Von Carl Danowsky

Mein Name ist Peter Müller. Ich bin 42 Jahre alt und Fachinformatiker. Ich bin geschieden, habe zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Glaube ich jedenfalls. In meiner Freizeit schaue ich gern fern oder lese ein gutes Buch. Meine Zweizimmerwohnung teile ich mit einer Yucca. Wussten Sie eigentlich, dass die Yucca gar keine Palme ist, obwohl sie immer dafür gehalten wird? Außerdem sagt man, dass sie nicht totzukriegen sei. Mit beidem kann ich mich identifizieren. Menschen sind hingegen erstaunlich leicht totzukriegen. Die Kunst besteht darin, es natürlich aussehen zu lassen. Und falls das nicht möglich ist, sollte man sich zumindest nicht erwischen lassen. 

Irgendwann habe ich aufgehört, meine Opfer zu zählen. Eine nackte Zahl verschafft mir keine Befriedigung. An mein erstes Opfer kann ich mich hingegen noch gut erinnern. Sara. Sie war eine Traumfrau. Schlank. Mittelgroß. Schwarze Haare. Und ein wunderschönes Gesicht mit makelloser Haut und perfekter Nase. Die Nase ist sehr wichtig für mich. Der Winkel zwischen senkrechter Gesichtsachse und Nasenrücken sollte zwischen 30 und 33 Grad liegen. Ich bevorzuge 32-Grad-Nasen. Sara war meine erste richtige Freundin. So mit allem Drum und Dran. Sie war ein Engel in Menschengestalt. Lieb. Hilfsbereit. Für eine Frau gab sie selten Widerworte. 

Allerdings schnarchte sie. Das war ihr Problem. Und bald auch meines. Wer konnte schon ahnen, dass eine Frau, die so perfekt war, so respektlos schnarchen konnte? Sie schnarchte nicht nur ab und zu oder so, wie man es von einer Frau ihres Aussehens und Charakters erwarten würde. Nein, sie rodete den Regenwald wie ein fetter, besoffener Matrose mit vier Promille im Blut. Sie hatte schon alles ausprobiert. Nasensprays, Nasenpflaster, Nasenspreizer, eine Unterkieferschiene, ein Anti-Schnarch-Kissen, einen Anti-Schnarchring, einen Schnarchgurt und sogar eine teure Schnarchtherapie beim örtlichen Achtsamkeits-Guru. Nichts half. Sara war verzweifelt. Ihre 32-Grad-Nase benötigte dringend Hilfe. Und so steckte ich ihr eines Abends Tampons in ihre beiden wunderschönen Nasenlöcher. 

Es war für mich eine neue Erkenntnis, dass man daran ersticken kann. Sie hatte vorher etwas Wein getrunken, dem sie selbst Schlaftabletten beigemischt hatte, um besser schlummern zu können. Genau so ist es passiert. Ich schwöre. Geistesgegenwärtig entfernte ich noch die Tampons. Der Notfallarzt notierte als Todesursache eine unbehandelte Schlafapnoe. Neu war für mich auch die Erkenntnis, dass mir Saras Tod nichts ausmachte. Obwohl, das ist nicht ganz richtig. Ich verspürte ein mir bis dato unbekanntes Kribbeln, als ich feststellte, dass es sich ausgeschnarcht hatte. Ein Leben durch mich beendet. Das steigerte sich noch, als der Notarzt kein Fremdverschulden feststellen konnte. So muss es sich anfühlen, wenn man ein neues Hobby entdeckt hat. Gitarre spielen oder töpfern. Keine Ahnung. Ich hatte bis dahin noch kein Hobby.

Mit der Zeit fand ich heraus, dass ich den Wert eines Lebens immer überschätzt hatte. Die Hemmschwelle legt sich irgendwann. Bei Menschen wie mir geschieht das spätestens nach dem ersten Mord. 

Mord. Ein großes Wort. Genau genommen war es kein Mord, sondern Totschlag. Deshalb musste ich auch weitermachen. Um zu spüren, wie sich ein richtiger Mord anfühlt. Das Kribbeln verstärkte sich sogar noch. Mir blieb gar nichts anderes übrig als weiterzumachen. Der Akt des Tötens gibt mir allerdings nicht den größten Kick. Das habe ich irgendwann herausgefunden. Das Töten gleicht eher einem Vorspiel. Der ganze Prozess baut sich immer mehr auf. Und wenn ich im Internet oder in der Zeitung lese, dass eine gewisse Person tot aufgefunden wurde und die Polizei im Dunklen tappt oder sogar von einer natürlichen Todesursache ausgeht, dann macht sich in mir ein Gefühl breit, das sich nur schwer beschreiben lässt. Es muss dem Gefühl von Sportlern gleichen, die etwas Ungeheures geleistet haben. Einen Olympiasieg oder das entscheidende Tor im WM-Finale. Ähnlich wird es Wissenschaftlern oder Erfindern gehen, wenn sie eine bahnbrechende Entdeckung gemacht haben. Ein Normalo kann so etwas nicht nachempfinden. Menschen, die so sind wie ich, werden mich verstehen. Doch es gibt nicht viele von uns. Das macht uns so besonders.

