Von Ingo Pietsch
Der orangefarbene Müllwagen der Abfallwirtschaftsbetriebe bog langsam in die Tempo-30-Zone der Hüttenstraße ein.
In einer Nebenstraße gab es einen riesen Wohnkomplex und ein quadratisches Hochhaus mit 20 Etagen.
Trotzdem dominierten im Viertel dreistöckige Wohnklötze Reih an Reih so weit das Auge reichte.
Ein sozialer Brennpunkt am Westrand der Stadt.
Hauptsächlich wohnten hier Menschen türkischer Herkunft, aus Polen, Rumänien und Russland und seit kurzem auch aus dem Senegal und Tunesien.
Meistens blieben die verschiedenen Gruppen unter sich, aber es kam doch ab und an zu Reibereien untereinander – teils auch mit Waffengewalt.
Der Müllwagen hielt vor einem der Hauseingänge.
Heute war Sperrmülltag. Einmal im Monat konnten die Anwohner ihren Müll, der nicht über die Tonnen entsorgt wurde, kostenlos weggeben. Ein Service der Stadt, um der wilden Entsorgung Einhalt zu gebieten.
Zum Schluss der Tour wurden dann die Plätze der Glascontainer gereinigt, an denen sich auch immer allerhand Schrott angesammelt hatte.
Oswald und Mehmet sprangen aus dem Müllfahrzeug und streiften sich die Handschuhe über.
Sie waren bei dem schönen Wetter guter Laune und pfiffen vor sich hin.
Oswald, Mitte fünfzig, schwarze Locken, Schnauzer und ein Bär von einem Mann, Mehmet, zwei Köpfe kleiner und zwanzig Jahre jünger, gut durchtrainiert, arbeiteten schon seit einer Ewigkeit zusammmen und waren ein eingespieltes Team.
Während Oswald die Presse hochfuhr, verscheuchte Mehmet auf türkisch freundlich die Kinder, die eigentlich in der Schule oder im Kindergarten hätten sein müssen, da die Entsorgung mitunter gefährlich sein konnte.
Mehmet schnappte sich eine alte Lampe und einen kaputten Wäschekorb mit vollen Windelbeuteln, die eigentlich nicht in den Sperrmüll gehörten und warf sie in den Auslieger.
„Wieder reiche Beute, hm?“ ,meinte Oswald grinsend und hielt sich angedeutet die Nase zu.
„Pass auf, ich lass dir noch was übrig.“ Beide eilten mit Schrankwänden aus Pressholz zum Fahrzeug und ruck zuck war der erste Haufen beseitigt.
Zwei Häuser weiter gab es ein paar alte Fahrräder ohne Reifen.
Alles kam hinten in die Müllpresse und wurde anschließend auf dem Wertstoffhof wieder getrennt. Anders war es bei der Menge nicht möglich.
Eine ältere Anwohnerin beschwerte sich in gebrochenem Deutsch lautstark über den Lärm und Gestank des Müllwagens zu so früher Uhrzeit.
Oswald hatte aber ein dickes Fell und rief ihr zu, dass sie den Müll ja liegenlassen und in einem Monat wiederkommen könnten.
Die Frau winkte fluchend ab und knallte ihr Fenster zu.
„Selber.“ Oswald wiederholte das Wort und Mehmet zuckte zusammen.
„Du musst echt aufpassen, in welchem Zusammenhang du Schimpfwörter wiederholst. Das kann ziemlich daneben gehen.“
Oswald wurde kleinlaut: „Ich kenne die meisten Wörter, außerdem hat sie mich eh nicht gehört.“
„Sie vielleicht nicht, aber vielleicht wer anders.“ Mehmet blickte sich suchend um, als befürchte er, jemand würde gleich ein Messer werfen.
„Yallah Mehmet, Yallah!“
Mehmet boxte Oswald in die Seite und sie fuhren weiter.
Der nächste Halt war der Traum eines jeden Metallhändlers: Der Federkern einer Matratze, noch mehr Fahrräder, Die Trommel einer Waschmaschine, eine alte Schaufel und eine Zinkgießkanne mit einem Loch im Boden.
Mehmet hielt die Gießkanne wie ein Horn und pustete hinein: „Törööö, i bin a Jegermeesta!“
Oswald sah ihn empört an: „Du hast da doch nicht tatsächlich deinen Mund dran gehalten?“
Mehmet überlegte kurz: „Natürlich nicht. Ich bin doch nicht verrückt.“
Und wischte sich mit dem nackten Unterarm den Mund ab, als Oswald den Schrott ins Auto warf.
Ein junges Paar stürmte aus einem der Eingänge und unterhielt sich laut streitend.
Sie trug ein Tablett mit einem ganzen Service in dem hässlichsten Braun, dass Oswald je gesehen hatte und der Mann flehte sie um etwas an.
Die Frau drückte es dem völlig verdatterten Oswald in die Hände.
Es klirrte, als eine Tasse umfiel, aber heile blieb.
Dem jungen Mann liefen die Schweißperlen an den Schläfen herab.
Die Frau redete weiter und zeigte auf Oswald, der den Mund verzog, weil er kein Wort verstand.
