Von Katharina Rieder

52°31′7″ Breitengrad – 13°24′30″ Längengrad – Berlin Mitte – Banktower, 6. Etage

 

08:10 Uhr – „Wolfs Büro“

 

Als verantwortungsvoller Chef kann ich einfach nicht anders! Selbst, wenn es um meinen besten Goldesel im Stall geht. Mein Herz pocht im Schnelltakt und meine Hände schwitzen. Wie ich sowas hasse! Wenn das heute vermasselt wird, ist es aus und vorbei! Am besten rufe ich noch einmal kurz an.

„Hallo, Wolf hier! …“

 

10:00 Uhr

 

Der Kunde müsste mittlerweile schon da sein. Es kann ja nicht schaden, wenn ich rein zufällig durch Reiners Abteilung spaziere und einen Blick in den Konferenzraum werfe. 

Ich folge dem langen Korridor bis zum Ende. Loose ist der Erste, der von mir Notiz nimmt. Er springt von seinem Sessel auf, eilt auf mich zu, versperrt mir den Weg. 

„Herr Wolf, Guten Morgen …“

Mein Erscheinen scheint ihn aus der Bahn zu werfen.

„Was machen Sie denn hier? Eh, ich meine, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, fragt er.

„Ist Reiner schon im Termin?“

„Ja, alles planmäßig!“

Loose fasst sich an die Nase. Da stimmt doch etwas nicht! „Lassen Sie mich sofort vorbei!“

Er tritt zur Seite, seine Schultern senken sich. Ich höre, wie er mir folgt. Noch bevor ich sie sehe, rieche ich sie: diese runden, mit köstlicher Marmelade gefüllten, gebackenen Gebäckstücke aus Hefeteig, mit Puderzucker bestäubt. Ich liebe sie, kann ihnen nicht widerstehen. Ihr Anblick lenkt mich kurz ab, doch dann linse ich durch die halbgeschlossenen Jalousien des Konferenzraums.

‚Was zum Teufel ist da los? Das gibt es doch nicht! Was treiben die da?‘

Der Duft der süßen Berliner steigt mir in die Nase. Mechanisch greife ich nach einem davon, beiße gedankenverloren hinein, während ich auf das unfassbare Szenario vor mir starre.

 

***

 

Rückblende – 08:00 Uhr „Reiners Refugium“

 

Reiner mein Name. Ich werfe einen prüfenden Blick in den Spiegel des Fahrstuhls. Wenn es nicht so lächerlich wäre, würde ich mir selbst auf meinen knackigen Po klatschen. Stattdessen schenke ich mir ein strahlendes Lächeln. Eines, das welken Blumen neues Leben einhauchen könnte. 

Mein Seidenanzug und das blitzweiße, gestärkte Hemd schmiegen sich sanft wie eine zweite Haut an meinen Körper. Eine karierte Seidenkrawatte baumelt vom Hals. Wie ein Wegweiser zeigt sie nach unten auf meine handgefertigten, zwiegenähten Treter. 

Der Fahrstuhl bremst ab, es piepst, es blinkt, es ruckelt. Endlich bleibt er stehen, die Türe schiebt sich auf und da bin ich.

„Hallo Frau Reiner!“, höre ich von links, höre ich von rechts und rundherum. 

‚Ein menschliches Dolby-Surround-System! Großartig, diese taufrischen, gierigen Jungspunde!‘

Herr Loose, so ein rückgratloser, karrieregeiler Typ, lauert hinter einer der schiefergrauen Säulen. Er huscht hervor und drückt mir eine Tasse Kaffee in die Hand. Das holzige, an Karamell erinnernde Aroma schneidet die testosteronschwangere Luft. Frauen sind hier rar, wie Salzwasserfische im Gebirgssee.

„Haben Sie gut geschlafen, Frau Reiner?“

Ich nicke, eile auf mein Büro zu. 

„Ist für den Termin heute Vormittag alles vorbereitet?“, frage ich.

„Natürlich! Alles bis ins letzte Detail durchgeplant! Benötigen Sie noch etwas?“

Ich schüttle den Kopf, entschwinde schnurstracks in mein Büro. Die Türe fällt hinter mir ins Schloss.

Sonnenlicht flutet über meinen Schreibtisch. Kleine Staubwölkchen werden sichtbar und wirbeln durch die Luft. Ich lasse mich in den Ledersessel plumpsen, strecke meine Füße auf dem Mülleimer aus.

