Von Michael Kothe

Ungewohnt langsam stapft er den Hügel hinauf. Am Alter kann es nicht liegen, normalerweise marschiert er recht flott. Sein Gang scheint gebeugt, nicht aufrecht wie sonst. Aber da bin ich mir nicht sicher, es mag an der Steigung liegen, denn nur die letzte Strecke schaue ich ihm entgegen. Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte mein Blick ihm wie so oft den ganzen Weg von seinem Haus dort unten bis hier herauf folgen können. Hier, das ist am höchsten Punkt des Waldrandes, wo die Sonnenstrahlen den Boden bis zuletzt berühren und die Büsche in goldenen Schimmer tauchen, bevor sie die Stämme empor in die Baumkronen steigen und sich dann im Himmel auflösen. Bald wird es dämmern, der Wind wird einschlafen und der Duft nach Gras, Tanne und Waldmeister sich verlieren. Warum kommt er heute nur so spät?

»‘n Abend, Jon!« Seinen Ruf begleitet er mit einem Winken, das mir heute zaghaft vorkommt.

»Hallo, Herr Forstrat! Heute so spät?«

Endlich erreicht er mich. »Du sollst mich nicht so nennen, Jon! Es klingt so unpersönlich.« Mit einem Seufzer nimmt er seinen Rucksack ab und setzt sich neben mich. Zum Gruß reicht er mir die Hand. Hart und knorrig. Fest wie das Holz des Stammes, der schon vor Jahren umgestürzt ist und auf dem wir nun sitzen.

»Es ist für mich ein Ritual, weißt du? In der Zeit, die wir uns kennen, hat es sich gefestigt. Und ich habe es gern.« Freudig beobachte ich, wie er sich vorbeugt und wie gewohnt aus dem Rucksack ein Sixpack zieht, von dem er zwei Dosen abreißt. Wie immer bringt er unser Bier mit, weil ich keins kaufen kann. Nachdem ich ihm meins abgenommen habe, öffnet er seins und stößt mit mir an.

»Auch ein Ritual, das ich liebgewonnen habe.«

Beide verfallen wir in Schweigen, jeder hängt wohl seinen eigenen Gedanken nach. Zwei alte Männer in der Abendsonne am Waldrand. Im Grunde ist es seit Jahren ein fast allabendliches Bild. Doch etwas ist anders, fast körperlich drückt mich eine Wehmut, die mich vor Tagen beschlich, nach unten. Ihm geht es anscheinend gleich, denn er hat das Gesicht nicht der Sonne zugewandt, sondern starrt auf die Erde vor seinen Füßen.

»Jonathan Patrick O‘Callaghan«, beginnt er, spricht jedoch nicht weiter.

Von der Seite blicke ich ihn an, meine Hand mit dem Dosenbier verharrt auf ihrem Weg zu meinem Mund. Mich mit meinem vollen Namen anzureden, hat er sich für bedeutsame Augenblicke vorbehalten.

Er räuspert sich. »Jonathan Patrick O‘Callaghan, unsere Zeit ist bald vorbei.«

Überrascht hebe ich meine Brauen. »Woher weißt du?«

Doch seine Worte sind trotz verwandter Botschaft keine Antwort auf meine Frage. »Heute habe ich den Brief erhalten, den ich so lange befürchtet hatte. Lange Jahre habe ich meinen längst fälligen Eintritt in den Ruhestand hinauszögern können. Nun ist es am Ende des Monats so weit. Endgültig. Zu meinem Sohn ziehe ich in die Stadt.« Mit seinem Ärmel fährt er sich über die feuchten Augen. »Das Forsthaus muss ich räumen für meine Nachfolge.«

»Ein neuer Jägermeister?«

Ein Lächeln fliegt über seinen Mund. »Eine Jägermeisterin. Mit ihr kommt endlich Farbe in unseren von Männern dominierten Beruf. Ich kann sie dir vorstellen. Vielleicht versteht ihr zwei euch dann auch so gut wie wir beide.«

»Du weißt, dass das nicht geht! Sie kann mich nur sehen, wenn ich nicht aufpasse und sie mich überrascht.«

»So wie ich dich damals. Als du dem Hirsch geholfen hast, sein Geweih von der Drachenleine zu befreien, die sich im Unterholz verfangen hatte. Übrigens fast genau hier.« Er strahlt mich an, als er diese Erinnerung an unser Kennenlernen hervorkramt. Seine Hand zeigt auf ein paar Bäume in vorderster Reihe.

