Von Katrin Thelen

Rums! Der Löffel klirrte in Marks Kaffeetasse, als die Tür ein Stockwerk höher schwer ins Schloss fiel. Mark schaute reflexartig auf die Uhr. Es war 17:15 Uhr. Wenn der Nachbar aus der Dritten nach Hause kam, war es 17.15 Uhr. Immer. Mark mochte diese Art von Verlässlichkeit. Er hörte, wie in der Wohnung über ihm zuerst die Klospülung rauschte, dann der rhythmische Bass der Stereoanlage wummerte. Das war das Startsignal für Mark, auch in seiner Routine fortzufahren. Er fuhr seinen PC herunter und ordnete ein paar Dinge auf dem Schreibtisch von der einen Seite zur anderen. Seit er seinen Job bei der Versicherung dauerhaft im homeoffice erledigte, gab es zu seiner großen Freude noch weniger Gründe als zuvor, Zeit damit zu verschwenden, sich von einem Ort zum anderen bewegen zu müssen. Mark war am liebsten zuhause und das am allerliebsten allein. Von hier aus konnte er gleich mühelos zu seinem Zweitjob wechseln, wie er diese Beschäftigung mittlerweile fast liebevoll nannte. Er legte Stift und Notizblock bereit, doch was er für die nächsten Stunden am meisten brauchte, hatte er in den letzten Jahren bis zur Perfektion einstudiert: Unauffälligkeit. Seit dem Ende seiner einzigen langjährigen Beziehung vor nunmehr 8 Jahren wurde das Unsichtbarsein zu seiner Profession. Menschen und Gesellschaft waren Mark zutiefst zuwider und er war stolz darauf, dass seine Nachbarn nicht mal wussten, dass er existierte. Dafür wusste er es umso genauer. Er brachte seine alte Kaffeetasse mit Mickey Mouse Motiv zur Spüle in der Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Es begann zu dämmern, doch Mark schaltete das Licht nicht ein. Er stellte sich an das Wohnzimmerfenster und blickte auf das Haus gegenüber. Auf Nummer 8, diese architektonische Bausünde der späten 70er Jahre mit seinen 7 Stockwerken plus Dachbodenetage. Es war ein Spiegelbild seines eigenen Hauses, getrennt nur durch den lichtgrauen Innenhof, der dem kläglichen Versuch, eine soziale Mitte zu sein, stur trotzte. Die gesetzten Bäume waren kümmerlich, die Sitzbänke in üblem Zustand. Auch westlich und östlich der beiden hässlichen Zwillingsgebäude ragten hohe Mietsbunker in die Höhe. Der Fahrradständer vor der Nummer 8 rostete frustriert vor sich hin und erinnerte an ein Kunstwerk mit dem Titel „Auswurf der Großstadt“. Mark gönnte sich eine Dose Erdnüsse, die er noch im Vorratsschrank fand. Er überprüfte, ob das Fernglas an seinem Platz auf der Fensterbank bereit lag. Ein aufgeregtes Kribbeln begann durch seinen Körper zu pulsieren. Heute würde ein besonderer Abend werden, das spürte er.

Die Dämmerung war bereits weit vorangeschritten und in den Wohnungen von Nummer 8 erleuchteten nach und nach die Deckenlampen. Er sah, wie der Theologiestudent aus der Dachgeschosswohnung rechts beim Nachhausekommen gewissenhaft sein Fahrrad vor dem Haus anschloss und den Hausflur betrat. Mark erhaschte einen Blick auf das bunte Durcheinander der Briefkästen, darunter der Kinderwagen der Frau und ihres Babys aus der 2ten. Das Geschrei des Babys war manchmal bis in Marks Wohnung zu hören. Gedankenverloren schüttelte er den Kopf, nicht auszudenken, dass er früher selbst Pläne hatte, eine Familie zu gründen. Ein Traum, der schon lange keiner mehr war. Menschen, die ihm nahekamen, waren nicht sein Ding, hatte er bald gemerkt. Eine Weltumsegelung wurde zu Plan B der Lebenszielliste, doch das rastlose Potpourri aus Arbeit-Mutlosigkeit-Bequemlichkeit ließ Jahre und Wünsche verlöschen.

