Von Maria Lehner

In Rudolfsheim-Fünfhaus wird in der Straßenbahn gefragt: „Bitte, wo muss man aussteigen zur Symmetrieachse des dritten Paralleluniversum?“ Eine Frau sagt „Momenterl!“ und recherchiert kurz im Mobiltelefon: „An den Koordinaten 48.19056693793886, 16.31783871294337, aber bitte genau sein, sonst findet man es nicht!“ Jemand anderer, offenbar praktischer veranlagt, wirft ein: „Oder man schaut, wo die anderen aussteigen und geht der Menschenmenge nach!“

 

Denn sie alle wollen an der öffentlichen Gerichtsverhandlung teilnehmen: Es werden hintereinander zwei Fälle verhandelt, die einander gleichen – daher ist der Verhandlungsort auch das Paralleluniversum. Immer geht es um einen, der seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist und um einen, der gar nicht „befugt“ war und geglaubt hat, er kanns. Beides verdient die gleiche Strafe. 

 

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Der Fall 1 betrifft das Forstamt. Der beurkundete Jägermeister ist lieber im Revier in der urigen Hütte gesessen und hat Wildschweinleberkäse gegessen, als dass er sich um die überhandnehmenden Wildschweine gekümmert hätte. Das Abschießen hat er seinem jungen Gehilfen aufgetragen, der ist allerdings verkappter Pazifist. Und da sitzen sie jetzt: der Jägermeister und der Jägerdilettant. Der eine, weil er den Genuss wichtiger nimmt als seine Arbeit, der andere, weil er einfachheitshalber nachts die Wildschweine aus dem Gatter gelassen hat; sie haben den englischen Garten der Villa Schlifellner verwüstet und die Beete der Agraruniversität umgepflügt.

 

Fall 2 hat mit dem Salzamt zu tun. Der Herr Rat hat es satt, dass man dort immer die Leute zum Spaß hinschickt. Es ist nämlich so, dass Wort „Salzamt“ in Österreich als Ausdruck für eine nicht existierende Behörde steht: „Beschweren Sie sich doch beim Salzamt!“ heißt es immer wieder, nicht für möglich haltend, dass man vor rund zweihundert Jahren bei den Reformprozessen EIN Salzamt vergessen hat. Dort hat man zwar keine Arbeit, aber doch noch 2 Beamte, den Herrn Rat und seinen Bürodiener. Und dorthin kommen dann die Leute! 

Den Herrn Rat macht das nervös, deshalb ist seine Tür versperrt (er selbst kann ungesehen durch eine Hintertür kommen und gehen). In der Zeitung gab es irgendwann ein Foto von vielen kleinen Zetteln an seiner Tür: „Ich versuche Sie seit 2016 zu erreichen, ich bitte höflichst: Nehmen Sie sich des Falles GZ 13.0852-FX201/2014 an“. Er hat reichlich zu tun, trotz allem. Und dann gibt es da noch seinen Bürodiener, der ein freundlicher Mensch ist; vielleicht ein wenig zu motiviert – und auf alle Fälle recht eitel. Dass man ihn auch mit „Herr Rat“ anredet, lässt er sich gern gefallen. Rechtsberatung macht er auch. Die Leute tun ihm so leid. Das hat fatale Folgen und so wird das Recht zum Unrecht und der übereifrige Ratgeber zumUnrat.

 

Der Richter bekundet in von Amtswürde getragenem Ton: „Mit Geld oder Ersatzfreiheitsstrafe lässt sich das freilich nicht regeln“. Der Gerichtsdiener rollt ein Ding herein, das wie ein riesiger bunter Teppich nach Mottenbefall aussieht. „Ich verordne einen Dienst an der Allgemeinheit. Hier im fünfzehnten Bezirk ist seit Jahrzehnten kein Regenbogen gesehen worden, weil er brüchig und blass geworden ist. Die Reparatur ist von den vier Verurteilten – dem Herrn Jägermeister und dem Herrn Jägerdilettanten, dem Herrn Rat und dem Herrn Unrat – gemeinschaftlich an diesem Ort zu erbringen.“ Die Zuschauer lachen. Die vier ahnen, was auf sie zukommt – von ihnen lacht keiner.

 

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Tag für Tag und Jahr für Jahr sitzen die Verurteilten in Folge in einem für sie im dritten Paralleluniversum adaptierten Raum. Geduldig versuchen sie, dem Regenbogen wieder Standhaftigkeit, Eleganz und Farbe zu verleihen; sie ziehen Stahlseile ein um ihn entsprechend aufzuspannen und sticken mit Perlgarn die Spektralfarben präzise in den Läufer. Rundum – nicht nur hier, sondern auch in der Straßenbahn – kennt man sie. Ein italienischer Journalist hat einen Bericht über sie geschrieben. 

 

Besucher tun so, als würden sie sich in den weitläufigen Sälen verirrt haben und stehen auf einmal hinter ihnen und schauen zu. Irgendwer hat die Bezeichnung aufgebracht „Die Sisyphusse von Rudolfsheim-Fünfhaus“. Das Bild von der antiken Sagengestalt, die den Stein bis zur Bergspitze bringen soll und der er immer wieder entgleitet und hinabrollt, scheint auf die vier zuzutreffen.

 

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Nach etlichen Jahren ist die Aufgabe beendet. „Es wird ein Fest geben, denn diesmal war ich gewissenhaft“ sagt der Jägermeister. Der Jägerdilettant meint „Und auch ich habe, ganz wie ein Meister, meinen Teil dazu beigetragen“. „In der ganzen Stadt wird er zu sehen sein und man wird wissen, dass ich präzise gearbeitet habe“, schwärmt der Herr Rat. „Diesmal habe ich mich sachkundig gemacht und mit allen meinen Kräften das getan, was ich wirklich konnte“, ergänzt der Herr Unrat. 

 

Sisyphusse sind sie wirklich, denn Folgendes bekommen sie zu hören, als sie zu viert stolz den Regenbogen präsentieren: „Meine Güte, euch haben wir komplett vergessen! Jetzt kommt ihr! Habt ihr denn nie Radio gehört oder ferngesehen?“ (Nein, haben sie nicht, abends waren sie zu müde dazu und während der Arbeit wollten sie sich durch nichts ablenken lassen). „Seit dem vorigen Jahrhundert werden solche Naturphänomene doch per Projektion erzeugt!“ 

 

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Die Sisyphusse rollen schweigend den Regenbogen ein. Er wird ins Museums-Inventar des dritten Paralleluniversums übernommen. Sie treten nach draußen und blicken in den Himmel. Es hat zu regnen aufgehört, die Sonne scheint. Sie wischen die Regentropfen von der Parkbank ab und setzen sich. Einer zeigt wortlos mit der Schirmspitze nach oben. Die drei anderen seufzen: „Ja, Ja!“

 

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