„Mir reichts, endgültig! Entweder du kümmerst dich endlich und änderst dich oder ich gehe!“

Katjas Worte von heute Morgen vibrieren auf höchster Stufe in meinem Kopf. Aber was hätte ich denn bitteschön tun sollen, außer sie stehen lassen, damit ich pünktlich zur Arbeit komme? 

 

08:10 Uhr 

 

Das Klingeln des Firmenhandys katapultiert mich unsanft zurück in die Gegenwart.

‚Mein Gott, der Wolf!‘

„Hallo, Frau Reiner! Ich wollte Sie nur noch einmal daran erinnern, wie wichtig der Termin heute ist!“

Meine Augen rollen nach oben, die Stirnfalten spielen Twist.

„Natürlich. Sie kennen mich doch! Ich werde dem Aufsichtsratsvorsitzenden, Herrn Berger, Dinge über sein Unternehmen erzählen, die er selbst noch nicht kennt und dann ziehe ich den Fisch an Land!“

„Sehr gut, Frau Reiner! Informieren Sie mich bitte im Anschluss umgehend!“

Ich lese zum wiederholten Male die Geschäftsberichte, die Mitteilungen, die Aktionärsbriefe, aber hauptsächlich lese ich zwischen den Zeilen. 

 

09:00 Uhr

 

Ich erhebe mich, schlendere an den Mitarbeitern vorbei in den Konferenzraum. Meiner Erfahrung nach sind Zweifel immer berechtigt und ein persönlicher Check ist unerlässlich. 

Als allererstes stechen mir die stacheligen Kakteen auf dem Besprechungstisch ins Auge.

„Das darf doch echt nicht wahr sein! Herr Loose!“ 

Loose positioniert sich schneller als ich blinzeln kann im Türrahmen. 

„Ich weiß auch nicht“, stammelt er vor sich hin, „da muss bei der Lieferung etwas schiefgelaufen sein! Ich habe zwölf gelbe Rosen bestellt, mit Sicherheit keine dreizehn Kakteen.“

„Bringen Sie das in Ordnung und zwar sofort!“

Loose eilt mit hochrotem Kopf davon. Mein Blick schweift abermals über die Kakteen. Die Haare an meinen Armen und Beinen recken sich dem Neonlicht der Decke entgegen. Gegen meine Phobie vor Nadeln ist kein Kraut gewachsen. Ich schüttle den Ekel aus meinem Leib und bringe Abstand zwischen mich und die Pflanzen. 

Hinter einer der Säulen taucht unerwartet ein roter Schopf auf. Sein Anblick beschleunigt meinen Puls. Ich eile darauf zu.

„Katja, Juri? Was macht ihr denn hier?“, frage ich verdutzt. 

 Eine unheimliche Stille legt sich über das Großraumbüro. Ich spüre die Blicke meiner Mitarbeiter im Rücken.

„Weißt du was? Mir reicht es jetzt!“, ruft Katja aus.

„Jetzt beruhige dich doch! Komm gehen wir in mein Büro!“

„Nicht nötig!“

Sie drückt mir unseren 10 Monate alten Sohn Juri in die Arme. Stellt die Wickeltasche unsanft vor mir ab. 

„Ich gehe jetzt zu meinem Casting und deine Termine sind mir sowas von scheißegal!“

Sie dreht sich um und verschwindet erhobenen Hauptes im Fahrstuhl. Juri brabbelt vergnügt vor sich hin und spielt mit meinen Haaren. 

„Frau Reiner?“

Loose eilt um die Ecke. Er stiert auf den Boden, trippelt mit den Füßen.

„Also, die haben jetzt auch noch das falsche Essen geliefert. Berliner statt Kaviarhäppchen.“

„Hiecks“, höre ich.

‚Na, bravo!‘

 Aus Juris Mund strömt ein gewaltiger Schwall weißer Flüssigkeit und besudelt meinen Anzug. 

„Stehen Sie hier nicht rum wie einbetoniert, Loose! Holen Sie Wasser und Seife!“

 

09:45 Uhr

 

Es klopft an der Türe. Herrn Looses Gesicht erscheint im Türrahmen. 

„Frau Reiner?“

„Was ist denn?“, möchte ich wissen.

