Von Franck Sezelli

Lukas musste sich auf die Straße konzentrieren, sie war recht eng und kurvenreich. Zu beiden Seiten stand dichter Wald.

»Wirklich eine schöne Gegend!« Maximilian konnte sich nicht sattsehen. Er war es, der den Vorschlag gemacht hatte, das Kartäuserkloster zu besuchen, nachdem sie im Fremdenverkehrsbüro in Grenoble ein Faltblatt dazu gesehen hatten.

Zum Glück hatten die Freunde ähnliche Interessen. So war Lukas sofort dabei, als er las, dass sich hier im Chartreuse-Gebirge das Mutterkloster des fast tausend Jahre alten Kartäuserordens befindet. Nun standen sie vor den Klostermauern und bestaunten den großen Komplex. »Das wussten wir ja, dass wir das Kloster selbst nicht besichtigen können«, meinte Lukas, »das stand auf dem Werbezettel, den du in Grenoble mitgenommen hast.«

»Ja, im Kloster leben auch heute Mönche des Kartäuser-Ordens und die sind zu Einsamkeit und Stille verpflichtet. Deswegen hat die Öffentlichkeit keinen Zutritt. Aber hier weiter unten im ehemaligen Wohnhaus der Mönche ist das zugehörige Museum, wo man etwas über den Orden und das Klosterleben erfahren kann.« Max hatte das Faltblatt zu Rate gezogen.

Ein paar Schritte weiter wurden die beiden Freunde enttäuscht. Das Museum hatte bereits geschlossen. Sie einigten sich darauf, die Nacht in der Gegend zu verbringen und morgen wiederzukommen. Es wurde sowieso empfohlen, den Museumsbesuch mit einer Visite der historischen Destillerie und des längsten Likörkellers der Welt in Voiron zu verbinden. Dort würde es auch eine Kostprobe des berühmten Kräuterlikörs geben.

Im Campingführer fand Lukas den nur fünfzehn Minuten entfernten Campingplatz Les Berges du Guiers, der wie der Name sagt, am Ufer des hier entspringenden Flüsschens Guier liegt. Nachdem die beiden ihr kleines Zelt aufgebaut und Baguette mit einer köstlichen Hartwurst mit Walnüssen gegessen hatten, entdeckten sie am Rande des Platzes eine kleine Runde junger Leute, die um eine Feuerstelle saßen.

Sie wurden freundlich in die Runde eingeladen. Wie es sich herausstellte, waren es fünf deutsche Urlauber und ein tschechisches Ehepaar. Barne, Heiko und ein großer Blonder, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatten, kamen aus der Gegend von Oldenburg und erzählten, dass sie auf der Heimreise waren, nachdem sie eine Woche in Saint-Raphaël an der Côte d’Azur verbracht hatten. Niklas und Tim, denen man anmerkte, dass sie ein Paar waren, kamen aus Bad Kreuznach und hatten tagsüber das Klostermuseum besucht und anschließend eine Waldwanderung unternommen. Sie kamen alle schnell ins Gespräch, denn die beiden, die sich mit »wir sind verheiratet couple aus Česko« vorgestellt hatten, verstanden auch genug Deutsch, um mitzuhalten. Maximilian fragte das tschechische Paar später: »Wo kommt ihr genau her? Aus Prag, Pilsen oder …?«

»Wir kommen von Mariánské Lázně, Marienbad. Ich heiße Ondrej und das ist meine Frau Adela.«

»Oh, Marienbad! Sehr schön! Da bin ich oft, das letzte Mal vor wenigen Wochen.« Lukas begann zu schwärmen, bis ihn Max bremste. »Die anderen kommen gar nicht mehr zu Wort.«

»Wisst ihr was, Leute?«, rief Niklas in die Runde, die Gesprächspause ausnutzend, »ich hole uns eine Flasche Chartreuse, damit wir hier nicht so trocken herumsitzen.« Er lief zu ihrem nahegelegenen Wohnwagen und kam mit einer grünen Flasche zurück.  »Wir haben die heute in der Boutique des Likörkellers in Voiron gekauft, die spendiere ich.« Mit diesen Worten öffnete er sie und reichte sie an Barne, der neben ihm saß. »Nimm einen Schluck und gib sie weiter! Gläser haben wir hier nicht, aber der Alkohol tötet sowieso alles ab.«

Und so machte die Flasche die Runde und danach noch eine Runde und noch eine.

