Von Monika Heil                 

«Dieses Halbjahr befassen wir uns im Deutschunterricht mit den Werken der Familie Mann. Und Kollege Wolf wird im Geschichtsunterricht die Zeit des Nationalsozialismus behandeln. Ihr werdet sehen, da gibt es jede Menge Gemeinsamkeiten.« Und nicht nur im Unterrichtsstoff, geht es dem Lehrer durch den Kopf und seine Miene verändert sich von Konzentration in liebevolle Erinnerung.

«Ich habe den blauen Engel im Theater gesehen und könnte ein Referat darüber halten«, meldet sich Lola Riemann sofort. Jens Triller muss schmunzeln. Na klar, Lola, die kleine Forsche und manchmal Neunmalkluge will über ihre Namensvetterin und den spießigen Professor Unrat reden. Spießig hat sie ihn, ihren Deutschlehrer, letzte Woche auch genannt. Weil er nicht bereit war …

«Gute Idee. Ich denke darüber nach. Und passend dazu geht unsere Klassenfahrt für drei Tage nach Lübeck.«

«Und da besichtigen wir das Buddenbrook-Museum.«

«Genau, Florian.« Und Oliver Wolf macht den Begleitlehrer. Und Paula Gerecht, die Referendarin. «So. Nun zurück zu euren Aufgaben aus der letzten Stunde.«

              ***

Draußen schüttet es wie aus Eimern. Missmutig beschäftigt sich Jens mit dem Lehrstoff der nächste Woche. Mist! Oliver hatte vorgeschlagen, das Wochenende am See zu verbringen. In der kleinen Pension mit dem gemütlichen Namen „Zum alten Jäger“ hatten sie schon ein paar Mal übernachtet. Aber bei dem Wetter?

«Dann fahre ich mal wieder zu meiner Mutter«, hatte der Kollege erklärt. «Zu Hause bleibe ich auf keinen Fall. Kommst du mit?«

«Aber wirklich nicht. Deine Mutter kann mich für den Tod nicht ausstehen. Und du weißt auch warum.«

«Quatsch, meine Mutter liebt dich genau so wie ich.«

«Träum´ weiter.« Ein Wort hatte das andere ergeben und schließlich hatten beide mehr als missmutig das Gespräch beendet.

Jens zwingt seine Gedanken zurück auf die geschichtlichen Daten der Brüder Mann. Heinrich, der Kämpfende, der oft Verzweifelte, mit einem fatalen Hang zum horizontalen Gewerbe. Geschieden, mehrfach liiert mit „Damen“, die ihn fast in den Wahnsinn trieben, bis er Nelly Kröger traf, seine Lola-Lola, die ihn wirklich bewunderte.

Lola. Wieder schweifen seine Gedanken ab. Diesmal zu Lola Riemann, seiner hübschen, selbstbewussten Schülerin, die ihn des öfteren mit ihren anzüglichen Bemerkungen herausfordert. Wie hatte er kürzlich in einer Biografie gelesen? Die laszive Lola zerstört den redlichen Mann, zeigt den Triumph der Dekadenz über die Reste der männlichen Würde. Nein und nochmal Nein. Seine Schülerin sollte nicht der blaue Engel seines Lebens werden.

Das Telefon reißt ihn aus seinen Gedanken.

«Hallo Oliver, schön, dass du dich meldest. Wo bist du?«

«Am See.«

«Allein?«

«Natürlich. Was denkst du denn?«

«Schüttet es bei euch auch so?«

«Nicht mehr. Über dem See steht der schönste Regenbogen, den du dir vorstellen kannst. – Ich vermisse dich.«

«Ich dich auch. Soll ich kommen?«

«Ja, bitte.«

«Gut. Bis zum Abendessen bin ich da.«

«Prima. Dann essen wir im ´alten Jäger`. Meister Lindemann zaubert uns wieder unser Lieblingsmenü und ich lasse eine Flasche Champagner kalt stellen.«

«Bin schon unterwegs.«

 

Lola kann mich mal, denkt Jens Triller. Über Klaus Mann, den jüngeren Bruder von Heinrich sollte die Kleine mal ein Referat halten. Klaus Mann, der haltlose, triebhafte Kerl, der – wie ich – doch nur geliebt werden wollte und – wie ich – einen emotional total steifen Vater hatte, der unsere Sehnsüchte nicht verstand und nicht verzieh. Scheiß auf die Familie Mann. Ich fahre jetzt zu Oliver.

