eine kraulte ihm durchs volle Haar und kreischte. „Wie einst mein Edgar!“
„Meine Freundinnen von früher“, schrie seine Mutter gegen die Lautstärke an. „Ich habe alle Kontakte reanimiert! Denn mir war klar, dass ich inzwischen nicht die einzige einsame Witwe bin!“ Sie zeigte zu ihrem Handy auf dem Tisch. „Das Internet hat es möglich gemacht!“
„Du hast ein Mobiltelefon?“ Irritiert griff Heinz, und Hunger hatte er auch, zu den Plätzchen, biss genussvoll hinein, erwartete den Geschmack von Melisse, Thymian und Rosmarin.
Mutter tätschelte seine Wangen. “Gertrude war deine Erzieherin im Hort, Petra ist die Apothekerin“, sie knuffte ihn in die Seite. „Sie hat immer deine Akne-Salbe angerührt.“
Die Plätzchen klebten am Gaumen. Schmeckten nicht so wie früher.
Sie ließ ihre Hand sinken. „Durch Facebook habe ich sie wieder gefunden nach all den Jahren.“
„Finde ich gut, Mama, dass du Freundinnen hast!“, rief er mit belegter Stimme gegen die Musik an und wegen der Kekskrümel im Hals. „Irene konnte nicht mitkommen, weil sie für mich backt.“
Was Vater wohl zu den Gästen gesagt hätte.
Seine Mutter winkte ab. „Die und backen, pah!“ Tätschelte die Hand ihres Sohnes.
Es wurde ruhiger, weil die Beatles nun ‘Michelle’ darboten.
„Michelle, my Girl!“, sangen Gertrude und Petra zweistimmig. Weitere Damen umschlangen sich innig beim Tanzen und wiegten rosawangig ihre Körper sachte hin und her. Den Blick glänzend ins Leere gerichtet.
Alte Damen und Sekt, kam ihm in den Sinn, das verträgt sich nicht.

Kuschelte sich in den verschlissenen Sessel, verzog das Gesicht, schluckte aber tapfer den Rest des Gebäcks hinunter, griff zum Sektglas seiner Mutter und spülte den undefinierbaren Beigeschmack endlich in seinen Magen, hustete mehrfach.
Sie klopfte ihm auf den Rücken.
„Die Wirkung ist wichtiger als der Gechmack. Ich hätte mehr Zucker zum Teig geben können, aber das geht ja nicht wegen meiner Diabetes“, erklärte die Mutter und zeigte auf seinen Bauch. „Der Figur tut das Süße auch nicht gut.“
Er zog ihn abemals kurz ein.

Sein Handy klingelte.
Heinz hielt es nah ans Ohr, denn inzwischen johlten die Frauen nach dem Song ‘Yellow-Submarine’.
Blickte in den Garten und wunderte sich über diese Gewächse mit den filigranen Blättern, die mussten neu angepflanzt worden sein.
„Einen Moment, hier ist es so laut“, er öffnete die Terassentür und trat hinaus. Zog die Tür hinter sich zu. „Jetzt kann ich Sie verstehen.“
“Motel am Stadtrand … fanden ihre Nummer im Handy ihrer Frau … Handtasche … ein Mann war bei ihr, leider konnten wir die Beiden nicht mehr Reanimieren“, hörte er nach endloser Erklärung diese Stimme, die sich wie ein grauer Nebel über seine Gehörschnecken einen unliebsamen Weg zu seinem Gehirn bahnte, ließ das Telefon in seinen Schoß sinken, blickte zum bewölkten Himmel.
„Ist was passiert?“, fragte seine Mutter leise.
Sie stand hinter ihm, legte ihre Hand auf eine seiner Schultern.
„Irene ist tot“, sagte er bleich und legte seinen Kopf an Mutters Brust. „Sie lag neben einem Mann im Hotelbett.“ Die Wolken rissen auf und gewährten den Sonnenstrahlen Durchlass.
Heinz lachte unvermittelt auf und tollte über den Rasen mit ausgestreckten Armen wie ein Kind.
„Schaut!“, hörte er von Weitem die Stimme seiner Mutter. „So locker war Heinzchen lange nicht mehr!“ Zeigte zwei hochgehaltene Daumen zu den Freundinnen, die sich im Garten versammelt hatten.
„Super!“, kreischte Petra, die Apothekerin. „Die Rezeption hat also die ‘Lovekekse’ aufs Zimmer bringen lassen. Sie nahm ihre Perücke ab. „Niemand hat mich erkannt in diesem Kaff mit dem billigen Stundenhotel.“ Ihr gefärbter Rotschopf kam zum Vorschein.
Heinz’ Mutter steichelte den Nacken ihres Sohnes, der inzwischen auf dem Rasen kauerte und nicht wusste, ober er noch lachen, oder eher weinen sollte.
„Habe nie an ihre Yogakurse geglaubt, du Dummchen.“
Sie richtete ihn auf und schaute ihm tief in die Augen: „Es kommt immer auf die Dosierung an.“
‘Lady Sunshine’, erklang aus den Lautsprechern.

END- Fassung