Von Ani-Fee Sanddorns

10:55 Uhr. Klack. Der Wasserkocher stoppte seinen Kochvorgang und das sprudelnde Geräusch wurde schwächer. Marie riss sich mit einem lauten Seufzen aus ihren Gedanken, in die sie wieder einmal abgeschweift war ohne es zu bemerken. Ihr Blick fiel nach draußen auf den sommerlich grünen Haselnussbaum, in dem zwei Taubenmännchen unaufhörlich miteinander kämpften. “Ach, ihr seid dumm. Vertragt euch doch einfach”, murmelte sie, griff nach dem Wasserkocher und träufelte einen Schluck des heißen Wassers auf das angenehm duftende Häufchen Kaffeepulver, bis es gerade eben so bedeckt war mit Flüssigkeit. 

 

Sie stellte das Gerät beiseite und sah zu, wie sich das Pulver im Handfilter, der auf ihrer großen Lieblingstasse thronte, rasch vollsog und zu quellen begann. Immer wieder war sie bei diesem Vorgang fasziniert von den kleinen Luftbläschen, die sich nach kurzer Zeit bildeten, und manchmal konnte man winzig kleine ölig-schimmernde Schlieren in Regenbogen-Farben auf der feuchten Oberfläche erkennen. 

 

“Vier Minuten noch, passt.” Die Digitaluhr im Einbaubackofen verriet, dass in Kürze das Meeting beginnen würde. Marie war mittlerweile Expertin darin, die kurzen Pausen zwischen zwei Online Terminen im Homeoffice für alltägliche Dinge zu nutzen und wusste genau, wie lange sie für welche Tätigkeit benötigte. Von Hand Kaffee kochen klappte locker in 5 Minuten, sodass er trotzdem noch richtig gut schmeckte. Kürzer ging auch, ergab dann aber meistens Plörre. Dazu noch eine Zigarette rauchen benötigt drei Minuten on top, vorausgesetzt sie wird gedreht, während der Kaffeevorgang läuft. Über fehlendes Zeitmanagement konnte sie nicht klagen. Es sei denn, sie stand zu lange rum und träumte vor sich hin. 

 

Sie nahm erneut den Wasserkocher zur Hand und übergoss nun deutlich weniger zaghaft das gequollene Kaffeepulver, bis der Filter randvoll war. Während sie dem braun gefärbten Wasser zusah, wie es sich im Filter immer weiter verringerte, nahm sie ein paar bewusste tiefe Atemzüge zur kurzen Entspannung.

 

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10:59 Uhr. Geschickt manövrierte Marie die volle Tasse Kaffee erst durch die Küche, dann durch den Wohnungsflur und machte dabei einen Bogen um den großen Stapel aussortierter Bücher für das Bücherregal, der sich auf dem Boden seit Wochen türmte und mittlerweile nicht nur an Höhe sondern auch an Breite gewonnen hatte. Obenauf lag das Buch “Professor Unrat”. Das brachte sie kurz zum Schmunzeln und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Gerade in solch stressigen Phasen im Job litt der Haushalt und sie wünschte sich, dies sei aktuell das einzige, was sich in ihrer Wohnung als Unrat betiteln ließe. “Immerhin nehme ich es mit Humor”, dachte sie sich und erreichte kurz darauf ihr Schlafzimmer, welches gleichzeitig Büro im Homeoffice war. 

 

Sie stellte den Kaffee schnell zwischen Tastatur und Monitore ab, setzte sich, entsperrte den PC, checkte kurz in der Spiegelung des Bildschirms, ob ihr Shirt und die Haare halbwegs akzeptabel saßen, rief die Webseite des Meetingraums auf und loggte sich pünktlich ein. 

 

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11:00 Uhr. Vor ihr erschienen die Gesichter von sechs weiteren Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Abteilungen und von verschiedenen Standorten sowie der Coach des Unternehmens, der zu diesem Gruppentermin eingeladen hatte. Einige Personen kannte sie bereits aus anderen Meetings, andere hatte sie noch nie zuvor gesehen und war daher gespannt auf die Vorstellungsrunde. 

 

Munteres Geplapper, Lachen und Winken in die Kamera, die ersten Minuten dienten immer dazu, sich zu versammeln, ein bisschen Smalltalk zu betreiben und sich aufzuwärmen, bevor das eigentliche Thema des Treffens begann. Sie sah sich die einzelnen Menschen genauer an und die Umgebung in der sie saßen. Das war jedes Mal spannend, einen Blick in die Welt daheim bei anderen werfen zu können. Manche von ihnen saßen im Wohnzimmer oder selten auch mal in der Küche oder im Wintergarten, die meisten aber so wie sie im Schlafzimmer. Fakt war, dass sich kaum jemand ein zusätzliches Arbeitszimmer leisten konnte. Außerdem kam das Homeoffice vor zwei Jahren für alle von ihnen sehr überraschend, und so nutzte man den bestmöglichen Raum, den man nun einmal dafür hatte.

 

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11:05 Uhr. Die Veranstaltung begann damit, dass der Coach alle Anwesenden begrüßte und den Ablauf  erläuterte. Thema heute war “Gesundheit im Homeoffice” und der Termin dauerte zwei Stunden. Die Teilnahme war freiwillig, die Anzahl an Plätzen begrenzt. 

 

Marie meldete sich gerne zu solchen Angeboten an. Selbst wenn das Thema einmal nicht besonders spannend klingen sollte, so ergab sich durch den Austausch innerhalb der Gruppe in der Regel jedes Mal mindestens einen Punkt, welchen sie für sich als wertvollen Input verbuchen konnte und aus der Veranstaltung für sich mitnahm. 