                          ***

«Spinnst du jetzt total? Lösch das sofort!« Fassungslos starrt Caroline auf das Foto in Lolas Handy.

«Ich denke gar nicht dran. Der Dreckskerl soll mir das büßen. Wie der mich letzte Woche angegangen ist! Hat mich abblitzen lassen wie ein kleines Mädchen. Jetzt weiß ich auch warum. Das melde ich der Schulbehörde.« Lola spuckt ihre Emotionen förmlich aus.

«Spinnst du? Da bekommst du höchstens einen Rüffel, weil du deren Privatsphäre gestört hast. Du löscht das jetzt auf der Stelle!«

Sofort zieht Lola ihr Handy zurück. «Wieso gehst du abends um elf überhaupt in das Zimmer der Lehrer?«

«Ich wollte nochmal mit Jens reden.«

«Herrn Triller meinst du.«

«Ich wollte Herrn Triller nur bitten, kurz mal raus zu kommen, um über mein Referat zu sprechen.«

«Um diese Uhrzeit? Lola, mach dich nicht lächerlich. Man meint, du erzählst aus einem der Schundromane, die deine Mutter schreibt.« Verächtlich starrt Caroline die Freundin an, während sie fieberhaft überlegt, wie sie an das Handy kommen kann.

«Lass meine Mutter aus dem Spiel. Ich wollte Jens auch sagen, dass ich ihn … Egal. Auf jeden Fall sah ich die beiden eng umschlungen und nackt schlafend im Bett!« Die Erinnerung zeichnet rote Flecken auf ihre Wangen.

«Und da hast du spontan auf den Auslöser deines Handys gedrückt.«

«Und jetzt veröffentliche ich das Foto im Netz!« Trotzig blitzt Lola ihre Freundin an. «Und außerdem habe ich seinen Slip geklaut. Was meinst du, wie ich da DNA-Spuren auf meinen Körper praktizieren kann.« Lolas verächtliches Lachen verursacht Gänsehaut bei Caroline. «Und mein Vater ist Jurist und wird mir daraus eine super Anzeige wegen Missbrauchs Minderjähriger formulieren.«

«Dein genialer Juristenvater wird dir hoffentlich den Hintern versohlen und deine Schriftstellermutter …«

«Lass meine Eltern aus dem Spiel. Du bist ja nur neidisch, weil deine Eltern mit ihrer kleinen Schneiderwerkstatt viel weniger verdienen als meine. Mom hat inzwischen drei Romane veröffentlicht.«

«Phh, dass ich nicht lache«, wiederholt sich die Freundin. «Selbst verlegt im Internet sind die. Sie hat ja nicht mal einen richtigen Verlag gefunden.« Carolines Gedanken schlagen Purzelbäume. Sie atmet tief durch und lächelt unecht. «Ach komm, das bringt doch nichts. Vertragen wir uns wieder, Lola-Schätzchen. Ich habe noch eine Flasche Jägermeister im Rucksack. Lass uns raus an die Trave gehen und uns wieder beruhigen. Schau, wir haben Vollmond.«

Lola nickt und holt ebenfalls tief Luft. Langsam beruhigt sich ihr Puls.

«Okay. Ich hab´ auch noch was übrig von gestern Nacht. Gleich, ich muss nur noch mal schnell pipi.«

Kaum ist die Freundin verschwunden, grapscht sich Caroline deren Handy und – klick – das schlimme Foto ist für alle Zeit verschwunden. Der Slip! Wo ist der Slip? Hektisch dreht sie sich im Kreis, findet ihn nicht. Schon geht die Badezimmertür wieder auf.

