Von Raina Bodyk

„Egon, kommst du? Frühstück ist fertig.“

„Oh Mama, lass mich doch mal am Wochenende ausschlafen.“

„Dafür ist der Tag viel zu schön. Du weißt schon, der frühe Vogel fängt den Wurm. Also, beeil dich! Frische Wäsche habe ich dir schon rausgelegt. Pass auf, dass die Krawatte zum Hemd passt. Und wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen, dass du mich nicht so kindisch ‚Mama‘ nennen sollst? ‚Mutti‘ klingt viel angemessener.“

„Jaaa, Mutti!“

Mit diesem lustlosen, gedehnten ‚Jaaa, Mutti‘ will er mich immer auf die Palme bringen. Aber das gelingt ihm so schnell nicht!
Da kommt er ja angeschlurft – mit so viel Energie wie ein südamerikanisches Faultier auf seinem Baum. Garantiert hat er das Badezimmer wieder halb unter Wasser gesetzt! Er ist halt mein kleiner Tollpatsch.

„Hast du nicht was vergessen?“

„Entschuldige!“ Er drückt ihr pflichtschuldig einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Berta schmiert ihrem Sprössling liebevoll eine Scheibe Brot, belegt sie ungefragt mit Käse.

„Mutti, du weißt doch, dass ich Käse verabscheue.“

„Dein Körper braucht Eiweiß und Calcium. Iss! Dafür kriegst hinterher ein Stück Kuchen, frisch gebacken.“

Ich mache mir schreckliche Sorgen um ihn. In letzter Zeit läuft er dauernd mit dieser unsäglichen Leichenbittermiene rum. Die Stirn gerunzelt und die Schultern hängen runter, als müsse er alles Leid der Welt tragen. Am meisten ängstigt mich, wie er mit aufgerissenen Augen vor sich hin stiert, wenn er sich unbeobachtet fühlt.

„Wann suchst du dir endlich eine Freundin? Ich möchte noch meine Enkelkinder erleben, bevor ich für immer gehe. Du bist immerhin schon zweiundvierzig, da wird es allerhöchste Zeit.“

„Mama, nicht schon wieder dieses Thema! Ich habe keine Freundin, ich will keine Freundin und gut ist’s.“

„Aber das ist anormal. Bist du schwul?“

„Das kannst du mich noch tausendmal fragen, die Antwort ist: nein, ich bin nicht schwul!“

„Bist du sicher? Oh, Pass doch auf! Die schöne, neue Krawatte!“

Das hätte ich mir ja denken können! Kuchen mit Marmeladenfüllung … Und sein Mund und sein Kinn sind ringsum ganz weiß bestäubt mit Puderzucker. Was habe ich bei ihm nur falsch gemacht?

Geschäftig holt sie ein feuchtes Geschirrtuch aus der Küche und reibt hingebungsvoll an dem Fleck herum.

„Wie würdest du bloß ohne mich überleben?“

Er ist so hilflos!

„So, der Fleck ist fast raus. Gehst du gleich spazieren? Denk dran, einen Schirm mitzunehmen. Die finsteren Wolken verheißen nichts Gutes.

*

Als Sohnemann mittags nach Hause kommt, merkt seine einfühlsame Mutter sofort, dass etwas passiert sein muss. Etwas ist anders. Forschend studiert sie seine Miene. Hat er gar ein Lächeln auf den Lippen? Ihr scheint auch, er geht aufrechter, er trägt den Kopf höher, beinahe schon hoch.

„Junge, ist alles in Ordnung mit dir?“

Er nickt und schaut sie verträumt an. „Mama, du glaubst nicht, was passiert ist!“

Berta schwant Übles.

„Mama! Ich habe eine Frau getroffen!“

„Ja, und?“

„Verstehst du nicht, d i e Frau!

„Welche Frau?“

„Meine Frau! Ich habe sie beinahe umgerannt. Ich habe sie angesehen und es war um mich geschehen. Wir haben uns tief in die Augen geschaut – ihre sind übrigens blau wie deine -, dann haben wir uns auf eine Parkbank gesetzt, uns an den Händen gehalten und nur geredet.“ Egon seufzt vor Seligkeit.

