Von Maria Lehner

In diesem Gemeindebau in Wien-Favoriten kennt jeder jeden. Positiv ausgedrückt könnte man sagen: und nimmt Anteil am Leben des anderen. Und das geht so: 

„He, das bist doch du!“, kicherte die Nachbarin und hielt ihm ihr Smartphone hin. Sie tat so, als hätte sie das Foto eben zum ersten Mal gesehen. Moritz drückte sich, etwas Undeutliches grunzend, im Stiegenhaus an ihr vorbei. 

 

Zu allem Überfluss war ihm zugetragen worden, dass sie das bewusste Foto auch an dieses Schreibforum geschickt hatte („Lasst doch die Leute eine Geschichte dazu erfinden!“). Wer würde seine wahre Geschichte schon schreiben wollen? Sollen die sich irgendwas zusammenreimen! Jede Geschichte ist besser als die Wahrheit. 

Sein Leben ist aufregend genug: Vom Laborgehilfen zum Taxifahrer. Sedlacek schleppte sich die Treppen hinunter und setzte sich zwei Gassen weiter in das Wartezimmer des Arztes. Er war erschöpft (auch wegen der Schlaflosigkeit).

 

*

 

Der Arzt sah von der Patientenakte auf, stutzte und umgehend wurde das unsägliche Bild gezückt. „Herr Sedlacek – das sind Sie, nicht wahr? Sie sehen schlimm aus!“ Moritz nickte: „Das Schlimmste ist, wenn in einem solchen Moment jemand auf den Auslöser der Handykamera drückt. So ist mein Schreck in die Welt gelangt. Einmal habe ich das Bild mit der Google-Lens-Suche gefunden als eine Werbung für Reizdarmsyndrom!“ Dr. Nowak lachte: „Reizdarm! So kann man auch berühmt werden! Ich hoffe, Sie haben gut daran verdient?“ Moritz seufzte: „Verdient! Wenn Sie die Wahrheit kennen würden!“ 

 

Die Wahrheit? Die war in einem einzigen Moment entstanden. Damals nämlich, als Moritz klar geworden war, dass er von vorne würde anfangen müssen. Diese Wahrheit interessierte Dr. Nowak, egal wie voll das Wartezimmer war.

 „Aber ich muss ausholen, denn alles begann ja Monate zuvor.“

Nowak nickte: „Sicher! Schlafstörungen kommen nicht von heute auf morgen!“. 

Und so begann Moritz die Geschichte zu erzählen…

 

„Alle waren schon weg an diesem Freitagabend im Labor. Ich sollte nur die Rechenprozesse für eine Charge sichern, die einzelnen Programme in der Labordatenbank schließen und ein paar Vorbereitungsarbeiten für Montag machen. Meinen Schutzanzug hatte ich schon ausgezogen. Da war noch die eine Petrischale, die hatte ich schnell noch in meinem kleinen Getränkekühlschrank zwischengelagert; sie würde später vorschriftsmäßig unter Verschluss kommen. Meine Tochter war da, um mich abzuholen. Wir würden ins Kino gehen. Deshalb Schlips und weißes Hemd.“

 

 „Vielleicht“, so sinnierte der Arzt, „ist es das, was ihr Aussehen so verändert! Sie wirken auf dem Foto fremd und ziemlich überarbeitet.“ 

Moritz wirft ein, Babsi – die Tochter – hätte damals auch behauptet, er sähe „ungesund“ aus: „Ich lebte nämlich tagsüber im Labor von den Proben aus der Abteilung für Lebensmittelchemie, mit der wir die Etagenküche teilen: Instant-Pudding, Suppenpulver, Kraftriegel. Schmeckt grauenhaft, macht aber satt.“ 

Der Arzt seufzte, dachte seinerseits an Punschkrapferl mit rosaschimmernder Glasur und an sein Übergewicht.

„Babsi meinte, sie würde mir vorher Kekse aus dieser Instant-Teigmischung backen. Die brauchte man nur aus der Sterntülle aufs Backblech spritzen – in 15 Minuten wären sie fertig. Gut: So könnte ich in Ruhe die Tagesabschlussarbeiten machen. Sie verzog sich in unsere Etagenküche, dort gibt es jede Menge Backmischungen und Aromen, denn in der Lebensmittelchemie haben sie stets zu viel Material gleicher Chargen.“ Dr. Nowak sah Moritz Sedlacek gespannt an als der sagte: „Ich wendete mich wieder meiner Versuchsreihe zu.“

 

Der Arzt rückte näher heran: „Was für eine Versuchsreihe?“ 

Sedlacek schwächte ab: „Eigentlich darf ich darüber auch jetzt nicht im Detail sprechen, nur so viel: Wir entwickelten spezielle Verfahren für Medikamententests; die wollten wir für den Ethikpreis einreichen. Ich hatte als Laborgehilfe dabei kleine, aber nicht unwichtige Aufgaben.“

War da schon zu viel ausgeplaudert? Und verwendete er tatsächlich noch ein „Wir“, obwohl Moritz aus dem Olymp des „MedBioTech“-Labors verstoßen worden war?

 

*

 

Die Sprechstundenhilfe sah einmal kurz bei der Tür herein. Mit einem „Es dauert noch!“ winkte der Arzt sie energisch weg. 