Hilfesuchend blickte er zu Mehmend, der sich grinsend an das Müllauto gelehnt hatte.
Das Paar war verstummt und wartete auf Oswalds Reaktion.
Mehmet entschärfte die Situation: „Also folgendes: Das Service hat seine Mutter den beiden zur Hochzeit geschenkt. Sie hasst es und du sollst jetzt als Unparteiischer entscheiden, ob sie es behalten sollen. Gibst du es zurück, verlässt sie ihn. Wenn nicht, hasst ihn seine Mutter für immer. Entscheide weise!“
Der Mann zuckte zusammen, als das Tablett mit der Kanne und den Tassen in tausend Teile zerplatzte.
Mit gesenktem Kopf trottete er hinter seiner vor Stolz platzenden Frau her.
Die letzte Station war ein antiker Schminktisch mit gesprungenem Spiegel.
Oswald nahm ihn ab und legte ihn vorsichtig in die Presse.
Glas war immer so eine Sache. Oft flogen beim Bersten Splitter herum und das war wirklich gefährlich.
Derweilen öffnete Mehmet alle Schubladen und durchsuchte sie nach persönlichen Unterlagen und Wertgegenständen. Das war Pflicht.
Er fischte ein paar Maxi-CDs mit vergilbtem Hüllen heraus.
„Backstreet Boys und Joshua Kadison. Das war Anfang der Neunziger“, las er vor. „Das sind ja fast schon Oldies.“
„Oh, zeig mal her.“ Oswald nahm eine CD aus der Hülle und hielt sie gegen das Licht. Ein Regenbogen blitzte auf der Kunststoffscheibe auf. „Die ist noch gut.“
Mehmet blickte verwundert: „Willst du damit irgendwelche Tiere vertreiben? Davon bekommt man doch Ohrenbluten.“
„Richtig. Die hänge ich in mein Gemüsebeet. Einen besseren Schutz gegen Vögel gibt es nicht.“
Mehmet schüttelte den Kopf, kramte weiter in den Schubladen und fand tatsächlich noch mehr.
Ein kleines Tütchen mit einem weißen Pulver.
„Oh oh“, murmelte Mehmet.
„Backpulver?“, Oswalds Frage war völlig überflüssig.
„Das müssen wir sofort melden.“ Mehmet griff zu seinem Funkgerät.
„Finga weck!“
Wenn ein Klischee jemals einen Prototypen hervorgebrachte hatte, dann war er genau zu dieser Person geworden: Wahrscheinlich Deutschrusse, Stoppelfrisur, mehrere Goldzähne und Goldketten, Markentrainingsanzug in Blau und weiße Turnschuhe.
Er hatte die rechte Hand in der Jacke und zeigte damit auf Mehmet und Oswald. Es war den beiden nicht ersichtlich, ob sich in der Tasche nur die Hand, ein Handy oder möglicherweise eine Waffe befand.
Das Duo sah sich um, aber niemand interessierte sich für den Zwischenfall.
Was noch viel schlimmer war, dass ein Briefträger an ihnen vorbeieilte, als wären sie gar nicht da.
„Sofort hergäben!“, sagte Mr. Klischee barsch.
„Die CDs?“, fragte Oswald, was angesichts der Bedrohung völlig unpassend war und Mehmet zum kichern brachte.
„Du Idi-ot! Dehn Stoff natürlich.“ Die Hand in der Tasche ruckte vor und zeigte unmissverständlich, dass er es ernst meinte.
Mehmet verging das Lachen. Zitternd überreichte er dem Deutschrussen das Tütchen.
Ehe er es entgegennehmen konnte, ruckte sein Kopf zur Seite und mindestens einer der Goldzähne flog in hohem Bogen davon.
Der Typ fiel wie ein nasser Sack um und blieb liegen.
„Undankbares Pack!“, meckerte die alte Frau, die sich vorhin über den Müllwagen beschwert hatte.
Mit ihrer Handtasche hatte sie dem Typen eins übergezogen. „Isch misch wollte noch für vorhin entschuldige. Ich dankbar bin, wegen Müllabholung. Schlecht geschlafe, wegen Frauenprobleme. Wenn du verstehen?“ Sie zwinkerte Oswald zu und tätschelte seinen Arm.
Mehmet schüttelte den Kopf und rief über Funk die Polizei.
Oswald schien nicht besonders glücklich über seine neue Freundin zu sein.
Sie hielt Oswald einen Pappteller mit Kuchen hin.
„Hier: Baklava für euch beiden. Schöne Tag noch!“, verabschiedete sie sich und zwinkerte Oswald erneut zu.
„Deine neue Errungenschaft hat einen ganz schönen Bumms drauf. So schnell wacht der sicher nicht mehr auf.“
Ein dicker Bluterguss breitete sich auf dem Gesicht des Typen aus.
„Das wird der so schnell nicht vergessen“, meinte Mehmet.
„Und wir auch nicht.“
Die beiden atmeten erst richtig durch, als die Polizei ihre Arbeit getan hatte und den Typen in den Streifenwagen verfrachtet hatte.
Zusammen entsorgten sie noch den Tisch, beendeten ihre Tour und hofften, keine unliebsamen Schätze mehr zu entdecken.