Er fing an, Menschen in seinem Umfeld zu beobachten. Zunächst nebenbei, wurde dieses Hobby immer mehr zu einem festen Bestandteil seines Tagesablaufs und vielleicht auch zu seiner Persönlichkeit. Er braucht die Menschen und ihre Geschichten, aber eben nicht in den eigenen vier Wänden. Mark weiß viel über die Gewohnheiten von Gregor Meier aus dem Erdgeschoss rechts. Auch über das ältliche Ehepaar Roggenthal aus der ersten Etage hat er über die Jahre einige Aktennotizen archiviert. Wenn Mark gestochen scharf durch die Linse seines Fernglases Gelächter am Abendbrottisch oder verliebte Blicke am Telefon oder gar nachbarschaftlicher Smalltalk vor der Haustür sah und hörte, empfand er nahezu körperliche Schmerzen. Zuviel Harmonie war ihm unerträglich. Schlussfolgernd hörte er auf, die Bewohner der Nummer 8 nur still zu betrachten. Er durchbrach die Grenze zwischen hier und dort, zwischen denen und ihm selbst. Er fühlte sich als Mitbewohner des Nachbarhauses, denn das Leben dort wurde ab sofort auch nach seinen Spielregeln gestaltet. Zuweilen hörte er Gespräche über die Anhäufung unerklärlicher Vorkommnisse in ihrem Mietshaus und die nervös gewisperte Vermutung, ein Phantom müsse all diese rätselhaften Geschehnisse auslösen. In diesen Momenten fühlte er Stolz und Siegesgewissheit, war er doch sicher, dass sie sich im nächsten Moment wieder alle gegenseitig verdächtigen würden. Für diese Art von Zwietracht hatte Mark unzweifelhaft Talent. Ein brennendes Streichholz werfen und aus sicherer Entfernung beobachten, wie es das Feuer weiter und weiter anfacht, das war es, was er zum Atmen brauchte, je fieser und intriganter desto besser. Sowohl der Kick, der ihm jede gelungene Aktion gab, als auch die Kontrolle und Macht, die er dabei verspürte, waren seine Vitamine. Würde jemand ihn in flagranti erwischen, niemand würde ihn zur Verantwortung ziehen können. Was er tat, waren nichts anderes als Dumme-Jungen-Streiche. Was sie bewirkten, war Gift.

Die Turmuhr der Kirche ums Eck, die er noch nie in echt gesehen hatte, schlug. Sein Signal. Er zog seine Sportschuhe an, obwohl er sich nicht erinnerte, je in seinem Leben Sport gemacht zu haben, nahm die Jacke vom Haken und griff die bereitgestellte Einkaufstasche mit seinem Material. Ohne Hektik verschloss er seine Wohnungstür und ging durch das Treppenhaus nach unten. Wenn ihn jemand sah, würde sich niemand an den unauffälligen Mann erinnern, der im Schatten des Hauses die Seite des Innenhofes wechselte. Niemand aus der Nummer 8 nahm Notiz von ihm, da war er sicher, denn er wusste, was die Menschen, die dort wohnten, gerade taten. Ihre Routinen und Gewohnheiten boten ihm ein leichtes Spiel. Er griff das Fahrrad und zog es samt dem Fahrradständer so über den Bürgersteig, dass es schief und störend stand. Herr Deter aus dem Erdgeschoss würde es vor dem Zubettgehen bei seinem Blick aus dem Fenster entdecken und laut schimpfend den Studenten als Besitzer des Fahrrads aus der Wohnung klingeln. Dieser würde daraufhin entnervt nach unten laufen. Dabei wird dessen Blick am Briefkasten hängenbleiben, an dem Mark in diesem Moment eine wunderschöne rote Rose platzierte. Sandra T., der alleinerziehenden, jungen Mutter, in die der Student verliebt war, wie jeder wusste, gehörte dieser Postkasten . Ab jetzt würde er ihr jedoch keine weitere Aufwartung mehr machen und sich ob dieser fremden Rose mit gekränktem Stolz zurückziehen. So würde er diese wiederum ratlos und enttäuscht zurücklassen. Durch das Klarglasfenster des Hausflures wusste Mark von der Eigentümlichkeit des Etagennachbarn des Studenten, seine Wohnungstür niemals zu schließen. So bekäme er sicher mit, dass dieser spät abends durch den Hausflur gelaufen und kurze Zeit später wieder oben gewesen war. Er musste unzweifelhaft also die Person sein, die sämtliche im Hausflur verstreute Werbung in seinen Briefkasten gestopft hatte, vermutlich aus reiner Boshaftigkeit. Seit er das Werbung-verboten-Schild an seinen Briefkasten geklebt hatte, ging das so, reine Schikane.