„Der Kunde, Herr Berger ist bereits auf dem Weg nach oben!“

„Du meine Güte, der ist ja überpünktlich!“

Loose rümpft die Nase. Ein herbes Aroma breitet sich in meinem Büro aus.

„Was riecht denn hier so?“

Loose sowie den Geruch ignorierend, eile ich Herrn Berger mit Juri auf dem Arm entgegen. 

„Na, wen haben wir denn da? Wie putzig!“, verzückt er sich.

Berger neigt sich zu Juri vor und kitzelt ihn am Bauch. 

Der Kleine quietscht vergnügt. Mein Kunde wiederholt das Procedere und lacht. 

„Es tut mir leid! Normalerweise kümmert sich Katja um unseren Sohn. Doch sie hat einen wichtigen Termin und da …“

„Ist doch gar kein Problem!“, beteuert er und sieht mich mit großen Augen an.

„Hier lang, Herr Berger. Folgen Sie mir!“

Ich gehe Richtung Konferenzzimmer voraus. 

„Mmm, hier riecht es ja köstlich!“, ruft er aus, als wir auf Höhe der süßen „Berliner“ angelangt sind. „Darf ich?“

„Natürlich! Greifen Sie zu!“

Er schnappt sich das Gebäck und beißt beherzt hinein. Puderzuckerspuren bilden sich auf Nase und Mund. 

„Nehmen Sie Platz. Ich schlage vor, wir beginnen gleich mit der Präsentation!“

Berger, der Aufsichtsratsvorsitzende, beobachtet mich, wie ich mit dem Beamer und Juri im Arm ungeschickt vor mich hin jongliere. Er klopft sich die fettigen Hände auf seinen Oberschenkeln ab und kommt auf mich zu.

„Na, geben Sie mal her, Frau Reiner!“ 

Er streckt mir seine Arme entgegen und ich überreiche ihm Juri.

„Na, da hat aber jemand ordentlich in die Windel gekracht!“, stellt er lächelnd fest. 

„Ach, entschuldigen Sie. Da hab` ich jetzt nicht mehr dran gedacht!“

Ich schau mich nach der Wickeltasche um, die Loose neben der Türe abgestellt hat. 

„Lassen Sie mal, Frau Reiner! Ich mach das. Ich bin Profi, wissen Sie! Bin` grad frisch von der Väterkarenz zurück!“, sagt er mit Stolz in der Stimme. „Starten Sie mal ruhig mit ihrem Vortrag! Ich muss pünktlich hier weg!“

Ich sehe ihn verdutzt an. Während er mit Juri im Arm geschickt die Wickelutensilien auf dem Konferenztisch ausbreitet, steige ich in die Präsentation ein. 

„Sie haben uns beauftragt die Entwicklung der …“

Zwischendurch komme ich immer wieder ins Stocken. Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Kann es immer noch nicht glauben, wie routiniert Berger mit meinem Sohn umgeht. 

Eine Bewegung hinter der Jalousie, welche einen Blick in den Konferenzraum zulässt, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. 

Plötzlich wird die Türe ungehalten aufgerissen und mein Chef steht mit hochrotem Kopf, Marmelade auf seiner Krawatte und Puderzucker um den Mund, vor uns.

„Jetzt ist aber mal Schluss hier! Sind Sie noch ganz bei Trost, Reiner?“, brüllt Wolf und sieht konsterniert auf die volle Windel, deren ausgefallenes Aroma den Duft der Berliner mühelos überdeckt. Juri fängt umgehend an zu brüllen.

„Pst, pst! Ist nur der böse Wolf, brauchst keine Angst zu haben“, erklärt Berger und schaukelt den süßesten, kleinen Berliner überhaupt beruhigend in seinen Armen.

Dann wandert sein Blick von mir zum Chef und wieder zurück. Auf einmal beginnt Berger prustend zu lachen. Ich kann auch nicht mehr länger an mich halten und steige als „Duettpartnerin“ in sein Gelächter ein. Dieser sabbernde „Wolf“, der aussieht, als hätte er gerade ein Kleinkind gefrühstückt, ist wirklich zu komisch. Berger klopft Wolf auf die Schulter und drückt mir Juri wieder in die Arme.

„Eine prima Investmentbankerin haben Sie da! Sollten Sie mal ernsthaft über eine Gehaltserhöhung nachdenken! Muss` dann mal los! Sie senden mir den Vertrag zu, ja?“

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