Von Theresa Reichmann

Schon seit drei Tagen nichts mehr gegessen. Der Magen knurrte. Nur meine Pfeife zwischen den Zähnen, die mir ein Gefühl von Entspannung verlieh. Erbärmlich hier, ohne Futter. Ohne einen Mann, der mir sein Fleisch zum Leben schenkte. Aber was solls. Dann wartete ich eben. Alle Sinneshaare der acht Beine wehten im Wind. Der Wasserfall prallte am Felsen ab und es spritzte in meine Richtung. Eine kleine Abkühlung, bevor ich mich wieder auf die Suche begab. Doch, da war was. Schritte. Ich krabbelte durch das strömende Wasser, welches wie Stiche auf meine Glieder aufschlug. Mit den Tastern erspürte ich diesen bröckeligen Untergrund, der jeden Augenblick einzubrechen drohte. Meine untereinander angereihten Punktaugen erfassten eine stattliche Gestalt. Hmm… Frischfleisch.

Er wanderte am naturbelassenen Pfad entlang, welcher durch ein Holzgeländer vom Abgrund getrennt war. Weit und breit niemand sonst in Aussicht. Nur ich und das Opfer.

Mein Vorderkörper erhob sich und die Giftklauen spreizten sich zur Seite. Somit ließ ich die Verwandlung geschehen. Dann wuchs ich und nahm Menschengestalt an. Die Hautfarbe wechselte in ein helles Rosa. Die acht Beine schrumpften auf zwei und die Augen wurden größer und weniger. Ein bodenlanges, schwarzes Kleid schmiegte sich an die seidenglatte Haut und glänzte in den Strahlen der Sonne. Inzwischen legte ich die Pfeife beiseite und setzte das verführerischste Lächeln auf, welches ich zur Verfügung hatte.

„Ach, mein Lieber. Sind Sie denn ganz alleine unterwegs?“
Das Wasser lief mir im Munde zusammen. Der Mann drehte sich im Kreis und suchte nach meiner Stimme.
„Hier drüben!“, rief ich und schleckte mir über die ziegelrote Lippe.
„Guten Tag, Sie schöne Frau. Was machen Sie denn da oben ganz alleine?“ Besorgt legte er die Stirn in Falten.
„Ich habe mich des Nachts verlaufen und bin mit meinem Baby ans falsche Ufer geraten. Können Sie mir vielleicht helfen?“ Meinem Mund entglitt ein herrliches Summen, das die lebendige Nahrung um den Finger wickeln sollte.
„Für Sie würde ich alles tun.“

Er kletterte über den Stein nach oben. Sein Blick war fokussiert und zielbewusst. „So, nun kann ich Sie nach unten bringen. Aber wo sind Sie denn, meine Teuerste?“
„Kommen Sie doch ein wenig näher. Ich warte hinter dem Wasserfall in der Höhle. Folgt meiner Stimme.“
Er tat, was ihm befohlen. Mein Riechorgan nahm seinen Geruch nach Blut und leckerem Schweiß wahr.

Als er vor mir anhielt, fragte ich ihn: „Sie Hübscher, könnten Sie mir einen Gefallen tun?“
Ich streichelte mein Neugeborenes und durchbohrte sein Angesicht mit meinen hypnotischen Augen.
„Alles, was Sie wollen.“
„Nehmt bitte mein Baby, ich muss kurz meine Sachen zusammensammeln.“ Mit einem Grinsen im Gesicht übernahm er das kleine Ding. Leichten Fußes verschwand ich im Dunkel der Höhle und beobachtete ihn eine Weile. Oh… So eine gelungene Beute war mir schon lange nicht mehr untergekommen. Dieses Baby wird mir genügend Zeit verschaffen und ihm einen qualvollen Tod bereiten.
Leises Gesumme, lautes Gebrumme und ich verwandelte mich wieder zu dem Geschöpf, das ich war. Kleid und Schmuck fielen aufs Gestein. Meine Augen wurden heller. Mein Körper giftig. Die Beine haarig.