„Babsi verschwand. Von ferne hörte ich sie gedankenverloren in der Küche vor sich hinsingen: Falsch, laut, innig. Ich steckte mir die Ohrstöpsel hinein und überwachte weiter wie das Programm die heutigen Laborarbeiten der zahlreiche Schnittstellen dokumentierte und zur Selektion und grafischen Aufbereitung bereitstellte. Programm für Programm schloss sich. 

Meine Tochter huschte einmal in meinem Augenwinkel vorbei. Sie beharrte später darauf, sie habe mich bei der Gelegenheit ausdrücklich darum gebeten, dass ich mich melden solle, wenn ich etwas dagegen hätte. Ich hörte nichts. Ich sagte nichts. Aus ihrer Sicht hatte ich nichts dagegen. Nach einer Weile begann es von der Küche her zu riechen. Daheim hätte ich gesagt: zu duften, aber da merkt man doch wieder, dass all das synthetische Zeug nicht mit den natürlichen Backzutaten mithalten kann, die meine Frau verwendet.“  

 

Dr. Nowak imaginierte zerschmelzende und sich aufs Innigste vermischende Massen aus Butter, Eiern und Vanillezucker. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen; er dachte an Cremeschnitten und schluckte diskret. „Und sie haben Ihre Arbeit zu Ende gebracht?“, fragte er gespannt. 

Das „Ja“ von Sedlacek klang nachdenklich, so als ob er damit den Lauf der Geschehnisse an diesem Punkt hätte aufhalten können: „Ich drückte grade auf System herunterfahren, als Babsi hereinkam. Sie trug stolz ein Tablett mit Teetassen, einer Kanne und einen Teller mit Keksen. Nun, an der Performance muss sie noch arbeiten, dachte ich bei mir. Die Dinger waren unförmig wie blasse kleine Flusskiesel und waren zusammengepappt mit einer Art Ketchup. Vielleicht herzhaft-pikante Käsecracker, daher der eigenartige Geruch. Babsi strahlte mich an, verkündete, dass es jetzt was zu futtern gebe und es dann ins Kino ginge.“

 

Moritz klappte das – ohnehin bekannte – Foto auf seinem Smartphone auf und holte aus: „Sie erwischte exakt den Moment, in dem ich einen der seltsamen Kekse in die Hand genommen, davon abgebissen und mir prompt einen Klecks von der Füllung auf die Krawatte getropft hatte; gleichzeitig  ließ sie mich hören, dass es ihr leidtut, aber diese eingelegten Kompottkirschen taugen nicht einmal gezuckert als Füllung… Ich spuckte den Keks aus. Das Foto war aber auf Instagram schon geteilt. Mit der ganzen Welt: Dad isst einen von mir gebackenen Keks.“

 

Der Arzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und klammerte sich an die Armstützen: „Die Kompottkirschen?!“ mutmaßte er stöhnend.  

Ja, so war es Moritz auch gegangen. Tonlos hatte er damals Babsi gefragt: „Welche Kompottkirschen? Woher hast du sie?“. 

„Aus deinem kleinen Kühlschrank“, hatte sie geantwortet und auf den Platz gezeigt, an dem Charge 2145 gestanden hatte, „du solltest sagen, wenn du was dagegen hast. Hattest du aber nicht. In der Etagenküche war nix außer Pulver und Aromen.“  

Das kratzig-hastige „Ja?“ des Arztes bedeutete, Moritz solle weitererzählen:

 

*

 

„Gähnende Leere dort, wo früher Blutgefäße aus Schweinedarm geschimmert hatten, in denen eine Nährflüssigkeit pulsierte und auf denen sich Organzellen angesiedelt hatten. Drei Wochen lang sollte das Zellwachstum der künstlichen Leber beobachtet werden, mit Nährlösung versorgt, abwechselnd im Bioreaktor und in der Schale. Eine kleine Charge war immer vereinzelt. Nun füllte 2145, zu Gallert verkocht, ein paar unförmige Kekse. Und es ließ sich nicht mehr verheimlichen, erstens wegen des Laborberichts, zweitens weil Babsi jubelnd 45 Likes, kurze Zeit später schon über 200 verkündete.“

 

Der Arzt griff mitfühlend nach der Hand von Moritz. Der erzählte dann noch von der Kündigung und vom Taxischein. Und von Babsis neuer Karriere als Bloggerin („Wie ich durch Kekse-Backen die Karriere meines Dad zerstörte. Ein zerknirschter Bericht“); er erwähnte auch den „True-Life“-Award, den sie dafür erhalten hatte und ihren Kampf mit Pixabay, weil die ihr Foto verwenden, ohne ihren Namen zu nennen. Und dass jetzt auch noch Geschichten über all dies geschrieben würden. Ja und deshalb sei er da: die Schlaflosigkeit Dr. Nowak schrieb ohne weitere Frage das Rezept aus. 

 

*

 

Feindselig waren die Blicke der anderen Patienten, als der Arzt ihm noch aus der halb geöffneten Tür zurief: „Also, Herr Sedlacek – bitte nie mehr Kompottkirschen!“ Da saßen sie nun mit ihren rätselhaften Symptomen und unerkannten, wahrscheinlich schweren, Leiden; todgeweiht womöglich. Und einer plaudert gemütlich mit dem Arzt über sowas! 

 

Moritz Sedlaceks Gesichtsausdruck glich in etwa wieder dem auf dem Foto, als er mit verlegenem „Auf Wiederschau´n!“ aus der Praxis huschte. Jemand zischelte „Du, schau, das ist doch der…“.

 

Version 2