Die Tötungsmethoden spielen für mich keine Rolle. Ich habe mich auf Gift- und Medikamentenmorde spezialisiert, weil sie schwerer nachzuweisen sind und oft unentdeckt bleiben. Ich würde aber gern einmal einen richtig blutigen Mord begehen. Einfach, um herauszufinden, wie sich das anfühlt. Wenn ich damit davonkommen würde, wow, das würde alle bisherigen Morde toppen! Ja, irgendwann nutzt sich alles ab. Sogar das Morden. Mit jedem Mord wird es schwieriger, neue Reize zu setzen.

Bei den Opfern habe ich keine speziellen Vorlieben. Alter, Geschlecht, Nationalität. Manche würden es wahllos nennen. Sie müssen auch nicht schnarchen. Hahaha. Für mich ist die Gelegenheit entscheidend. Es kommt vor, dass ich mehrere Jahre nicht morde, weil ich kein ideales Opfer gefunden habe. Vier Jahre waren bisher der längste Zeitraum. Aber irgendwann endet jede Durststrecke. Man macht eine zufällige Beobachtung. Ein Wink des Schicksals. Meistens ist es jedoch das Ergebnis eines jahrelangen, mühsamen Stalkens. Ich muss immer wieder ein neues Leben anfangen. Ich wechsle die Wohnorte wie andere nicht einmal ihre Unterhose. Städte und Orte, die ich mir immer wieder neu erarbeiten muss. Neue Namen. Neue Jobs. Als Fachinformatiker nehme ich nur Jobs im Home Office an. Meine Aufträge langweilen mich oft, aber ich verdiene gutes Geld. Manche Jahre lohnen sich besonders. Mein bisher bestes Jahr war 2007. Gleich drei unentdeckte Morde gelangen mir in Vitória da Conquista in Brasilien. Ich wollte einmal eine Auslandserfahrung machen. In Hildesheim bin ich auch schon mehrmals davongekommen. Das ist schon lange her. Seit einem halben Jahr lebe ich wieder in Deutschland. 

Für gewöhnlich verlasse ich meine Wohnung nur dienstagabends direkt nach der Tagesschau, um meine notwendigsten Einkäufe zu erledigen. Ich verhalte mich möglichst unauffällig, was mir aber nicht schwerfällt, da ich ein Durchschnittstyp bin. Also für die anderen. Ich bin vorsichtig und mache meine Besorgungen in schwach frequentierten Märkten, wo abends nur ein paar Kids einkaufen, die sich nicht für ältere Menschen wie mich interessieren. Mein aktueller Chef hat mich nur einmal gesehen. Bei der Einstellung. Zum Glück bin ich ihm egal. Hauptsache, ich mache einen guten Job und liefere immer pünktlich ab. Mehr verlange ich von ihm auch nicht. Einen guten Job machen und pünktlich zahlen.

Wichtiger sind mir die anderen Hausbewohner. Ich nehme sie genau unter die Lupe. Was sind ihre Gewohnheiten? Wann verlassen sie gewöhnlich das Haus? Wann kehren sie wieder zurück? Welches Auto fahren sie? Das Übliche halt. Ich muss nicht in einem teuren Haus mit misstrauischen Geldsäcken wohnen, obwohl ich es mir leisten könnte. Ich bevorzuge arglose Senioren mit festen Gewohnheiten oder junge Singles, die viel auswärts arbeiten. Ich miete gern Wohnungen in der Nähe eines Flughafens. Piloten und Stewardessen sind so gut wie nie zu Hause. 

Allerdings haben sie keine festen Gewohnheiten, die man sich einprägen könnte. Deshalb ist mir gestern ein Malheur passiert. Ich wollte gerade zu meiner üblichen Einkaufstour aufbrechen, da öffnete sich die Tür der gegenüberliegenden Wohnung. Dank meines Türspions wusste ich natürlich, dass dort eine blonde, großgewachsene Stewardess wohnt. Von Nahem sah sie noch hübscher aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Nase muss ich mir bei Gelegenheit genauer ansehen. An ihrem Türschild hatte ich den Namen Lilith Lindenau gelesen. Ein ungewöhnlicher Vorname. „Hallo“, sagte Lilith. Ich ging schweigend an ihr vorbei. Den ganzen Abend konnte ich an nichts anderes denken. Sie hatte mich gesehen. Ich war nachlässig gewesen. Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Durch den Spion sah ich sie auch am nächsten Tag. Vermutlich hatte sie Urlaub. Ich musste mich beeilen. 

Über meine teure Anlage läuft „Call Me“ von Blondie. Das war immer Saras Song gewesen. Ich muss in letzter Zeit oft an sie denken. Nein, ich vermisse sie nicht. Aber dieses Gefühl damals, es war so intensiv! So leicht davonzukommen, ödet mich immer mehr an. So verliert sogar das Morden seinen Reiz. Ich muss mehr Risiko gehen. Ich werde bei ihr klingeln. Und mich mit meinem richtigen Namen vorstellen. Adam. Ich werde sie ganz nett nach zwei Eiern für einen Kuchen für meine Mutter fragen. Meine Mutter mag wirklich Kuchen. Also früher mochte sie welchen. Ich benötige diesmal kein Gift. Ich werde einfach nach einem harten Gegenstand greifen. Was eben gerade in der Nähe ist. Ich werde ihr direkt in die Augen sehen. Keine Maskierung wie sonst. Sie wird überrascht sein. Vielleicht sogar schreien, wenn ich nicht schnell genug bin. Danach werde ich die Spuren beseitigen. Die meisten, aber nicht alle. Das erhöht den Nervenkitzel. Dann werde ich warten.

 

V2