»So ungefähr.« Ich lache zurück. Für einen Moment ist das Glücksgefühl zurückgekehrt, das uns beide stets umfängt, wenn wir in der Abenddämmerung die Natur betrachten. Brüder im Geiste! Von unserem Platz aus scheint die Welt heil, doch derzeit ist sie es für uns beide nicht. So schweigen wir mehr als sonst. 

Irgendwann halte ich die Stille nicht mehr aus. »Auch ich muss dir etwas sagen. In Kürze kehre ich zu meiner Familie zurück. Ein Neffe nimmt meinen Platz ein.«

Er hebt den Kopf, schaut mir in die Augen. »Mmh«, brummt er nach ein paar Augenblicken, dann sieht er wieder geradeaus, sein Kinn sinkt auf seine Brust.

Nun, da wir uns gegenseitig unsere Absicht vom Aufbruch in ein neues und gleichsam altes, längst vergangen geglaubtes Leben gestanden haben, versinken wir wieder in Schweigen. Unsere Blicke ruhen auf dem Tal, ohne uns wirklich etwas zu zeigen. In meinen Gedanken ziehe ich Vergleiche zwischen meiner Erwartung und einer lange verschütteten Erinnerung. Ihm muss es ähnlich ergehen, zumindest schließe ich das aus seinem Seufzer, der in meinen Ohren jedoch nicht traurig oder melancholisch klingt, sondern hoffnungsfroh. Vielleicht liegt es an dieser Vermutung, dass ich mich auf einmal auf die Veränderung freue. Unwillkürlich lache ich. Es ist ein befreiendes Lachen über unsere Situation: Da sitzen zwei alte Männer am Waldrand und träumen von ihrer Zukunft!

Als Erster ergreift er wieder das Wort, beginnt da, wo wir unsere Unterhaltung unterbrochen hatten. »Vielleicht trifft er ja deine Jägermeisterin. Das wäre ein schöner Anfang.«

Ich setze meine Dose an den Mund. Nur um festzustellen, dass sie leer ist. Es ist meine zweite. Wie lange müssen wir unseren Gedanken nachgehangen haben! Belustigt schaut mein Freund mir zu, horcht auf das vergebliche Saugen. Dann beugt er sich vor und zieht die beiden letzten Dosen aus dem Rucksack zwischen seinen Füßen. Den Haltering aus Plastik für das Sixpack stopft er wieder hinein. Meine leere Dose drücke ich zusammen, bevor ich sie ihm reiche und mein Bier in Empfang nehme.

»Willst du mir zeigen, wie stark du bist?« Sein Grinsen reicht beinahe von Ohr zu Ohr.

Halb habe ich schon den Mund geöffnet für eine Erwiderung. Rechtzeitig halte ich inne. Seine Frage ist keine geringschätzige Anspielung auf meine Größe, sondern einfach der Ausdruck seines lebensnahen Humors, der feinen Ironie, die ich so an ihm schätzen gelernt hatte.

»Eher weniger. Ich will nur Platz sparen in deinem Rucksack. Und überall sonst. Unsere Welt ist so voller Unrat, da lohnt es sich, oder?«

Er nickt. »Ich weiß, dass du den Müll in unserem Wald aufsammelst. Nur habe ich nie herausgefunden, wo du ihn dann lässt.«

»Du hättest mich fragen können.«

Plötzlich lacht er und kommt auf das alte Thema zurück. »Das ist eine lange Reise nach Irland. Wie willst du das machen ohne aufzufallen?«

»Ich reise unsichtbar. Dass das für mich normal ist, habe ich dir vorgeführt.«

»Ja, aber auch, dass du dabei nichts tragen kannst! Deshalb muss ich ja …« Lachend schwenkt er seine Dose vor meinem Gesicht. Sein Einspruch ist berechtigt. 

»Nun zieht bald mein Neffe hierher. Er bewacht dann …«

»… den Schatz in deiner Höhle.«

Ich glaube, ein Grinsen über sein Gesicht huschen zu sehen. Doch sogleich wird er wieder ernst, als ich den Kopf schüttle und als Geste der Resignation die Hände zur Seite strecke. Beinahe verschütte ich mein Bier. »Er wird sich eine neue einrichten müssen. Seit du und ich hier sind, haben wir den Wald gehegt. Du lässt kranke Bäume abholzen und belehrst Wanderer, auf den Wegen zu bleiben. Ich habe eingesammelt, was die Menschen in unserem Wald hinterlassen. Damit du weißt, wo der Unrat ist: In meiner Höhle, und da ist bald kein Platz mehr. Der neue Kobold wird sich eine neue suchen. Nur den Schatz wird er dahin mitnehmen und das Ende des Regenbogens daneben einpflanzen.«

 

V2 – 7423 Zeichen