Von Helmut Blepp

Mein Großvater mütterlicherseits verpasste die Kriege. Für den ersten war er zu jung, für den zweiten zu wichtig. Da baute er Flugzeuge bei Kassel. Eigentlich wäre er lieber Uhrmacher geworden.

Nach der Befreiung liefen die Zwangsarbeiter durch die Siedlung. Sie suchten den Großvater, um ihm zu danken für das Brot, das er ihnen immer zugesteckt und für die Medizin, die er manchmal für sie gestohlen hatte. Seine Kollegen wurden gelyncht, erzählte meine Großmutter.

Nach Kriegsende war mein Großvater Feinmechaniker und verwahrte die Zeit in Kontrolluhren und Taxametern. Großzügig war er nur im Konsum von Jägermeister und Zigaretten aus der Spitze. Er hatte keine Schulfreunde mehr, keine Kriegskameraden, keine ehemaligen Liebschaften, die ihn hätten erinnern können an früher, als er gelebt hatte, endlich frei nach all den Schlägen daheim, mit Stolz auf seine Kraft und seinen Fleiß, ohne Konfirmationsanzug oder braune Kutte.

Er hatte eine zänkische Frau, der er besoffen nicht gewachsen war. Und sie zankte oft, obwohl er nicht in Kneipen ging, den Schäferhund regelmäßig entwurmte und am Sonntag den Hundezwinger und den Taubenschlag vom Unrat reinigte, während sie im Römertopf das Huhn in Bauernschoppen garte, der dann auch, mit Orangenlimonade gemischt, das Tischgetränk war.

Mit seinen Kindern sprach er nicht. Sie waren ihm fremd wie deren Kinder, die ihn fürchteten, obwohl er Anwesenheit vermied. Er trank sich zur Rente und rauchte dabei. Im Betrieb gab es nie Grund zur Klage. Er war stets pünktlich und lutschte Pfefferminzpastillen. Die vergoldete Uhr gab es zum Abschied, Massenware für den Feinmechaniker.

Er verkaufte das Elternhaus und zog seine Frau um in einen Schwarzwaldhof „im Regenbogental“, wie er allen sagte. Es war eine uralte Ruine mit lauen Kachelöfen und Kahlschlag von der Gemeinde. Aber auch dieses Leben wurde nicht bunter. Jägermeister schon morgens vor dem Anfeuern. Zigaretten aus der Spitze. Dazu Medikamente statt Pfefferminz und Gezänk wegen der ständigen Fahne und dem Unrat, den er nicht mehr vom Gehsteig kehrte. So hat es ihn dann erwischt. Zum Schluss nur noch ein Totenkopf, mit Haut überzogen. Der Mund, ein schwarzes Loch ohne Stellungnahme, blieb offen für den Arzt und die Fliegen. 

Sein Sohn wollte immer Boxer werden. Er war klein und dünn und ängstlich. Bei Streit suchte er Schutz hinter den Röcken seiner großen Schwestern. Wenn man ihn hänselte, weinte er. Wenn man ihn schubste, schrie er. Wenn man ihn schlug, schlugen seine Schwestern zurück.

Er versteckte sich gern. Er schwänzte die Schule und die HJ und den Schwimmunterricht, aber er wollte immer Boxer werden. Er wurde Schüler ohne Abschluss, Hilfsarbeiter in der Möbelfabrik, dann Pferdekutscher, dann Schäfer am Meißner ohne festen Wohnsitz. Seine Frau ließ ihn nicht mehr zu den Kindern.

Er wohnte in der Hütte seines Schrebergartens, ein Relikt mit pomadisierten Haarsträhnen im Gesicht, immer krawallig, immer mit Jägermeisterfahne und fleckigen Manchesterhosen, nie ohne Hirschfänger und genagelte Schuhe. 

Er hatte ein Poster von Judy Garland überm Bett, streunte, „Over The Rainbow“ pfeifend, durch die Straßen der Schlafstadt und sammelte alles auf, was andere fallen ließen. Der Kleingartenverein verwarnte ihn wegen des Unrats auf seinem Grundstück und der kleinen grünen Flaschen auf dem Hauptweg.

Kurz vor seinem Tod erbte er dreißigtausend Mark. Die trug er immer bei sich und erzählte jedem davon. Und von seiner Angst, überfallen zu werden. Überfallen hat ihn dann die Zirrhose. Seine Kinder lachten, als ihm der Prediger zu Gute hieß, dass er sich stets durchs Leben geschlagen habe. Sie teilten das Geld, abzüglich der Beerdigungskosten für gebrauchte Autos und Sommerurlaube. 

Im Übrigen fiel auch mein Großvater väterlicherseits nicht im Krieg. Heimgekehrt aus der Gefangenschaft fiel er einer Nachbarin zwischen die Beine, wo er blieb, bis ihn Magengeschwüre in die Klinik brachten. 

„Meiner war ein guter Mann“, sagte Großmutter am Sterbebett mit Blick zum Fenster und packte seine Siebensachen als Nachlass für den Sohn zuhause.

 

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