Von Angelika Brox

Seit der Trennung überkam Tobias an jedem zweiten Montag das Gefühl, aus der Zeit zu fallen. Alle zwei Wochen durfte sein Sohn ihn übers Wochenende besuchen. Das waren immer wunderbare Stunden voller Leben. Doch danach folgte unweigerlich ein Montag, an dem er sich in einem merkwürdig vagen Zustand befand und sich fühlte, als müsste er einen langen Tunnel durchschreiten, der sein Vater-Ich mit seinem Single-Ich verband.

Auch heute stand er schon den ganzen Tag neben sich. Bei Kundengesprächen fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, und am PC schweiften seine Gedanken ständig ab zum nächsten Wochenende mit Matteo. Natürlich wollte er seinem Sohn gerne besondere Erlebnisse bieten, wenn er ihn schon so selten sah, doch es wurde von Mal zu Mal schwieriger, sich etwas einfallen zu lassen. Das wöchentliche Wechselmodell hätte er viel sinnvoller gefunden, doch das lehnte seine Exfrau ja strikt ab. Ihm grummelte immer noch der Magen, wenn er an ihre Halsstarrigkeit und die wütenden Diskussionen dachte.
Endlich konnte er Feierabend machen. Er nahm sein Jackett von der Stuhllehne, hängte sich seine Tasche über die Schulter, winkte den Kollegen zu und verließ das Gebäude.
Draußen erwartete ihn ein wolkenloser Frühlingsnachmittag. Die Sonne schien angenehm warm und Tobias beschloss, einen Umweg durch den Park zu nehmen. In die leere Wohnung würde er noch früh genug kommen.
Am See legte er seine Jacke mit der Innenseite nach unten ins Gras und setzte sich darauf. Tief atmete er den Duft der blühenden Büsche ein und schaute aufs Wasser. Wasser half ihm stets sich zu entspannen.
Bilder von gestern erschienen in seiner Erinnerung …
Nach dem Mittagessen war Matteo plötzlich auf die Idee gekommen Kekse zu backen. Gemeinsam hatten sie im Internet nach Rezepten gesucht, Tobias‘ Vorräte durchforstet und schließlich einen Teig geknetet. Mit einer Flasche rollten sie ihn auf dem Küchentisch aus und mit einem Kaffeebecher drückten sie Kreise hinein.
Als die Plätzchen im Ofen bräunten, erfüllte ein köstlicher Geruch die Wohnung. Am Ende lag ein Berg dicker, duftender Scheiben vor ihnen auf dem Tisch.
„Wir müssen sie aber noch verzieren“, meinte Matteo.
Nach kurzer Beratung holten sie ein Glas Erdbeermarmelade aus dem Kühlschrank. Sie bestrichen jeweils einen der Kekse großzügig mit Marmelade und klebten einen zweiten oben drauf.
„Doppeldecker“, grinste Tobias.
„Marmeladen-Burger“, schlug Matteo vor.
Sie lachten.
Zufällig besaß Tobias sogar Puderzucker, weil er sich neulich im Supermarkt vergriffen hatte, als er eigentlich Kandiszucker kaufen wollte. Das war vor zwei Wochen gewesen – auch einer dieser Montage.
Sie bestreuten ihre Marmeladen-Burger mit Puderzucker, bis sie wie eingeschneit aussahen. Matteo zählte bis drei. Gleichzeitig biss jeder ein Stück von seinem Keks ab. Beide waren sich schnell einig, dass ihre süßen Kreationen unschlagbar super schmeckten.
Am Abend hatte Matteo für seine Mutter Marmeladen-Burger in eine Tüte gefüllt und darauf bestanden, dass Tobias ebenfalls einen für sich einpackte, um ihn am nächsten Tag mit zur Arbeit zu nehmen.