Seid nicht entsetzt, liebe Leute, diese Geschichte trug sich lange vor der Pandemie zu.

Während die Flasche herumging, erzählte Tim: »Das ist ein Chartreuse Verte, der grüne und beliebteste, aber es gibt auch einen gelben, den Chartreuse Jaune, der weicher ist mit weniger Prozenten. Beide werden übrigens aus denselben 130 Kräutern, Rinden, Wurzeln und Gewürzen destilliert, nur in unterschiedlichen Proportionen. Der gelbe Likör ist etwa ein Jahrhundert jünger. Es gibt auch noch andere Sorten. Der grüne wird seit 1764 hergestellt. Generell wird der Kräuterlikör Chartreuse, genauer die Kräutermischung, auch heute noch im hiesigen Kloster von nur zwei Mönchen produziert. Das geheime Rezept kennen seit Jahrhunderten immer nur drei Kartäusermönche. Verrückt!«

»Mir fällt zu Kartäuser gerade der ›Kartäuser-Knickebein-Shake‹ ein, von Lutz Jahoda. Kennst du den auch noch, Max?«

Max nickte: »Ja, der hat wohl auch lange bei uns in Leipzig gelebt. War in Brünn geboren, hatte auch solch einen Akzent, der muss inzwischen uralt sein. Mein Vater hatte eine Schallplatte von ihm, da war auch der Knickebein-Shake drauf.«

»Wir haben die Platte heute noch. Sie muss in den Sechziger-Jahren herausgekommen sein, da war der Chartreuse eine beliebte Zutat in Cocktails.«

Inzwischen war die Flasche mit dem Kräuterlikör leer. Da erhob sich Heiko und sagte: »Jetzt können wir doch nicht so auseinandergehen. Ich sehe mal, was wir noch haben.«

Nach einer Weile kam er wieder und wandte sich zunächst an Barne: »Ich habe nichts Geeignetes mehr gefunden, nur deine Medizin«, und lachte.  »Aber da wir sowieso bei Kräuterschnaps sind, können wir mit dem ja weitermachen.« Er hob eine Flasche Jägermeister hoch.

Barne meinte: »Ist okay! Ich habe nach dem Essen oft Magendrücken, da nehme ich gern einen Schluck davon.«

Woraufhin Heiko erwiderte: »Aber du weißt schon, dass das nicht wirklich gegen Magenbeschwerden hilft. Das wurde früher oft geglaubt und deswegen gibt es wohl auch so viele Magenbitter und Kräuterliköre auf der Welt.«

»Mir fällt da sofort Boonekamp ein, den hat der Vater einer früheren Freundin immer als Kommodenlack bezeichnet«, gab Max zum Besten.

»Es gibt international aber wirklich viele, auch bei uns bekannte und gute Kräuterschnäpse. Zum Beispiel Fernet Branca, Kümmerling, Underberg, Bénédictine aus Frankreich oder italienischer Amaro von Ramazzotti.«

»Dies hier ist jedenfalls ein echter deutscher Jägermeister aus Wolfenbüttel. Er besteht immerhin aus 56 Kräutern. Das Rezept, das es seit 1934 gibt, ist natürlich ebenfalls geheim. Lasst ihn euch schmecken. Der hat eine viel geringere Drehzahl als der Chartreuse, nur 35%.«

Die Flasche ging rum und man hörte zufriedenes Grunzen. »Nicht schlecht!«, »Wirklich milder«, »Schmeckt«, konnte man vernehmen.

»Aber warum heißt der Jägermeister?«, fragte dann Tim.