Berta schaut ihren Erst- und Einziggeborenen an, als habe er endgültig den Verstand verloren. „Das ist nicht dein Ernst?! Du kennst sie doch noch gar nicht.“

„Du wünscht dir doch Enkelkinder. Ich wünsche mir ein süßes Mädchen und einen Jungen, mit dem ich Fußball spielen kann.

„Du hasst Fußball.“

„Für Jonas werde ich ihn lieben lernen.“

„Wer zum Teufel ist jetzt wieder Jonas?“

„Sei nicht so schwer von Begriff. Dein künftiger Enkel natürlich.“

Mein Junge braucht Hilfe! Er ist völlig übergeschnappt. Verliebt sich in eine Wildfremde, will sie gleich heiraten? Da stimmt was nicht. Was hat dieses Weibsstück mit ihm gemacht? Mein armes, unschuldiges Kind! Ich muss Egon retten, egal, was es mich kostet.“

„Ach, das freut mich, mein Liebling. Bring sie doch nächsten Sonntag zum Essen mit.“

„Toll, Mama, danke!“

*

„Sie sind sicher Theres. Es freut mich, Sie kennenzulernen. Egon, führe deine Freundin schon mal ins Wohnzimmer.“

Ihr Name sagt alles. Ich habe nachgeschlagen, er bedeutet ‚Raubtier‘. Mein Egon ist einer Bestie in die Hände gefallen! Sie ist nicht gut für ihn, ich spüre es! Ich muss ihn schützen, bevor sie ihn zerstört. Der Arme ist ja ohne einen Vater aufgewachsen (der Mistkerl hat sich noch vor der Geburt vom Acker gemacht), der ihn vor weiblicher List und Tücke hätte warnen können. Andererseits, vielleicht hätte er aus meinem Schatz auch so einen Schürzenjäger gemacht, wie er selbst einer war.

„Nun, liebe Theres, erzählen Sie, was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Krankenschwester. Der Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen gibt mir viel.“

„Das ist schön.“

Oh Gott! Eine Heilige, das hat mir gerade noch gefehlt! Hinterteile abwischen, Erbrochenes wegputzen, zahnlose Greise füttern … Na, danke! So was ist ganz bestimmt nichts für meinen Sohn. Wo er doch so sensibel ist.

Berta strahlt Egon mit falschem Lächeln an. „Da hast du aber einen guten Fang gemacht. Wenn du krank bist, kann Theres dich pflegen. Sie ist jünger als du? Wissen Sie, mein Junge war schon immer etwas schwächlich. Und wenn ich mal hilfsbedürftig werde …“

„Mama!“

„Ist doch wahr!“ Liebkosend tätschelt sie seine Wangen.

Wie er sie ansieht! Wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Am liebsten möchte ich ihn kräftig schütteln.

 

Sie stemmt sich mit ihren kräftigen Armen hoch. „So, jetzt wird gegessen. Heute gibt es Kohlrouladen.“

„Hast du deiner Mutter nicht erzählt, dass ich Vegetarierin bin?“

„Doch! Ich erzähle Mama alles.“

„Alles?“

„Natürlich, sie ist meine Mutter.“

„Berta, könnte ich vielleicht einen Salat bekommen?“

„Das geht nicht, ich habe extra Ihretwegen Egons Lieblingsessen gemacht. Das müssen Sie probieren. Sie werden Egon doch sicher später seine Leibspeise kochen wollen! Mein Rezept schmeckt ihm am besten.“

„Aber …“ Theres überhört keineswegs den drohenden Unterton.

„Papperlapapp!“

 

Munter fliegen die Worte hin und her, Berta hat viel zu fragen.

„Theres, haben Sie schon eine Vorstellung, ob Sie nach der Hochzeit weiter arbeiten wollen?“

„Hochzeit? Wir haben uns gerade erst kennengelernt.“

„Sicher, sicher. Ich dachte ja nur. Mein Sohn ist es nämlich nicht gewöhnt, im Haushalt mitzuhelfen. Er hat zwei linke Hände. Außerdem hat er ja mich. Meiner Meinung nach gehört ein Mann nicht in die Schürze und an den Herd. Das ist einfach unmännlich. Sehen Sie das nicht auch so?“

„Na ja. Heutzutage stehen Paare meist beide im Beruf. Dann muss man sich die Hausarbeit eben teilen, wenn man noch Zeit füreinander haben will.“

Berta verdreht gekonnt die Augen und schüttelt über so viel Unverstand den Kopf.