Der Hausflur war Mark vertrauter als der im eigenen Haus und er ging ohne Licht zu machen in die erste Etage, wie schon viele Male zuvor. Roggenthals aus der 1. hatten die junge Mutter schon oft beschuldigt, Müll im Hausflur zu entsorgen und der letzte Beweis war jetzt auch noch die volle Windel auf dem Vordach des Eingangs. Dies war ein spontaner Geniestreich Marks gewesen, der beim Verrücken des Kinderwagens im Eingangsbereich, wo er nun zum Ärger weiterer Nachbarn den Durchgang zum Keller wiederholt versperrte, eine vergessene Windel im Wagen zufällig gefunden hatte. Die Mutter dementierte die Vorwürfe. Sie behauptete ihrerseits, jemand öffne abends die Flurfenster sperrangelweit, weshalb es so ziehe, dass sie nachts laut zuschlugen und sie und ihr Kind wecken würden. Herr Sänger von der anderen Flurseite ergänzte dann seine Vermutung, dass es sich dabei um dieselbe Person handeln müsse, die die Mülltonnendeckel hochgeklappt lassen würde, die direkt unter Herrn Sängers Küchenfenster standen.

Marks Beutel war nun leer. In Hochstimmung verließ er das Haus und ließ sich noch dazu hinreißen, ein Ventil des Studentenrads abzudrehen. Erfolgreich hatte er ein neues Kapitel dieser Geschichte geschrieben. Ja, so fühlte er sich, wie der Autor eines Buches, in dem die Protagonisten doch nur das Eigenleben führten, dass er ihnen zugedachte.

Auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, ging er zurück. Er öffnete die Haustür und gönnte sich einen kurzen Moment des tiefen, befriedigenden Durchatmens. Er beruhigte sein durch Adrenalin aufgepumpten Körper beim Horchen auf die kühle Stille des Hausflures. Fast empfand er dabei einen seltenen Moment sentimentalen Friedens.

Beim Treppensteigen überlegte er, ob er sich gleich direkt wieder an seinen Ausguck stellen wollte oder ob noch genug Zeit blieb, bis Herr Deter zu Bett ging, um das Tages-Logbuch zu vervollständigen.

Auf den letzten Stufen regte sich sein siebter Sinn. Er hob den Blick. Seine Fußmatte war ein Mü verschoben, aber es reichte doch, um seine Alarmbereitschaft herzustellen. Noch bevor er an seiner Tür stand, roch er einen Duft, der sich vor allem dadurch auszeichnete, dass er ihn nicht kannte. Dann sah er es. Mittig auf seiner Wohnungstür, auf der Grenze zwischen draußen und drinnen, hing ein Blatt Papier, befestigt mit Kaugummi, der fremde Geruch! „Hallo, Herr Nachbar!“ las er. „Erfolgreichen Abend gehabt?“ Und darunter: „Wir sehen uns. Das Phantom.

P.S.: Routinen sind ein Arschloch…“.

 

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