Das Opfer wiegte das Menschenkind in den Armen, als wäre es seins.
„Wo sind Sie denn?“, wollte es wissen.
„Ach, kommen Sie einfach zu mir. Immer näher. Damit ich Sie besser sehen kann.“

Seine Augen weiteten sich. Das Gesicht wurde blass. „Ach du meine Güte, dort, dort, dort hängt ein Netz.“ Das Frischfleisch rannte mir geradewegs entgegen und blieb ein paar Fuß vor mir stehen. „Meine Schöne, Sie sind in Gefahr, hier gibt es bestimmt ein Untier, dass Menschen in die Höhle lockt.“

„Nun ja, als Untier würde ich mich jetzt nicht bezeichnen.“
Plötzlich mutierte das Neugeborene. Die Form veränderte sich zu einem runden Gehäuse, welches klebriges Sekret auf den Leib des Mannes goss. Der Kokon in seinen Händen verklebte Mund und Augen. Er haftete an ihm wie eine Fliege an den Blättern einer fleischfressenden Pflanze. Bis er sich nicht mehr bewegen, nicht mehr betteln und nicht mehr fliehen konnte.

Meine spitzen Kieferklauen schnitten in sein Fleisch, gruben sich tiefer und tiefer hinein. Das warme Blut saugte ich aus. Es schmeckte nach Befriedigung. Seine Muskeln waren stramm und fest, die Knochen jung und frisch. Mehrere Male wendete ich ihn, drehte ihn im Kreis, bis ich fertig und mein Bauch voll war. „So was Leckeres.“

Am nächsten Morgen begegnete mir wieder ein neuer Snack. Er ruderte in seinem Boot, tief unter mir. Es wirkte, als ob er nach etwas suchen würde. Die Beine schienen fest und muskulös zu sein und der Körper bewegte sich agil und geschmeidig im Rhythmus des Wassers. Wieder erhob sich mein Vorderkörper und die alte Tierhülle veränderte sich. Meine neue, attraktive Frauengestalt winkte zu ihm runter und wartete. Mit elfengleicher Stimme, die ich gerne für meine Jagd verwendete, rief ich:
„Juhu, da unten! Hier bin ich.“
Als er mich bemerkte, erwiderte er meine Begrüßung.
„Schöne Dame, es freut mich, Sie kennen zu lernen. Was machen Sie denn ganz alleine da oben mit ihrem Jungen?“
Ich blinzelte mit den Wimpern und schmunzelte.
„Ich hab mich verlaufen. Können Sie mir helfen?“
Ohne zu zögern, kletterte das frische Mahl zu mir hoch.
„Wo sind Sie denn, meine Liebste?“
„Da hinten bin ich, kommt nur durch den Wasserfall hindurch.“

Als er dahinter ankam, stolzierte ich zu ihm. Fesselte ihn mit meinen azurblauen Augen und spielte mit den weiblichen Reizen. Ich lächelte zu ihm hoch und legte meine Hand an seinen Hals.
„Ach, wie froh bin ich nun, dass Sie hier sind.“ Dann drückte ich die Hüfte an ihn, strich mit den Fingerspitzen über die Brust und blieb an seinen vollen Lippen hängen.

 

„Sind nur Sie und auch ein Ich.
Finden Sie mich sicherlich.
In der Höhle hinterm Fall,
bleiben Sie auch stets am Ball.

In dem Dunklen unterm Berg,
nein, da wartet stets kein Zwerg.
Eine Spinne, die ist schön,
will dich untergehen sehen.

Zwischen Klauen, Härchen, Netz,
findet sie dich gern verletzt.
Blutend, winselnd und klebrig
hat sie für dich nichts mehr übrig.“

Nach meinem Lied küsste ich ihn und fragte, ob er mein Baby nehmen könne, doch er sagte: „Sie bezaubernde Frau, Ihr Kind nehme ich nicht an mich, aber Sie haben etwas ganz anderes, was ich gern von Ihnen hätte.“
Endlich hatte ich ihn da, wo er sein sollte. Doch warum wollte er mein Junges nicht halten? Wieso war er so misstrauisch? Ich nahm seine Hand und zog ihn zu mir, doch er stieß sie weg. Plötzlich holte er sein Schwert aus der Scheide und schrie:
„IHR HERZ!“

Seine Spitze durchbohrte mich, tief und fest. Nun war ich diejenige, die schrie und um Vergebung bettelte. Doch er bohrte nur noch schärfer hinein und stieß zu, nochmal und nochmal. Nannte mich Biest und hasste meinesgleichen so sehr, dass mir die Tränen aus den Augen strömten. Sie fluteten den Boden und bildeten einen See aus Trauer.
Diese Verachtung im Gesicht eines Mannes, sie war neu und brach mir mein schwarzes Herz, welches in diesem Moment herausgeschnitten wurde.

Am Ende lag ich da, ohne Herz, ohne Seele. Als das Wesen, als was ich geboren wurde.

 

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