„Hast du das gehört, Egon? Du sollst kochen, bügeln, waschen und wer weiß, was sonst noch alles.“

„Mama …“

„Sehen Sie, er sieht es genauso wie ich! Übrigens, nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin ein ehrlicher Mensch und sage immer, was ich denke. Ist Ihr Rock nicht ein bisschen kurz für Ihr Alter? Als Krankenschwester sollten Sie vielleicht auf etwas mehr Würde achten.“

Ha, das hat gesessen! Mit der werde ich allemal fertig. Wenn sie mir meinen Jungen wegnehmen will, muss sie früher aufstehen. Schließlich weiß ich am besten, was gut für ihn ist.

*

„Ich erkenne dich nicht wieder, Egon. Du hast so nett erzählt und warst so verständnisvoll, als wir uns letzte Woche kennenlernten. Nur wenn deine Mutter dabei ist, verstummst du, hast keine eigene Meinung mehr.“

„Ja nun, sie hat mich allein großgezogen, hat ihr ganzes Leben für mich geopfert. Ich bin ihr sehr dankbar dafür.“

„Das verstehe ich, aber du kannst dich nicht beherrschen und betüddeln lassen wie ein Kleinkind. Ich möhte einen Mann.“

„Du hast ja Recht. Sie ist nun mal meine Mutter. Aber ich werde mich ändern, versprochen. – Könntest du beim nächsten Besuch vielleicht einen längeren Rock anziehen?“

*

Drei Monate später. Die Polizei greift weit nach Mitternacht auf dem Marktplatz einen randalierenden Volltrunkenen auf und bringt ihn zur Wache..

„Wen habt ihr denn da mitgebracht? Puh, der stinkt ja wie ein ganzes Bierfass. Packt ihn erst mal in die Ausnüchterungszelle.“

Am nächsten Morgen wird er befragt. „Herr Klein, wegen Ihres gestrigen Ausrasters müssen Sie sich auf eine Anzeige gefasst machen.“

„Herr Polizist, es tut mir unendlich leid. Sowas ist mir noch nie passiert. Eigentlich trinke ich überhaupt keinen Alkohol.“

„Was war dann mit Ihnen los? Haben Sie ein Problem?“

„Eins? Zwei! Es ist die Hölle. Meine Mutter und meine Freundin können sich nicht ausstehen. Immerzu geht es ‚Sie oder ich‘. Ich hab’s nicht mehr ausgehalten und habe mich davongeschlichen.“

Der Uniformierte nickt verständnisvoll. „Tja, da gibt’s nur einen Ausweg. Sie müssen eine Entscheidung treffen.“

„Das kann ich nicht! Wenn meine Mutter mich ansieht, so fürsorglich und besorgt … Daneben Theres mit ihren flehenden Augen …“

„Hm, da kann ich leider nicht weiterhelfen. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause.“

 

Vor der Tür angekommen, bleibt Egon einfach im Auto sitzen. Ein Häufchen Elend, das verzweifelt und dringlich flüstert: „K-Können Sie vielleicht  m-mit reinkommen zu M-Mama?“

 

„Egon, mein Junge! Wo warst du nur? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“

In ihrer Aufregung sieht Berta den Polizisten erst jetzt. „Hat er was angestellt? Braucht er einen Anwalt?“

„Nein, nein, beruhigen Sie sich. Ihr Sohn möchte Ihnen etwas sagen.“ Der Polizist gibt seinem Begleiter einen ermunternden Stoß in die Rippen. Dem zittern dermaßen die Knie, dass er fast zu Boden gegangen wäre.

„Mama, ich …“ Er schließt den Mund. Seine Kaumuskeln bewegen sich nervös und scheinen die Silben erst zu sortieren, ehe sie sie mühsam  ins Freie entlassen.

„M-Mama, ich z-ziehe aus!“ Er stiert angestrengt und furchtsam auf das Bild hinter ihr. Nur sie nicht ansehen! Nicht nachgeben! Mit seinen hängenden Schultern bietet er ein Bild des Jammers.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht ‚Mama‘ nennen sollst?“

 

„Ja, Mutti!“

 

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