                          ***

Eine halbe Stunde später lehnen die Freundinnen, scheinbar versöhnt, an der Brüstung der kleinen Brücke über die Trave.

«Wie lautet dein Referat nochmal?«

«Vergleiche die Dekadenz der Zwanziger Jahre anhand der Familie Mann mit den Werken bekannter Schriftsteller der Neuzeit.«

«Wahnsinn. Da habe ich es mit meinem ´blauen Engel` aber viel leichter.« Lachend hält Lola ihr Fläschchen in die Höhe. «Prost, Streberin.«

«Prost, femme fatale. Ich glaube, ich habe genug getrunken. Lass uns gehen.«

«Gleich. Komm, ich mache noch ein Selfie von uns beiden im Mondlicht.«

Ehe Caroline es verhindern kann, hat Lola ihr Handy gezückt. Sofort registriert sie, dass das Foto der beiden Lehrer gelöscht ist.

«Du Luder!«, kreischt Lola, reißt ihre Freundin von den Füßen und stößt sie in einer rasanten unüberlegten Bewegung über das Geländer. Sie weiß, dass Caroline nicht schwimmen kann. Adrenalin überschwemmt ihren Körper. Schwer atmend wendet sie sich ab. Zehn Minuten später hat sie die kleine Pension erreicht, in der die Klasse des Heine-Gymnasiums während ihrer Klassenfahrt wohnt. Da sie sich das Zimmer mit Caroline geteilt hatte, ist sie nun ganz allein hier. Ein bösartiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.

«Ich mache dich trotzdem fertig«, murmelt sie und zieht den gestohlenen Slip aus ihrem Rucksack. Kurze Zeit später sucht sie die Telefonnummer eines ansässigen Allgemeinmediziners aus dem Internet.

                                  ***

Vier Jahre sind seit den Ereignissen vergangen. Lola Riemann blättert durch die Tageszeitung, liest den Bericht über den Abiturientenball letztes Wochenende. Ihre alte Klasse. Alle waren anwesend außer ihre damals beste Freundin und sie selbst. Florian Grünwald, die Zwillinge Sander. Der Bericht enthält auch eine kurze Erinnerung an den tödlichen Sturz der ehemaligen Schülerin Caroline O. während einer Klassenfahrt nach Lübeck, dessen Umstände nie richtig aufgeklärt werden konnten. Danke, Papa. Die plötzliche und völlig geräuschlose Versetzung der zwei Lehrkräfte (Deutsch- und Geschichte) wurde nicht erwähnt. Das war doof, Papa.

Lola hat ihr Abitur bereits vor einem halben Jahr bestanden. In einer Internatsschule in der Schweiz, wohin sie ihre Eltern damals abgeschoben hatten.

 

Die Lektüre lenkt sie nur scheinbar ab. Immer wieder starrt sie auf den verhängnisvollen Brief. Vor zwei Wochen hat sie Jens Triller getroffen. Zufällig. Er wohnt jetzt in Berlin. Sie will dort Schauspiel studieren. Sie verbrachten den Abend gemeinsam. Er ist noch Single und «mit zwei Welten vertraut«, wie er ihr lächelnd erzählte. «Und du?«, hatte er gefragt. Ja, sie haben miteinander geschlafen. Es floss viel Alkohol, auch ein bisschen Koks. Der Satz «ich mache dich fertig«, den sie vor Jahren ausgestoßen hatte, ging ihr plötzlich durch den Kopf. Diesmal war keine Freundin Caroline zur Stelle. Lola reagierte mit zynischem Lächeln. Die Fotos stellte sie sofort ins Internet. Erschrocken über die vielen Kommentare löschte sie diese allerdings bald wieder. Zu spät. Die Strafanzeige kam heute. Erhoben von Dr. Jens Triller.

Lola greift nach ihren Handy.

«Papa«, flüstert sie in kindlich-weinerlichem Ton. «Du musst mir helfen.«

 

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