 

Und auch, wenn ihr Terminkalender so schon ohne Probleme bis zum Anschlag gefüllt war und es keineswegs so war, als hätte sie Langeweile, eher im Gegenteil, so waren ihr diese Gesprächsrunden außerhalb der gewöhnlichen und ohnehin stattfindenden Pflichttermine einer Führungskraft eine willkommene Abwechslung, ja, beinahe Erholung. 

 

Vielleicht hätte sie auch ohne die Anmeldung zu diesem Austausch zwei Stunden die Füße hochlegen und nichts tun können in dieser Zeit und niemand hätte es bemerkt, denn Kontrolle von Mitarbeitern im Homeoffice war nicht einfach. Aber so etwas hätte sie als unanständig und betrügerisch empfunden, dazu war sie zu gewissenhaft. Sie bevorzugte daher diese Variante und nannte sie “produktive Entspannung”. 

 

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11:10 Uhr. Die Vorstellungsrunde begann. Fasziniert beobachtete Marie den Kater von Marc, der soeben seinen Werdegang im Unternehmen schilderte und bemüht war, dabei nicht den Faden zu verlieren. Der pechschwarze Minitiger lief nun bereits zum dritten Mal über seinen Schreibtisch und sein buschiger schwarzer Schwanz schweifte in schlängelnden Bewegungen vor Marcs Gesicht hin und her, bis er ihn erneut mit einer Hand hochhob und außerhalb des Kamerabildes absetzte. 

 

Nun war Carmen an der Reihe, die den anderen einen kurzen Einblick in ihre Tätigkeit und ihre Hobbies gab. Marie lauschte gebannt und bemerkte den Anflug von Nervosität in Carmens Stimme und ihrem Gesicht, aber nur ein klitzekleines bisschen. Carmen hatte sich gut unter Kontrolle, auch wenn es ihr vielleicht schwer fiel vor einer Gruppe zu reden. Das kannte Marie selbst nur zu gut und es machte ihr daher auch gar nichts aus, wenn jemand kein perfekter Showmaster war. Noch vor einem Jahr hatte sie als damals angehende Führungskraft selbst ordentlich mit Schnappatmung zu kämpfen in solchen Situationen, mittlerweile meisterte sie sie relativ geschmeidig. Dann fiel ihr Blick auf einen Gegenstand im Zimmer der Kollegin. 

 

“Oh nein”, dachte Marie und versuchte ihren Gesichtsausdruck nicht zu verändern. Das war so eine typische Pokerface Situation. Nichts anmerken lassen. Unbemerkt von ihrer eigenen Webcam bewegte sie ihre rechte Hand Richtung Maus, schob mit ihr den Pfeil auf dem Monitor ein Stück weiter nach links und klickte auf das Streaming-Bild der Kollegin, sodass dieses sich auf Bildschirmgröße ausweitete und die weiteren Teilnehmenden vorübergehend als Miniaturansichten in einer kleinen Leiste am Bildschirmrand verschwanden. Die Kollegin saß ebenso wie Marie in ihrem Schlafzimmer, von dem man nur einen gewissen Bereich sehen konnte, wie das Webcams typischerweise der Fall ist: Im Hintergrund das ordentlich gemachte Bett mit Tagesdecke, ein Fenster, durch das helles Tageslicht hereinfiel und auch sonst wirkte alles unauffällig. “Du hast den Kameracheck vergessen, Liebes”, ging es ihr durch den Kopf und sie erkannte ganz links im Bild, nur noch zur Hälfte zu sehen, wenn überhaupt, eine große Flasche Jägermeister auf der Kommode. Ihr tat die Kollegin auf Anhieb leid, denn das war so sicherlich nicht geplant gewesen. Eine Gedankenkette setzte sich in Gang, die es ohne Homeoffice so nie gegeben hätte. “Warum im Schlafzimmer und in direkter Reichweite? Hat die Kollegin ein Alkoholproblem? Oder hat sie schnell ein bisschen Ordnung gemacht in der Wohnung und die Flasche ist, warum auch immer, ausgerechnet dort abgestellt worden?”, sie hielt kurz inne und runzelte dabei die Augenbrauen, “warum eigentlich immer diese Oberflächlichkeiten? Übertreibe ich hier nicht? Ist es nicht schnurzpiepegal, was wer wo rumstehen hat, wie ordentlich oder unordentlich jemand ist? Muss man einen Kameracheck machen, um einen Anschein zu wahren, den andere anscheinend brauchen, damit sie nichts denken oder sagen?”

 

Marie ärgerte sich über ihre eigene Oberflächlichkeit als erste Reaktion. Mit vorsichtiger Handbewegung und ohne den Blick dabei zu lange von der Mitte des Bildes wegzubewegen – immer an das Pokerface denken! – verkleinerte sie die Ansicht, sodass wieder alle Kolleginnen parallel mit ihren Fenstern auf der Fläche zu sehen waren.

 

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10:19 Uhr. Als übernächste war Marie an der Reihe. Sie nutzte die verbleibenden Minuten um ihre Learnings für heute in ihrem Notizbuch festzuhalten: 

 

“Input heute: 

Evtl. die Kollegin ansprechen unter vier Augen.

Ab und zu nen Kameracheck machen. Oder auch nicht.

Nochmal über Oberflächlichkeit und Erwartungshaltungen von anderen im Job klar werden.

Und vor allem Memo an mich selbst: Scher dich nicht drum, was andere denken.”