Tobias holte seine Lunchbox aus der Tasche und nahm den dicken Doppeldecker in die Hand. Lächelnd betrachtete er ihn.  Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen, während er sich ausmalte, wie Matteo gestern Abend seiner Mutter die Tüte überreichte. Bestimmt hatte sie sich tierisch über die Zuckerbomben geärgert, aber trotzdem Freude heucheln müssen, weil es sich ja um ein Geschenk handelte. Mit Sicherheit würde sie beim nächsten Telefonat wieder herumzetern, sie sei als Einzige für Regeln und Verbote zuständig und der liebe Papa würde alles erlauben. Sollte sie sich nur aufregen, das geschah ihr ganz recht. Schließlich hatte sie unbedingt diese Wochenend-Regelung gewollt. Diese kurze Zeit mit Matteo sollte so schön wie möglich sein, da brauchte sie sich nicht einzumischen.
Er schob die unangenehmen Gedanken in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses und schaute den Enten zu, wie sie friedlich auf dem See dümpelten. Dann sah er wieder den Marmeladen-Burger an. Den würde er jetzt mit ganz besonderem Genuss verspeisen! Weit öffnete er den Mund und biss hinein – als von der Seite ein großer Hund heranstürmte und ihm die Schnauze gegen den Arm rammte.
„Umpfff“, schnaufte Tobias. Puderzucker staubte ihm ins Gesicht, Krümel rieselten über sein Hemd, auf seiner Krawatte landete ein großer Klecks Marmelade.
Eine junge Frau tauchte in seinem Blickfeld auf. Sie befand sich am anderen Ende der langen Leine, zog nun daran und rief: „Sirius, was machst du denn? Pfui! Aus!“
Sirius war offensichtlich ein Golden Retriever. Erwartungsvoll starrte er auf den Leckerbissen in Tobias‘ Hand.
Tobias schimpfte: „Können Sie nicht besser auf Ihren Hund aufpassen?“
„Entschuldigung!“, sagte die Frau. „Das ist nicht meiner. Ich kenne ihn noch nicht so gut.“
Aber Tobias war jetzt in Fahrt; die angestauten Gefühle mussten heraus. Er schimpfte weiter: „Wenn Sie keine Ahnung von Hunden haben, dann halten Sie wenigstens die Leine kurz! Sehen Sie sich meine Krawatte an! Die ist ruiniert!“
Zerknirscht antwortete sie: „Die Reinigung bezahle ich natürlich. Es tut mir wirklich leid.“
Genauso unglücklich hatte Matteo oft geschaut, wenn seine Eltern sich stritten. Tobias schämte sich. Einmal während der Trennungsphase hatte er im Spiegel überprüft, wie sein Gesicht aussah, wenn er zornig war, und er hatte sich vor sich selbst erschrocken.
Nun atmete er tief durch und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, traf sein Blick auf die Hundeaugen, die ihn arglos zu fragen schienen: „Was isst du denn da gerade?“
Er musste lachen.
„Anscheinend hat er Hunger“, meinte er.
„Der hat immer Hunger“, antwortete sie und lachte erleichtert mit.
Sie kramte in ihrer Hosentasche und warf dem Hund ein paar Leckerchen zu. Inzwischen ließ Tobias die Überreste seines Marmeladen-Burgers in der Lunchbox verschwinden.
„Tut mir leid, dass ich eben so ausgerastet bin“, sagte er, „das war nur der erste Schreck.“
Sie nickte. „Schon okay.“
„Wollen Sie sich einen Moment setzen?“
„Gerne.“
Tobias rückte ein wenig zur Seite, um auf seiner Jacke Platz für sie zu machen, und sie setzte sich neben ihn. Der Retriever ließ sich seufzend zu ihren Füßen nieder und richtete sein Augenmerk auf die Enten.
„Eigentlich ist er ja ganz brav“, bemerkte Tobias. Er dachte an Matteo und fügte hinzu: „Mein Sohn wünscht sich schon lange einen Hund. Wir hätten fast einen gekauft, doch dann kam die Scheidung dazwischen und es war nicht der richtige Zeitpunkt für einen neuen Mitbewohner.“
„Ja, die Bedingungen müssen passen.“ Sie streichelte Sirius über den Kopf. „Er gehört einer Nachbarin. Sie ist eine ältere Dame und im Moment geht es ihr nicht so gut, deshalb führe ich ihn ab und zu für sie aus.“
In diesem Augenblick hatte Tobias einen Einfall, der ihn selbst begeisterte.
„Ob die Nachbarin es wohl erlauben würde, dass mein Sohn und ich mit ihrem Sirius Gassi gehen?“
Die junge Frau strahlte ihn an. „Mit Sicherheit! Das wäre toll! Haben Sie gerade Zeit? Wir könnten zusammen den Hundespaziergang machen, Sie lernen Sirius ein bisschen besser kennen und ich stelle Sie anschließend meiner Nachbarin vor.“
Tobias nahm den Schlips ab und stopfte ihn in die Tasche.
„Sehr gerne! Ich heiße übrigens Tobias.“
„Ich bin Lisa. – Also, Tobias und Sirius, auf geht‘s!“

Während sie zu dritt um den See wanderten, dachte Tobias, dass der Montags-Tunnel auf wundersame Weise kürzer und heller geworden war und ein krümelnder Marmeladen-Burger dabei eine wichtige Rolle gespielt hatte.

 

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