»Ich weiß nur soviel, dass Jägermeister früher eine Berufsbezeichnung war und der Erfinder dieses Kräuterlikörs, ein gewisser Curt Mast, ein leidenschaftlicher Jäger war«, erklärte Barne. »Während der Nazizeit war Göring Reichsjägermeister, weshalb die Leute den Likör gern Göring-Schnaps nannten. Aber das wird uns heute nicht vom Genuss abhalten.«

Tatsächlich ließen sich die jungen Leute den Likör schmecken, wurden immer aufgekratzter und lustiger. Bald war der gute Jägermeister auch ausgetrunken.

Mit der Begründung, dass sie morgen zeitig losfahren wollten, verabschiedeten sich die drei Norddeutschen.

»Bevor ihr geht, will ich noch einen Tipp loswerden, weil wir gerade bei Kräuterschnäpsen sind. Ich war vor vielen Jahren mal in Riga und habe dort den Rigaer Balsam, heute auch als Riga Black Balsam bei uns zu kaufen, kennengelernt. Wenn ihr mal dazukommt, den kann ich euch allen nur wärmstens empfehlen. Er ist eine köstliche lettische Spezialität. Einfach mal merken!« Lukas war wieder kaum zu bremsen.

Nun saßen sie nur noch zu sechst um das Feuer.

»Da ich will auch etwas geben«, meldete sich Ondrej und flüsterte Adela etwas ins Ohr. Sie kam mit einer flachen grünen Flasche zurück, gab sie ihrem Mann und wandte sich an alle mit den Worten: »Ich bin müde, Zeit für Bett. Gute Nacht und na zdraví!«

Ihr Weggehen nutzte Lukas, um sich ebenfalls zu verabschieden. »Nicht böse sein, ich ziehe mich auch zurück. Deinen Becherovka kenne ich natürlich, Ondrej, er schmeckt mir auch, aber jetzt wird mir das zu viel.«

»Schade, aber da ist mehr für uns!«, meinte Ondrej. »Richtig, das ist böhmischer Becherovka. Früher auf deutsch Karlsbader Becher-Bitter. Gibt es schon 1807, Becher ist Name von Erfinder. Rezept top secret. Ist Export… wie sagt man? Exportschlager von Tschechien.«

Die verbleibenden vier Männer ließen sich den süffigen Becherovka schmecken, wobei sich Ondrej als Spender des Likörs stark zurückhielt. Erst als auch diese Flasche nichts mehr hergab, verabschiedete man sich voneinander.

Auf dem Weg zu seinem Zelt, von dem Max in der Dunkelheit der Nacht gar nicht mehr wusste, in welcher Richtung es lag, machten sich die 38% der letzten Flasche doch recht bemerkbar. Er taumelte und fiel auf etwas Weiches. Der Einfachheit halber blieb er liegen und schlief sofort ein.

 

Der Morgen kam mit grollendem Donner und grellen Blitzen. Das Wasser, das sich wie aus Eimern aus dem Himmel ergoss, weckte Maximilian endlich auf. Mit schwerem Kopf schaute er sich um. Er fand sich hinter dem Wirtschaftsgebäude des Campingplatzes und war in einen Haufen voller Küchenabfälle gefallen. Angeekelt streifte er den Unrat von seiner Kleidung, was dank des Starkregens zum Glück leicht ging. Im Zelt empfing ihn sein Freund mit dem Ausruf: »Wo warst du denn? Und wie siehst du denn aus!«

»Red nicht so laut! Mein Kopf …« Max verzog schmerzhaft sein Gesicht.

»Ja, ich verstehe. Leg dich hin und schlaf deinen Rausch erst einmal aus. So ist mit dir eh nichts anzufangen.«

Gegen Mittag hörte der Regen auf und Lukas öffnete das Zelt. Dann stupste er Max an, der im Aufwachen begriffen war: »Da, schau mal raus! Welch herrlicher Regenbogen da über den Baumwipfeln! Lass uns zusammenpacken und dann das Klostermuseum und die Chartreuse-Destillerie besuchen!«

»Meinetwegen«, murmelte Maximilian, »man muss in der Boutique ja nicht unbedingt einen Kräuterlikör kaufen …«

 

 

 

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